VW Engineering Lab_IMP

Erste Begegnung mit dem nächsten Golf auf dem Gelände der Technischen Entwicklung (TE) von Volkswagen. Der Büroraum im F&E-Bereich, in dem sie stattfinden soll, ist schmucklos, fast leer, ein Auto sieht man nicht. Aber das Platznehmen fällt schon mal leicht, man muss lediglich auf einen freistehenden Autositz klettern, der auf einem Podest mitten im Raum steht. Zum eigentlichen Einsteigen zieht man dann noch eine VR-Brille auf – keine außergewöhnliche, sondern eine von der Sorte, die auch Highend-Gamer benutzen. Schlagartig verändert sich die Szenerie: Der Fahrer sitzt nun nicht mehr in Wolfsburg an einem grauen Novembertag, sondern steht mit seinem neuen Golf an einem Hafen, der Himmel ist wolkenlos, die Sonne scheint durchs Schiebedach. Werden die Hände in Richtung Lenkrad bewegt, erscheint ihr virtuelles Abbild im Innenraum. Der Fahrer kann nun einzelne Bedienelemente einstellen. So führt ein Druck auf die „Taste“ der Klimaanlage dazu, dass die Luftströmungen im Innenraum sichtbar werden.

Der Golf, den es noch nicht gibt, ist ein Anwendungsbeispiel für das virtuelle Konzeptfahrzeug, das im Anfang 2016 gegründeten Virtual Engineering Lab der Volkswagen-Konzern-IT entwickelt wurde. „Mit unserem virtuellen Konzeptfahrzeug führen wir in einem sehr frühen Entwicklungsstadium die Konstruktions- und Simulationsdaten aus der Technischen Entwicklung der Marke Volkswagen zusammen“, berichtet Frank Ostermann, der das Lab leitet. „Auf diese Weise können die Fahrzeugentwickler interdisziplinär ihre Lösungen anwenden, diskutieren und valide Entscheidungen treffen.“ Das betrifft nicht nur das Cockpit und den Innenraum, der in einer 360-Grad-Ansicht in allen Dimensionen auf Basis realer Konstruktionsdaten betrachtet werden kann. Der Fahrer kann auch aussteigen und die jeweilige Modellvariante von außen begutachten. „Wenn wir zum Beispiel die Luftströmungen um das Fahrzeug herum visualisieren, dann erleichtert das unseren Designern und Ingenieuren einen unkomplizierten fachlichen Austausch“, erklärt Ostermann. Für Teambesprechungen wird das virtuelle Konzeptfahrzeug per VR-App auf einem Monitor gezeigt. Die Volkswagen-Ingenieure können sich das virtuelle Fahrzeug nicht nur in verschiedenen Perspektiven und Dimensionen anschauen, sondern einzelne Funktionen wie beispielsweise das virtuelle Infotainmentsystem auch bedienen. „Mit dem virtuellen Konzeptfahrzeug gehen wir über die rein dreidimensionale Betrachtung hinaus“, sagt Frank Ostermann. „Wir führen Raumgefühl und Funktionalität zusammen. Denn ein Autofahrer schaut sich sein Fahrzeug ja nicht nur an, er steuert es auch. Also machen wir das im virtuellen Fahrzeug genauso – ganz einfach mit Handbewegungen.“

Die Projekte im Virtual Engineering Lab setzt Ostermann mit einem ständig wachsenden Team um, in dem bereits rund zwei Dutzend Softwareentwickler arbeiten. Die kommen gar nicht unbedingt aus der Automobilindustrie, sondern aus ganz anderen Branchen wie etwa der Spieleindustrie oder der Medizintechnik. Ganz bewusst ist das Lab organisatorisch in der Konzern-IT angesiedelt. Um dennoch den direkten Austausch mit der Technischen Entwicklung von Volkswagen zu fördern, sind ihre Büros genau dort zu finden. Welche Projekte angegangen werden sollen, bespricht Ostermann mit Mathias Möhring, der in der Technischen Entwicklung die Digitalisierung des Produktentstehungsprozesses verantwortet. „Wir nutzen gezielt digitale Methoden, um reale Prototypen der Fahrzeuge bereits in einer frühen Entwicklungsphase zu ersetzen“, sagt Möhring. Die Vorteile davon liegen auf der Hand: Weniger Prototypen bedeuten nicht nur geringere Entwicklungskosten und schnellere Entwicklungszeiten. Digitale Umsetzungen wie das virtuelle Konzeptfahrzeug ermöglichen es auch, im Entwicklungsprozess eine größere Anzahl an Varianten durchzuspielen. Außerdem können die verschiedenen Abteilungen mit Virtual-Reality-Tools zeitgleich und ortsungebunden zusammenarbeiten – die Produktentwicklung lässt sich flexibler gestalten. Gleichzeitig lösen sie das Problem, dass während des Prototypenbaus die Entwicklung am jeweiligen Fahrzeug parallel voranschreitet und der Prototyp nie den ganz aktuellen Entwicklungsstand zeigt. „Mit dem virtuellen Konzeptfahrzeug können wir jederzeit auf den neuesten Projektstand zugreifen“, betont Möhring.

Schnellere und effizientere Entwicklungsmethoden: Wie wichtig das ist, wird mit einem Blick auf die Roadmap von Volkswagen deutlich. Im September 2017 hat der Konzern auf der IAA in Frankfurt angekündigt, bis zum Jahr 2025 insgesamt 80 elektrifizierte Modelle entwickeln zu wollen – darunter 50 reine Elektrofahrzeuge und 30 mit einem Hybridantrieb. Bereits fünf Jahre später soll von allen Modellen der Konzernmarken auch mindestens eine elektrische Variante angeboten werden. Eine weitere Herausforderung für die Ingenieure in Wolfsburg ist die fortschreitende Automatisierung des Fahrens, die nicht nur hohe Anforderungen an Sensorik und Elektronik stellt, sondern auch an die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. „Wenn es darum geht, um die richtigen Lösungen zu ringen, dann müssen die Kollegen aus der Technischen Entwicklung mit maßgeschneiderten digitalen Werkzeugen unterstützt werden“, sagt Frank Ostermann. „So lässt sich beispielsweise die User Experience viel besser nachvollziehen.“ Sie wird Aussehen und Funktion der Fahrzeuge künftig noch viel stärker prägen. Bei der Programmierung der Werkzeuge verzichtet Ostermann ganz bewusst auf Lasten- oder Pflichtenhefte. Die Entwickler arbeiten im Virtual Engineering Lab mit agilen Methoden wie Scrum – einem Vorgehensmodell des Projekt- und Produktmanagements, das Unklarheiten in komplexen Entwicklungsprojekten beseitigt, indem es Zwischenergebnisse schafft. Bei einem neuen Projekt programmieren die Softwareentwickler jeweils in Drei-Wochen-Zyklen und zeigen die bis dahin erreichten Ergebnisse dann den beteiligten Kollegen aus der Technischen Entwicklung. Die daraus gewonnenen Rückmeldungen fließen wieder direkt in den nächsten Drei-Wochen-Zyklus ein. „Indem wir unsere Lösungen frühzeitig ausprobieren, können wir schnell erkennen, ob ein Ansatz gut oder schlecht ist“, so Ostermann.

Das agile Arbeiten hat aber noch einen weiteren Vorteil, der die Unternehmenskultur betrifft. „Auch in der Technischen Entwicklung werden wir zunehmend agile Methoden einsetzen“, berichtet Möhring. „Diese Arbeitsmethoden entwickeln und erproben wir bereichsübergreifend mit den Kollegen aus dem Virtual Engineering Lab. Die gemeinsame, agile Projektarbeit von IT und Technischer Entwicklung führt zu neuen Formen der Kooperation, die auch ein Vorbild für das gesamte Unternehmen sein können.“ Das nächste große Ziel dieser Zusammenarbeit: Nutzer sollen das virtuelle Konzeptfahrzeug zukünftig auch fühlen können. In einem Projekt mit der US-amerikanischen Stanford University in Kalifornien forscht das Virtual Engineering Lab an einem System aus druckempfindlichen Metallstäbchen, die eine zuvor programmierte Form annehmen und so jede mögliche Form und Kontur des Innenraums – beispielsweise der Mittelkonsole – nachbilden können. Der Nutzer würde die Taste, die er bedient, dann nicht nur in der VR-Brille sehen, sondern auch tatsächlich fühlen. Wird die Form am Computer verändert, dann wäre das in Sekundenschnelle auch vom Fahrersitz aus spürbar. „Das virtuelle Fahrzeug tatsächlich fühlen zu können – damit kämen wir in eine neue Dimension“, sagt Frank Ostermann. Eigentlich ein Schritt in die andere Richtung: Die virtuelle Welt wäre damit wieder ein ganzes Stück realer.

Autor: Laurin Paschek

Fotos: VW

Dieser Artikel erschien erstmals in der automotiveIT 12/2017