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Sogenannte Enabler gibt es viele in der Autobranche: Künstliche Intelligenz befähigt zum autonomen Fahren, das autonome Fahren selbst bringt neue Dienstleistungen hervor, Virtual Reality ermöglicht neue Fertigungsmethoden und Kundenerlebnisse. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Doch der Begriff Produktdatenmanagement (PDM) wird darin kaum auftauchen. Obwohl zum Beispiel Rainer Hohenhoff ganz anderer Meinung ist.

Der Senior Manager in der Group-IT von BMW findet: „Das Produktdatenmanagement ist für uns ein wesentlicher Befähiger für neue Geschäftsmodelle.“ Auf dem diesjährigen Mobility Executive Exchange des Technologieunternehmens PTC erklärte Hohenhoff auch, warum: Der – bildlich gesprochen – Zettel, der einmalig nach der Produktion eines Fahrzeugs erstellt und vor der Auslieferung an den Kunden abgelegt wird, gehört schon bald der Vergangenheit an. Das bedeute aber nicht, dass Produktdatenmanagement heute simpel wäre. Die steigende Anzahl an Fahrzeugderivaten, Ausstattungsoptionen und Individualisierungsmöglichkeiten lässt die abzubildenden Informationen in den Produktdaten in die Höhe schnellen. Globale Entwicklungs- und Fertigungsverbünde sowie teilweise unterschiedliche IT-Systeme tun ein Übriges, um die Komplexität hoch zu halten.

Der Wandel vom Automobilhersteller zum Mobilitätsdienstleister mit neuen Besitzkonzepten und Geschäftsmodellen setzt allem die Krone auf. „Ist das dann überhaupt noch dieser eine Zettel, den wir an dem Punkt, an dem das Fahrzeug produziert wird, einmal ausdrucken? Oder muss der Zettel nicht über den kompletten Produktlebenszyklus weiterleben?“, fragt BMW-Mann Hohenhoff. Denn in dem Moment, in dem ein Auto nicht mehr den Besitzer wechselt, sondern beispielsweise in die unternehmenseigene Carsharing-Flotte geht, kann die Dokumentation über den Zustand und die Eigenschaften des Fahrzeugs selbstredend nicht nach der Fertigung stoppen.

„Ein Betreiber muss seine Flotte effizient gestalten. Dafür braucht er die richtigen Daten. Er muss zu jeder Zeit wissen, wie es dem Fahrzeug geht“, so Hohenhoff. Nicht zuletzt könnten heute noch undenkbare Szenarien hinzukommen, etwa in Sachen Nachhaltigkeit: Der BMW-IT-Experte hält es zum Beispiel für denkbar, dass Teile aus gebrauchten Fahrzeugen, die sich noch immer im Besitz des Herstellers befinden, in der Produktion wiederverwendet werden können, sollten sie noch einwandfrei sein. Aber ohne eine lückenlose Dokumentation ist das nicht möglich.

Im Lastenheft stehen also eine End-to-End-Produktdatenerfassung über den gesamten Lebenszyklus, eine dafür geeignete Produktdatentiefe und – Offenheit. „Vielleicht reicht es für die Zukunft nicht aus, ein System nur für uns zu bauen. Wir brauchen dann standardisierte Schnittstellen, um plattformübergreifend die Integrationsfähigkeit zu gewährleisten“, meint Rainer Hohenhoff. Noch komplexer würde es, wenn Autos künftig autonom fahren. Dann muss jeder Vorfall und jeder Fehler exakt dokumentiert werden. Wie kann bei all der Komplexität dieser „Zettel“ überhaupt noch erstellt werden? „Geht das dann noch ohne intelligente Systeme?“, fragt sich der BMW-Experte.

Laut Marco Pötke, PDM-Bereichsleiter beim IT-Dienstleister MSG, stellt Hohenhoff genau die richtige Frage: „Künstliche Intelligenz ist heute überall. Warum eigentlich nicht im PDM?“ An der Eignung liege es nicht, er sehe eine ganze Reihe Anwendungsmöglichkeiten. Exemplarisch greift er drei Bereiche auf: Wissen trainieren, Wissen anwenden und Wissen entdecken. Im Clearing etwa könnte ein KI-Tool vom Menschen trainiert werden, ihn immer besser zu unterstützen. Denn üblicherweise gibt es im PDM ein Problem: Auch Dritte brauchen Zugriff auf Produktdaten wie Lastenhefte, Testpläne oder Spezifikationen. „Aber solche Dokumente enthalten natürlich auch Informationen, die den Lieferanten nicht interessieren oder ihn nichts angehen“, so Pötke.

Ergo: Sensible Informationen müssen geschwärzt werden. Auf Basis eines Worterkennungssystems könnte eine Software nun eine Vorauswahl für zu schwärzende Stellen treffen und dem Mitarbeiter vorschlagen. Dieser bestätigt die Zensur oder verwirft sie – und das System wird fortlaufend besser. „Hier haben wir genau das, was wir uns von KI immer wünschen: Sie ersetzt nicht den Menschen, sie assis­tiert ihm“, so der PDM-Experte. Ein weiterer Anwendungsfall betrifft unmittelbar die Komplexität: das Erstellen von Aufträgen. Nur ein geringer Teil in der Kommunikation zwischen Produktion und Vertrieb sind tatsächliche Kundenaufträge.

Geht der Blick weiter in die Zukunft, müssen Planaufträge erstellt werden – und zwar mehrere Millionen Stück. Das ist nicht nur unglaublich aufwendig zu rechnen, das Ergebnis lässt sich später nur sehr unflexibel an Änderungen anpassen. Die Lösung lautet: Column Generation. Der smarte Algorithmus optimiert das Verhältnis aus Merkmalsvorgaben aus dem Vertrieb und Baubarkeitsvorgaben der Produktion und lässt Änderungen jederzeit zu. „Die Ergebnisse sind zu einhundert Prozent korrekt und zu einhundert Prozent erklärbar“, sagt Marco Pötke. Sein letztes Beispiel betrifft das unüberwachte Lernen von Systemen. Bei technischen Änderungsanträgen kommt es häufig vor, dass Positionen vergessen werden.

Die Lösung könnte in Amazon-ähnlichen Vorschlägen à la „In der Vergangenheit haben Entwickler auch Folgendes angekreuzt“ liegen. In einem Projekt wurden mithilfe einer intelligenten Assoziationsanalyse 40 000 Änderungsanträge, 400 000 Sachnummern und 1,4 Millionen Verwendungen untersucht. Die Software leitete dar­aus eigenständig rund 2000 Regeln über zusammengehörige Änderungen ab. Im Praxistest wurden etwa zwei von fünf Vorschlägen vom Mitarbeiter als relevant eingestuft.

Für einen erfolgreichen Einsatz von KI im PDM ist allerdings notwendig, den Informationshunger von smarten Algorithmen ausreichend zu stillen. „Ich formuliere es mal ganz platt: Lieben Sie Ihre Daten! Schmeißen Sie nichts weg, pflegen Sie Ihre Daten. Sie sind die Grundlage für KI-basierte Ansätze“, rät Marco Pötke. Wer das verstanden hat und sich der Erneuerung des eigenen PDM widmet, der hat gute Chancen, das Chaos zu beherrschen. Wer zu lange zögert, droht von der Komplexität erschlagen zu werden.

Bild: Volvo, Illustration: Sabina Vogel

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