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Lässt sich Embedded Software mit agilen Verfahren entwickeln? Manche Projektleiter sagen ja und sehen bereits das Ende des ehrwürdigen V-Modells. Ein neues Zeitalter zieht herauf. (Bild: BMW)

Elektronik und Software haben an der automobilen Wertschöpfung einen stetig wachsenden Anteil. Gleichzeitig prägt die Elektronik auch den Blick der Kunden auf die Fahrzeuge immer stärker. Eine der Konsequenzen daraus lautet: Bei der Bewertung eines Fahrzeugs werden die genutzten IT- Gadgets zum Maßstab. Das gilt auch für das Tempo, mit dem neue Funktionen implementiert werden. Erreicht ein Auto im Hinblick auf seine Funktionalität und Anmutung nicht das Niveau der Alltags- und Consumer-IT, so senken Kunden schnell einmal den Daumen. Damit sind wir bei der von mehr oder weniger allen deutschen Automobilherstellern auf breiter Front gegenwärtig vorangetriebenen Digitalisierung.

Neben neuen Services und Geschäftsmodellen geht es beim Stichwort Digitalisierung auch darum, die Fahrzeugsoftware über den gesamten Nutzungszeitraum des Autos aktuell und attraktiv zu halten. Kurze Entwicklungszeiten, schnelle Releasezyklen und Updatefähigkeiten über den gesamten Lebenszyklus sind gefragt. Ein insgesamt agileres Vorgehen „hilft, die Herausforderungen der Digitalisierung zu bewältigen“, erläutert das auf Elektronikentwicklung spezialisierte Beratungsunternehmen Kugler Maag Cie: „Um digitale Geschäftsmodelle erfolgreich umsetzen zu können, müssen sich die Unternehmen neu aus- richten. Das beginnt mit neuen Architekturen für Elektroniksysteme über agile Arbeitsabläufe bis zu einer dynamischen Unternehmenskultur.“

nicht nur für die Consumer-Aspekte des Produktes Automobil, sondern zunehmend für die gesamte interne Fahrzeug-IT, also auch für die Algorithmen der Fahrzeugsteuergeräte. Eine agile, wendige Informationsverarbeitung auf der Ebene des Produkts wird ebenso zwingend erforderlich wie auf der Unternehmensebene. Da ist es nur konsequent, wenn „die IT im Produkt in die Zuständigkeit des IT-Managements fallen muss“, wie es ein ranghoher BMW- Manager fordert. Die „IT im Produkt“, das ist die Embedded Software, die in den Autos läuft, in den Steuergeräten, Head Units und Fahrerassistenzsystemen. Sie bestimmt Fahrverhalten und Motorcharakteristik, Benutzerschnittstellen und Services für das Connected Car und damit die User Experience – die Art und Weise, wie ein Käufer das Fahrzeug erlebt. Das macht Informationstechnik plötzlich zu einem Kaufkriterium, sicherlich nicht zum einzigen, aber zu einem wesentlichen.

BMW will nicht zuletzt deshalb seine Softwareentwicklung zu hundert Prozent auf agile Verfahren umstellen. Gegenüber automotiveIT diskutieren wollte das Unternehmen diese Pläne aber nicht – vielleicht, weil die Umsetzung doch noch einiges an Überzeugungsarbeit erfordert. Embedded Software geht auf ganz andere Technikwurzeln zurück als die Software auf Unternehmensservern und Workstations. Entstanden als eine funktionale Instanz mechatronischer Systeme wie Motorsteuerungen und Bremssysteme, ist sie bislang eher eine Domäne von Ingenieuren als der IT-Strategen und Betriebsorganisatoren. Ingenieure aber sind, was das Projektmanagement anbelangt, anders sozialisiert als Informatiker. Typischerweise arbeiten sie in der Entwicklung nach dem V-Modell – ein Verfahren, das Informatiker gelegentlich als schwerfällig und daher überholt abtun. Als Alternative wird die agile Softwareentwicklung gehandelt, die den Entwicklungsprozess ver- schlanken und beschleunigen soll.

Der Einsatz agiler Techniken ist auch in der Autoindustrie grundsätzlich nichts Neues. Bei Daimler beispielsweise hat der Ansatz eine lange Historie, wobei allerdings der Fokus bisher auf Einzelprojekten liegt. Mitte des vergangenen Jahres haben die Stuttgarter nach eigenen Angaben ihre Initiative „AgileIT@ Daimler“ erfolgreich abgeschlossen. Ziel der Aktion war es, Hindernisse für agile Projekte zu identifizieren und aus dem Weg zu räumen. Involviert waren in erster Linie Multiplikatoren auf Leitungsebene und Businesspartner. Im Gegensatz zur Geschäfts-IT ist der Einsatz agiler Techniken in der Entwicklung von Embedded Software noch nicht verbreitet.

Eine Umfrage von Kugler Maag Cie unter Managern aus der Fahrzeugindustrie förderte „sehr unterschiedliche Erfahrungen“ der befragten Teilnehmer zutage. „Agile Strategien waren grundsätzlich sehr schnell erfolgreich in der IT, weil es sich zunächst innerhalb sauber definierter Domänen abspielte“, erläutert Dominik Strube von Kugler Maag Cie. „In der Systementwicklung oder der Mechatronik wird allerdings die Kulturfrage selbst zur Herausforderung: In der Mechanikentwicklung herrscht beispielsweise eine völlig andere Kultur als in der Softwareentwicklung. Das zeigt sich bereits bei den unterschiedlich langen Entwicklungsintervallen oder auch bei der Fehlertoleranz.“ Die kulturellen Unterschiede verlaufen – ganz grob formuliert – entlang der Demarkationslinie zwi- schen Hardware und Software.

In der Praxis, so Strube, sei die Aufgeschlossenheit gegenüber agilen Verfahren „umso größer, je näher ein Unternehmen an der Software beziehungsweise der IT dran ist“. Die zögerliche Haltung der Entwickler gegenüber agilen Verfahren macht sich nicht zuletzt an den strengen Vorgaben zur funktionalen Sicherheit fest. Diese Vorgaben, festgeschrieben in Normen wie der ISO 26262, legen den Entwicklungsteams enge Fesseln hinsichtlich der Wahl ihrer Methodiken an. Möglicherweise, so die unter Entwicklern vielfach kursierende Befürchtung, vertragen sich die Welten von Agilität und Normerfüllung nicht besser als Feuer und Wasser.

Nach Erhebungen von Kugler Maag Cie scheinen diese Ängste aber unbegründet: Die meisten Anwender haben nach der Erkenntnis des Beratungsunternehmens keine Widersprüche zwischen der stringenten ISO-Normenwelt und agilen Projektmanagementtechniken gefunden, wenn diese automobilspezifisch adaptiert und angewendet werden. Zwischen dem V-Modell und den agilen Verfahren scheint der Unterschied letztlich gar nicht so groß: „Eigentlich funktioniert agil nach der gleichen Logik wie das V-Modell – und zwar innerhalb eines Sprints, wie die inkrementellen Entwicklungsabschnitte in der Welt der agilen Entwicklung heißen“, so Dominik Strube. „Das Gesamtprojekt wird sozusagen auf viele kleine V-Modelle aufgeteilt.“ Der Vorteil dieses schrittweisen Vorgehens ist, dass Fehler umgehend erkannt und beseitigt werden können. Der Auftraggeber kann überdies viel schneller Entscheidungen treffen, ob ihn die Um- setzung überzeugt. Wenn aufwendige Fehlentwicklungen oder gar Projektfriedhöfe vermieden werden, verkürzt sich die Pro- jektdauer signi kant. Diese Sichtweise könnte auch bei eingefleischten Anhängern des V-Modells die Vorbehalte gegenüber agilen Verfahren letztendlich ausräumen.

Autor: Christoph Hammerschmidt

Fotos: BMW

Dieser Artikel erschien erstmals in der automotiveIT 01/02 2017

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