Exklusiv in Facebook: Es gibt Momente im Leben eines Mannes, in denen er schmerzhaft begreift, dass er zu früh oder zu spät geboren wurde. Das Betreten eines Spielzeuggeschäfts führt im Normalfall zum starken Wunsch, die Uhr um Jahrzehnte zurückdrehen zu können. Mensch, wenn es das alles schon gegeben hätte, als ich klein war. Beim Betreten von Automuseen tritt gewöhnlich der gegenteilige Effekt ein: Warum war ich nicht schon auf der Welt, um dieses Ding fahren zu können?
Es gibt Menschen, die akzeptieren die Krümmung von Raum und Zeit nicht und suchen die Abkürzung. Michael Stoschek las eines Tages einen Artikel über den Lancia Stratos in der österreichischen Auto Revue, der ihn nicht mehr losließ. Zu Beginn der achtziger Jahre schaffte sich der Unternehmer aus Coburg ein 74er Straßen-Modell an und ließ ihn konsequent zu einem Gruppe-4-Rallyeauto umrüsten. Stoschek hat reichlich Erfahrung mit schnellen Porsche, 2006 gewann er die Europameisterschaft für historische Autos in einem Elfer. Doch der Stratos fährt darüber in seiner eigenen Liga. „Wenn du damit ankommst, werfen sich die Leute auf den Boden“, sagt er.
Das taten sie schon 1970, als die Karosserieschneider von Bertone auf dem Turiner Salon einen Entwurf ihres Designers Marcello Gandini präsentierten. Das keilförmige Geschoss mit Mittelmotor war das Ding aus einer anderen Welt. Das kurze Stahlträger-Chassis mit darüber gezogener Haut aus glasfaserverstärktem Kunststoff, das geringe Gewicht und dessen ausgewogene Verteilung dank Mittelmotorkonzepts versprachen eine unschlagbare Agilität und ausgezeichnete Fahrleistungen.
Ursprünglich war die Studie mit einem Lancia-V4 bestückt, der als Frontmotor auch in der Fulvia seinen Dienst verrichtete. Dazu muss erwähnt werden, dass Sandro Munari 1972 mit ebendieser Fulvia die Rallye Monte Carlo gewann. Knapp 200 PS und Frontantrieb, das mochte hie und da im Schnee eine gute Kombination sein, aber Lancia-Sportchef Cesare Fiorio schielte schon seit Jahren auf die Alpines. Die nur um die 700 Kilo schweren Heckmotorgeräte aus Dièppe waren in den frühen Siebzigern vor allem in Punkto Handling das Maß aller Dinge. Sie ließen selbst den Porsche 911 alt aussehen.
Fiorio wollte es noch extremer. Er ließ die Stratos-Designstudie ändern und den Ferrari-V6 aus dem Dino 246 hinter dem Cockpit installieren. Fiat unterhielt damals ein eigenes Rallye-Werksteam und trat mit dem Typ 124 Abarth an. Es war ein braves Konzept. 220 PS und Hinterradantrieb hatten bisher noch immer genügt, um vorne mitzuspielen. Als die Wettbewerbsversion Lancia Stratos HF mit Sandro Munari 1973 erstmals auf Rallye-Terrain auftauchte, wurde alles, was sich zu diesem Zeitpunkt auf Schotterpisten und schmalen Asphaltstraßen für schnell hielt, zu trägem Alteisen degradiert.
Die Truppen der Konzernmutter, die pompös zuweilen mit gleich sechs Werksautos an den Start ging, hatte die Sportabteilung der kleinen Schwester in Windeseile aufgerieben, und so erging es auch den Elfern, den Alpines und Hundeknochen-Escorts. Erst 1973 hatte der Weltmotorsportverband CSI eine Marken-Weltmeisterschaft im Rallyesport installiert, 1974 hieß der Weltmeister Lancia, und ebenso 1975 und 1976. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte die Erfolgsgeschichte auch noch drei Jahre später ihre Fortsetzung gefunden, aber das verhinderte die Marketingabteilung bei Fiat. Es gab aus wirtschaftlichen Gründen nur noch eine Sportabteilung im Konzern, und im Rallyesport sollte fortan eine Wettbewerbsversion der hausbackenen Stufenhecklimousine 131 Mirafiori die Lorbeeren einheimsen. Der Stratos, dieses Ufo auf Rädern, ein Minimalkonzept herumgestrickt um eine winzige Fahrgastzelle, einzig dazu entwickelt, Rallyes zu gewinnen, war den Verkaufsstrategen ein Dorn im Auge. In seiner Blütezeit hatte der wilde Faustkeil um die 300 PS, die er mit fürchterlichem Gebrüll kilometerweit ankündigte. Die 400 Autos der sogenannten Serienversion existierten allein dazu, die Homologation in der Gruppe 4 für verbesserte GT-Autos zu erhalten. Nun kam der spießige Fiat, dem man wie zu alter Väter Sitte ausgehend von einem hausbackenen Serienkonzept mühsam Muskeln anzutrainieren versuchte. 240 PS waren das Ende der Fahnenstange. Der frisch von Opel zu Fiat/Lancia gewechselte Jungspund Walter Röhrl erinnert sich: „Bei manchen Rallyes war ich beim Training mit einem Serien-Stratos schneller als später im Wettbewerb mit dem Fiat. Verglichen mit dem Stratos fuhr der sich wie ein Traktor.“
Nun, der Traktor durfte vier Jahre lang in der WM antreten. Tatsächlich gewann Röhrl 1980 mit dem 131 die gerade ein Jahr zuvor eingeführte Fahrer-WM. Aber der Stratos ließ sich nicht so leicht beerdigen. 1979 gewann Bernard Darniche mit einem vom französischen Importeur eingesetzten Auto die Rallye Monte Carlo, Jean-Claude Andruet war im Stratos zumindest auf Asphalt bis 1982 ein gefürchteter Gegner, trotz all der Renault 5 Turbo und Audi Quattros. Erst ein neues Reglement mit größeren Freiheiten schickte auch den Stratos endgültig aufs Altenteil. Lancia trat nun mit dem 037 an, ein leichter Mittelmotor-Sportwagen mit Heckantrieb, Mittelmotor und Kompressor. Auf den ersten Blick erkannte jeder Blinde: Der 037 war die Fortsetzung des Stratos mit anderen Mitteln. Lancia gewann mit ihm die Marken-WM 1983. Dennoch konnte der Stratos nicht in Frieden ruhen. Seine Wildheit, sein Extremismus und seine einzigartige Form, die Art wie er viel zu jung aus dem Leben gerissen wurde, sitzt vielen Autoliebhabern wie ein Stachel im Fleisch. Und das blieb so, bis ins neue Jahrtausend anbrach und der Stratos 2.0 geboren wurde.
Chris Hrabalek wuchs mit dem Stratos auf. Sein Vater hatte eine beträchtliche Sammlung, die in seinen Besitz überging. Der junge Österreicher erwarb zudem die Vermarktungsrechte am Namen Stratos. Hrabalek ließ sich zum Automobildesigner ausbilden, arbeitete für diverse Hersteller und hat heute ein eigenes Design-Büro in London. Die Wege kreuzten sich erstmals 1986, als der schon erwähnte Michael Stoschek seinem Begeisterungs-Überdruck mit einem großen Stratos-Treffen in Südtirol Luft machen musste. Vater Hrabalek war auch da und stellte dem Jungunternehmer seinen neunjährigen Filius vor. Als der – mittlerweile ausgewachsen – bei Audi unter Vertrag stand, stand er plötzlich wieder vor Stoschek. Man traf sich zufällig in Spanien und erkannte sich wieder.
Dann kam die Sache ins Rollen. Hrabalek ging längst mit der Idee einer Stratos-Wiederbelebung schwanger. Es sollte ein extremer Supersportwagen sein, zwar mit moderner Technik ausgerüstet, dennoch optisch unverkennbar ein Nachfahre des rund vier Jahrzehnte zuvor geborenen Stratos sein. Retro war gerade schick, angefangen vom VW Beetle über den New mini bishin zu amerikanischen Muscle-Cars wie dem Ford Mustang. 2005 stand in Genf eine Studie, die nur deshalb den Namen Fenomenon trug, weil Lancia Stratos rechtlich nicht möglich war. Aber das war auch nicht nötig, denn das flüsterten sich die Betrachter ohnehin erfürchtig zu.
Der Arbeitstitel Fenomenon war gut gewählt, denn die Reinkarnation des Stratos ist tatsächlich ein Phänomen, das im Design um sich greift. Es ist sozusagen die Demokratisierung des Automobilbaus. Generationen von Kindern saßen schon mit gespitztem Bleistift am Küchentisch und brachten ihre automobile Träume zu Papier. Es waren schöne Schäume, denn an die Realisierung war nie zu denken. Dafür brauchte es schließlich einen großen Konzern im Rücken, ein Heer von professionellen Designern und Konstrukteuren. Ein Auto, das war schließlich nur vordergründig eine Augenweide und ein großer Spaß, dahinter steckte harte Ingenieurskunst, Materialforschung, Konstruktionsarbeit, Fertigungstechnik. Man brauchte Lastenhefte, Kalkulationstabellen, Motorenprüfstände und Windkanäle, ganz abgesehen von Vermarktung und Vertrieb.
Natürlich ist das in weiten Teilen immer noch so, aber die schmerzhafte Enttäuschung, dass die Phantasie machtlos gegen die Realitäten des Automobilgeschäfts antritt, sind vorbei, seit es leistungsfähige Computer und Software gibt. Und so sitzt die Jugend von heute am Bildschirm und arbeitet mit Catia statt Bleistift. Dreidimensionale Modelle müssen nach dem Zeichnen nicht mehr mit viel Aufwand in Ton geschnitzt, in Formen umgewandelt und dann gegossen werden. Sie entstehen fertig am Rechner. Wer nicht nur ein Gefühl für Formen und Linien hat, sondern auch für Physik und Mathematik, lässt Luftströme durch Kühlluftöffnungen streichen, misst Abtriebswerte von Flügeln, ohne dass in der realen Welt sich dafür ein Lüftchen regen müsste. Und schließlich gibt es Fahrsimulatoren, die sogar Rundenzeiten auf Zehntel genau vorausberechnen, ohne dass ein Meter Rennstrecken-Asphalt dafür verlegt werden müsste. Natürlich hat das Kind am Küchentisch derlei Möglichkeiten nicht, aber die Aufzählung zeigt, wohin die Richtung geht. Allerdings war es bei der Umsetzung von Visionen schon immer so, dass der Visionär erst einen Gleichgesinnten finden musste, der seine Sprache spricht und in dessen Kopf sich das gleiche Bild des Endresultats einprägt wie bei dessen Schöpfer. Im Zeitalter von Kosten-Nutzenrechnungen, der Herrschaft von Marketing und Controlling ist es nicht gerade einfacher geworden, die Großen und Mächtigen von der Genialität eines Einfalls zu überzeugen. Denn eines hat sich nicht geändert: Auch wenn die Gestaltung eines Autos heute viel einfacher und die notwendigen Techniken und Programme viel zugänglicher sind, für die Umsetzung ist immer noch viel Geld nötig.Aber auch da hilft clevere Software. Die endgültige Präsentation eines virtuellen Entwurfs sieht nicht mehr aus, als wäre sie einem vorzeitlichen Computerspiel entsprungen, die dem ganzen Projekt immer noch den Anstrich eines Dummenjungenstreiches verpassen. Heute spiegeln sich Landschaften und Lichtreflexe auf den Flanken von Autos, deren Räder sich bereits drehen, ohne dass sie die virtuelle Realität je verlassen müssten. 360-Grad-Ansichten, virtuelles Abstrippen, verschiedene Lackierungen bis hin zu Röntgendarstellungen, alles kein Problem. Und egal ob Gießen oder Fräsen, Computerprogramme haben auch die Herstellung von realen Bauteilen für Modelle extrem vereinfacht.Und so stand der Fenomenon da, und Michael Stoschek sah, was Chris Hrabalek sah. Stoschek, dessen Unternehmen Brose einer der großen Automobilzulieferer ist, entschloss sich, den neuen Stratos zu bauen. Die Saat ging auf.
Erst als es um die Umsetzung ging, brach sich die notwendige Ingenieurskunst Bahn. „Es war zunächst ein sehr extremes Auto, viel zu kurz und zu hoch. Zudem machten die wie im Ursprungsentwurf des Stratos in der Mitte geteilte Frontscheibe und die daran angelenkten Türen Schwierigkeiten. Abgesehen davon erwies sich das Konzept des wie beim Original quer eingebauten Mittelmotors als schwer umsetzbar.
Stoschek beauftragte ausgerechnet den in den Siebzigern größten Bertone-Konkurrenten, den Fenomenon-Entwurf in ein reales Auto zu gießen. Fortan kümmerte man sich in den Studios von Pininfarina um die Weiterentwicklung, auch deshalb, weil von vorneherein klar war, dass wie beim Stratos Ferrari-Technik unter dem Kunststoff zum Einsatz kommen sollte. Und so ist die Basis der Reinkarnation die rennsportliche Variante des F430. Der Scuderia ist auch in der Supersportwagen-Liga eine Hausnummer. Sein Chassis wurde um 20 Zentimeter verkürzt, der 4,3-Liter-Leichtmetall-V8 vor der Hinterachse mit seinen 540 PS blieb erhalten. Capristo lieferte eine Hochleistungsabgasanlage, Drexler eine geänderte Diferenzialsperre und eine modifizierte Steuerelektronik für schnellere Gangwechsel. Das sequenzielle Sechsgang-Getriebe ist kürzer übersetzt, die Lenkung auf eine Elektro-Hydraulik umgerüstet. Die Fahrwerksanpassung mit härteren Federn und neuer Dämpferabstimmung erledigte Sachs zusammen mit dem ehemaligen Formel-1-Piloten Tiago Monteiro. Brembo lieferte eine verstärkte Bremsanlage mit Keramikscheiben. Kompliziert war vor allem die Anpassung der insgesamt acht Steuergeräte des F430, von der Zentralverriegelung bis zum Reifenluftdruck-Diagnosesystem. Auch Stoscheks Firma Brose leistete ihren Beitrag und konzipierte ein Fensterhebersystem, dass trotz wie beim Original in die Türen eingepassten Schalen für Helme die Seitenscheiben vollständig versenkbar sind. Auch Hauben- und Türschlösser stammen von Brose. Sie sind leichter als die betreffenden Ferrari-Komponenten. Das Cockpit ist komplett neu gestaltet.
Die Außenhaut schließlich lieferten die Karrossierbauspezialisten von Re Fraschini in mit zwei Prozent Schwarz versetztem Sichtkarbon. Ohne Lack ist das Auto leichter, das ist sogar noch extremer als in der Ur-Philosophie des Stratos. Die endgültige Optik war die vielleicht schwerste Geburt. Michael Stoschek redet nur ungern darüber, wie viele namhafte Designer an dem Projekt arbeiteten, „weil viele davon Verträge mit anderen Automobilunternehmen haben.“ Neben Pininfarina stand auch Initiator Hrabalek mit Rat und tat zur Seite. Ansonsten feilten und feilschten Stoschek und sein Sohn Maximilian an der endgültigen Form. Stoschek klagt: „Wenn man in seinem Leben ein einziges Auto baut, muss jede Kante und jede Sicke stimmen, sonst schaut man nur noch die nicht gelungene Stelle an. Ich bin Perfektionist, das ist ganz furchtbar.“
Lancia zeigte am Ergebnis kein Interesse. Luca di Montezemolo dagegen schon. Er fuhr den New Stratos auf der Ferrari-Teststrecke in Fiorano und ließ gleich einige Ingenieure antreten, um weitere Hilfestellung zu geben. „Bellissima“ und „Congratulazione“ soll der Fiat-Chef am Ende gesagt haben. Wenn es nach Stoschek geht, wird eine Kleinserie von 24 Autos gebaut. Der New Stratos ist nicht ganz der, wie er der Vision des Chris Hrabalek entsprach, aber am Ende steht er wirklich da, ein reales, fahrender Supersportwagen, der als Vorausfahrzeug bei historischen Rallyes den Rest des Feldes jetzt schon in den Schatten stellt – außer vielleicht, wenn ein originialer Stratos dabei ist.
Autor: Markus Stier
Foto: Rosten Gargolov, Marco Klimmt