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Autohäuser bleiben für OEMs ein wichtiger Vertriebskanal. Technologien wie Virtual und Augmented Reality aber verändern den Markt – und eröffnen der Branche neue Geschäftsmodelle.

Viele Zukunftsprognosen malten düstere Bilder und zeigten den Online-Handel als Totengräber für stationäre Geschäfte in der Innenstadt. Obendrein wurde ein ruinöser Preiskampf ausgerufen, unter besorgten Kaufleuten machten Szenarien von leeren Fußgängerzonen die Runde. Doch die Angst vor Umsatzeinbußen und einer immer mächtigeren digitalen Konkurrenz bewirkte etwas Gutes: Zahlreiche Handelsketten bewegten sich und verfolgen heute erfolgreich Multi-Channel- Strategien, um ihre Waren sowohl online als auch – kombiniert mit Beratungskompetenz – in Geschäften zu verkaufen. Neue Kaufgewohnheiten und fortschreitende Digitalisierungsprozesse machen vor der Automobilbranche nicht halt.

Einer Studie des Beratungsunternehmens Accenture zufolge würden zwar 46 Prozent der befragten Deutschen ihr nächstes Auto wieder bei einem klassischen Händlerbetrieb kaufen, 61 Prozent bevorzugen es, das Fahrzeug vor Ort selbst abzuholen. Dennoch zeigen viele deutsche Autofahrer steigendes Interesse an neuen Kanälen: 20 Prozent können sich beispielsweise vorstellen, ihren nächsten Pkw bei einem Virtual Dealer zu kaufen – also einem Händler, der über Augmented- und Virtual-Reality-Gadgets verfügt. Zehn Prozent ist der Gedanke nicht fremd, ihr Auto in einem Online-Shop zu erwerben. Diese beginnende Verschiebung von Kaufpräferenzen prägt und verändert den stationären Autohandel: Von heute 7800 Autohändlern werden laut einer Analyse der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers im Jahr 2020 nur noch rund 4500 existieren.

bereits nach Lösungen, um beim Thema Digitalisierung im Autohaus nicht den Anschluss zu verlieren. Audi präsentierte bereits Anfang 2015 auf der North American International Auto Show in Detroit die Audi-VR- Experience: Die Lösung besteht aus VR-Brille, einer Fernbedienung sowie speziell entwickelten Kopfhörern, die typische Fahrzeuggeräusche natürlich wiedergeben können. Das Zusammenspiel der Komponenten ermöglicht es potenziellen Kunden, verschiedene Autokonfigurationen virtuell anzuschauen. Basis dafür sind die Konstruktionsdaten der Fahrzeuge, die auf die Gläser der Brille projiziert werden können. Der Rollout bei interessierten Händlern wird noch 2017 starten. Bis Jahresende plant Audi in Deutschland sogenannte Customer Private Lounges an 100 Standorten, eine Art digitalisierte Beratungssuite im Autohaus. „Die Mehrheit wird mit einer Audi-VR-Experience ausgestattet sein“, stellt ein Unternehmenssprecher in Aussicht.

Es sind jedoch nicht nur optische und akustische Reize, die eine Kaufentscheidung beeinflussen können. Um vor allem das Fahrerlebnis auf virtueller Ebene abbilden zu können, setzt Volvo schon seit Jahren auf die kostengünstige Lösung der Google-Pappbrille Cardboard. Statt hunderte Euro für VR-Brillen ausgeben zu müssen, schickten Volvo-Händler in der Vergangenheit Kaufinteressenten einfach eine mit dem Firmenlogo versehene Pappbox zu. Im Zusammenspiel mit dem eigenen Smartphone konnten sie an einer kurzen virtuellen Probefahrt teilnehmen und sich gleichzeitig im Fahrzeug umsehen. Mittlerweile arbeitet der schwedische OEM in einem Pilotprojekt mit der VR-Brille HoloLense von Microsoft.

Anders als die VR-Brille von Audi überlagert die 3D-Brille HoloLense die wirkliche Umgebung. Eingeblendete Projektionen können Kunden die Wirkung von Sensoren und Messtechnik verständ- lich machen. Die Virtual-Reality-Technik soll zu einem völlig neuen Produkterlebnis führen. Ein flächendeckender Einsatz auf Händlerseite sei laut Volvo aber nicht geplant, da die Investitionskosten zu hoch seien.

Außer im Vertrieb sieht BMW Erprobungsfelder für VR- und AR-Technologien in der Entwicklung, im Design und in der Marketingkommunikation. Gemeinsam mit dem Technologiedienstleister Accenture hat der bayrische OEM eine Augmented-Reality-App mit Google Tango entwickelt. Tango bietet realistische, intuitiv bedienbare AR-Erlebnisse auf Smartphones und Tablets. Das macht sie einerseits außerhalb des Händler-Showrooms einsetzbar, andererseits bleiben die Kosten für den AR-Einsatz überschaubar. Tango-fähige Endgeräte kosten schon heute weniger als ein Premium-Smartphone. Die Rechnung von BMW ist einfach: Je mehr Geräte verfügbar sind, desto weiter sinken die Preise.

Das könnte schon mittelfristig dafür sorgen, dass mehr Autokäufer selbst Tango-fähige-Geräte im Einsatz haben. Einige Händler erproben die Technologie bereits bereits intensiv im Verkaufsprozess der BMW-i-Fahrzeuge. Die App ist so programmiert, dass sie auch andere Modelle darstellen kann. „Interessierte Kunden müssen künftig nicht mehr ins Autohaus, um ihr Wunschauto realitätsnah zu erleben. Sie können per App beispielsweise gleich zuhause testen, wie eine bestimmte Fahrzeugkon guration aussehen würde. Händler können Käufern dagegen bestimmte Fahrzeuge auch dann vorführen, wenn sie gar keinen entsprechenden Vorführwagen verfügbar haben. Und sie profitieren von der Verknüpfung von realem und digitalem Einkaufserlebnis, weil sie beispielsweise Einblicke in Entscheidungswege und Präferenzen erhalten“, erläutert Christina Raab aus der Automotive-Practice beim Beratungsunternehmen Accenture.

Als digitale Zugpferde werden die Technologien jedoch allein kaum ausreichen, um potenzielle Kaufinteressenten in die Autohäuser zu locken. Deshalb zeigen die Automobilkonzerne vermehrt Präsenz in neuen Showrooms und Flagship Stores, bevorzugt in den Toplagen deutscher Großstädte. Nach den Vorbildern der Apple Stores möchten die OEMs ihren Kunden ein individualisiertes und modernes Kauferlebnis bieten.

Dafür nutzen sie modeorientiertes Merchandising und integrieren Lifestyle-Elemente in den weltweiten Einzelhandel. Konzepte aus Kunst, Mode, Musik, Design, Food sowie Technologie werden mit dem Produkt Automobil verknüpft. Nach einer Analyse des Beratungsunternehmens Frost & Sullivan sollen solche Geschäftsformate in Zukunft die Kundenzufriedenheit bestimmen und entscheidenden Einfuss auf die Markenidentität der Hersteller nehmen. Die Studienautoren rechnen damit, dass die Menge an digitalem Content in den Ausstellungsräumen kontinuierlich zulegen wird.

Autor: Claas Berlin

Fotos: Audi, BMW

Dieser Artikel erschien erstmals in der automotiveIT 03/04 2017

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