Virtual und Augmented Reality verändern das Bild, das wir uns von der Welt machen. Es entsteht eine neue, zweite Dimension der Wirklichkeit, die alle Teile der Gesellschaft durchdringen wird.
Der Mann im schwarzgelben Overall und dem goldsilbrigen Haarreifen auf der Nase heißt Geordi La Forge. Er ist der Chef des Maschinenraums auf einem der berühmtesten Raumschiffe der Sciencefiction-Kultur, der U.S.S. Enterprise. Sein entscheidendes Merkmal, das ihn von der restlichen Besatzung unterscheidet: Er ist blind. Und dennoch hat diese Figur im Star-Trek-Universum Zugang zu Welten und Realitäten, die anderen verschlossen bleiben. Mit Hilfe seines „Visors“ – so nennt sich die metallische Sehhilfe – kann La Forge Strukturen und Materialien scannen oder Maschinenwesen von echtem Leben unterscheiden. Wenn man so will, eine Datenbrille des 24. Jahrhunderts. Den TV-Zuschauern damals als utopische Zukunftsmusik vorgespielt, ist dieses Gerät mittlerweile ein gängiges – und oftmals lukratives – Produkt von Elektronikkonzernen. Ob Google Glass, Samsung Gear oder Oculus Rift – sie alle vereint ihre Fähigkeit, Menschen neue Realitäten sprichwörtlich vor Augen zu führen, die ohne entsprechende Hardware niemals hergestellt werden könnten. Virtuelle oder erweiterte Realität („augmented“) nennt sich diese computergenerierte Welt, die sich anschickt, Branchen wie Unterhaltung, Mobilität, Medizin oder Fertigung auf den Kopf zu stellen. Vor allem die Virtual Reality (VR) scheint nach Jahrzehnten im technologischen Nischendasein gegenwärtig vor dem Durchbruch zu stehen: Laut einer Prognose des Beratungsunternehmens KZero wird der globale Umsatz allein mit Geräten und Software bis zum Jahr 2018 auf mehr als neun Milliarden US-Dollar steigen. In der gleichen Zeit erhöht sich die Zahl der aktiven VR-Nutzer auf dem Globus von 43 auf 171 Millionen.
Begonnen hat alles vor knapp 60 Jahren, als Computerwissenschaftler Ivan Sutherland sein „Sword of Damocles“ erschaffen hat. Das Head-mounted Display zeigte einen kleinen, im Raum freischwebenden Drahtgitterwürfel – das erste Objekt in der virtuellen Realität. Danach blieb es lange Zeit ruhig, ehe in den 1990er Jahren die Virtual Reality vor allem in der Computerspieleindustrie boomte. Doch wegen zu geringer Rechenleistungen, schlechter Grafik und zu teurer Geräte floppte die Technologie. Diese Hürden scheinen mittlerweile aus dem Weg geräumt, VR boomt. Nicht umsonst hat mit Facebook einer der größten Internetkonzerne der Welt im Frühjahr 2014 Oculus VR, den Hersteller der Datenbrille Rift, für 2,3 Milliarden USDollar gekauft. Damals schloss Mark Zuckerberg eine Wette mit der Weltöffentlichkeit ab, dass immersive Virtual und Augmented Reality bald zu etwas Alltäglichem würde. „Ich denke, dass immersive 3D-Inhalte ganz eindeutig das nächste große Ding nach Video sein werden“, prophezeite der Facebook-Gründer 2015 vor Journalisten. Und damit bezog er sich nicht nur auf den Gamer-Alltag. Die Computerspieleindustrie scheint zwar nach wie vor der größte und lukrativste Markt für VR-Anwendungen zu sein. Doch mit der Etablierung im Mainstream und sinkenden Hardwarepreisen werden neue Anwendungsszenarien nicht lange auf sich warten lassen. Der stärkste Trumpf der Technologie ist das Versprechen von Nähe und Unmittelbarkeit. Es nennt sich Immersion – sie soll Nutzer entsprechender Hardund Software in eine virtuelle Welt einbetten, sie durch Interaktion mit der Computerumwelt förmlich verschmelzen. Dabei könnte Virtual Reality zu einer Plattform der sozialen Interaktion werden, ein virtueller Raum, in dem Menschen unabhängig vom physischen Ort kommunizieren. Facebook und Oculus VR nennen das „Social VR“: Ob Meeting, Vorlesung oder Konzertbesuch – alles soll mit Hilfe von Virtual Reality erfahrbar und mit anderen teilbar werden. Umgesetzt wird dieses Prinzip bereits auf der Plattform „Metaworld“. Diese virtuelle Zwischenwelt, kreiert vom Entwicklerstudio HelloVR, bietet Nutzern die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit anderen Spielern eine eigene Welt zu erschaffen und zu gestalten. Diese Welt ist persistent, das bedeutet, dass die Simulation nicht endet, wenn sich ein User ausloggt. Darüber hinaus sollen die Bewohner der Metawelt – anders als bei herkömmlichen Online-Spielen oder Chaträumen – das Gefühl bekommen, tatsächlich Zeit mit anderen „echten“ Menschen zu verbringen. Doch das Versprechen der Immersion bleibt gleichzeitig die größte Herausforderung für die Entwickler von VR-Technologie: die eigene Präsenz im virtuellen Raum zu fühlen und sie in direkte Verbindung mit der irrealen Umgebung durch Sprache und Körperbewegungen zu setzen. Oder kurz: virtuelle Realität als Realität zu akzeptieren. Forscher der Carnegie Mellon University untersuchen daher in einem sogenannten panoptischen Studio die Körpersprache und Gestik von Menschen in der sozialen Interaktion. In einer fünf Meter großen, einem aufgeschnittenen Fußball ähnelnden Halbkugel registrieren gut 500 Kameras und KinectSensoren Elemente nonverbaler Kommunikation. Diese Form des Motion Capturing soll dazu beitragen, die Avatare in der virtuellen Welt so weit es geht zu vermenschlichen und ihren Alter Egos aus der physischen Welt möglichst nahezubringen. Die Forschung aber steht noch am Anfang. Bisher bleibt die soziale Interaktion in der virtuellen Realität noch Spielerei.
Als nützliches Werkzeug aber ist VR in Wirtschaft und Gesellschaft längst angekommen. Beispiel Automobilbranche: Dort werden VR-Anwendungen mittlerweile entlang der gesamten Wertschöpfungskette eingesetzt. In der Engineeringphase kann die Technologie ihre Stärken voll ausspielen: Sie verkürzt Entwicklungszyklen und verringert den Aufwand, um neue Fahrzeugkonzepte darzustellen. Bei BMW macht man sich mittlerweile das Knowhow aus der Computerspieleindustrie zunutze: Unter dem Stichwort „Mixed Reality“ hat der bayerische Autobauer ein auf der VR-Brille HTC Vive basierendes Computersystem entwickelt, das Fahrzeugfunktionen und Innenraumkonzepte simuliert und mit tatsächlich fühlbaren Oberflächen kombiniert. Dadurch vermischen sich für den Entwickler die Realitätsebenen, physische Welt und simulierte Umgebung ergeben ein ganzheitliches Erlebnis – ein großer Schritt in Richtung immersive VR-Erfahrung. Für die Entwickler entsteht zudem ein neues Maß an Flexibilität, da Änderungen in Höchstgeschwindigkeit umgesetzt werden können. Zudem können Tüftler aus der ganzen Welt an einem Projekt gleichzeitig arbeiten, ohne dafür weite Reisen auf sich nehmen zu müssen. Auch am Point of Sale nehmen Autobauer virtuelle Realitäten immer stärker ins Blickfeld: Mit Hilfe von Head-mounted Displays können sich Kunden ihr Wunschauto konzipieren und durch die 3D-Erfahrung tatsächlich erleben. Audi hat Ende letztes Jahr das Projekt „Virtueller Showroom“ gestartet und will seine Händler mit VR-Stationen ausstatten. Händler speisen über Tablets unterschiedliche Ausstattungsvarianten ein, die Interessenten im Sitzen mit Oculus Rift oder im Stehen mit Hilfe von Raumtracking und HTC Vive durchspielen können. Selbst ein Probesitzen hinter dem virtuellen Steuer soll möglich sein. Durch die VR-Brille sind Millionen von Kombinationen erlebbar – ein Angebot, das der physische Ort des Autohauses niemals bieten kann.
Doch nicht immer ist das vollkommene Eintauchen in neue Welten für Konsumenten und Unternehmen der erfolgversprechendste oder attraktivste Weg. So ist die erweiterte Realität, Augmented Reality (AR), nicht erst seit dem Erfolg des Nintendo-Klassikers Pokémon für das Smartphone der Technologietrend der Stunde. Mit Hilfe von AR-Hard- und Software werden virtuelle Inhalte nahtlos in die reale Welt integriert. Im Falle des Spiels Pokémon Go hat dieses Prinzip bisher seinen größten Widerhall gefunden. Allein in Deutschland haben laut Marktforschungsinstitut YouGov seit Markteinführung über 7,7 Millionen Menschen, also gut elf Prozent der Gesamtbevölkerung, die AR-App heruntergeladen. Der Kurs des japanischen Spieleherstellers Nintendo schoss förmlich durch die Decke der Tokioter Börse und die Server des Entwicklerlabors Niantic brachen unter der Last des Interesses zusammen. Obwohl der Hype um das Fangen virtueller Monster bereits wieder abflacht, hat Pokémon Go die Tür zur Augmented Reality für die breite Masse weit aufgestoßen. Selbst wenn das Spiel technisch gesehen kein reines AR-Game ist, sondern ein positionsbasiertes Spiel mit Anleihen bei der erweiterten Realität. Die zweite Form der softwaregestützten Realitätserweiterung scheint mit der Virtual Reality als nützliches oder unterhaltendes Instrument gleichzuziehen. Die Technologie, die in der Datenbrille Google Glass vor einigen Jahren ihr erstes massenkompatibles Produkt fand, ist ungleich flexibler einsetzbar als VR, da sie mit der Generierung von Zusatzinformationen wie Bildern, Videos oder virtuellen Objekten die Perzeption des Menschen lediglich ergänzt, statt sie zu ersetzen. Der Wunsch nach ganzheitlicher Immersion muss hier also weniger befriedigt werden. Gleichzeitig steht die Technologie vor der Herausforderung, virtuelle Objekte so in die reale Welt einzupassen, dass sie als harmonische Elemente der Realität wahrgenommen werden. Das zu realisieren, setzt ein Zusammenspiel verschiedener Messeinheiten voraus: Für die Positionsbestimmung greifen viele Trackingsysteme auf GPS zurück, was jedoch Probleme bei der Nachführung der Objekte in der Bewegung verursacht. Erst durch zusätzliche optische Sensoren oder Trägheitsnavigation werden virtuelle Objekte natürliche Teile der erweiterten Realität. Ähnlich wie ihre virtuelle Schwester steht auch die Augmented Reality hier noch am Beginn ihrer technologischen Reife.
Ungeachtet dessen dringt die Technologie in immer mehr Bereiche der Gesellschaft vor. Jenseits von virtueller Monsterjagd nehmen sich beispielsweise Bereiche wie die Logistik oder die Gesundheitsbranche dieses Themas an. Samsung und Google arbeiten bereits an smarten Kontaktlinsen, die Augmented Reality-Inhalte direkt auf das Auge projizieren können. Davon würden nicht nur sehbehinderte Menschen profitieren. In der Chirurgie kommen – zunächst noch in Forschungsprojekten – Datenbrillen zum Einsatz, die Ärzten Informationen zur Struktur von Organen, Knochen und Gefäßen dreidimensional anzeigen. Das Fraunhofer-Institut für bildgestützte Medizin (Mevis) hat eine Software entwickelt, die Computertomografie-Aufnahmen der Leber in 3D-Bilder umwandelt und sie den Chirurgen über App und Tablet zur Verfügung stellt. Auch in der Logistik können durch Datenbrillen und andere smarte Devices Prozesse grundlegend vereinfacht werden. Zusammen mit dem Softwarehersteller SAP hat beispielsweise das IT Systemhaus Bechtle Anfang 2016 in seiner Logistikzentrale in Neckarsulm das sogenannte Hands-free Picking mit Hilfe von Smart Glasses eingeführt. Diese helfen den Mitarbeitern, eine Reihe von Kommissionierungsvorgängen über das Einblenden von Informationen im Sichtfeld zu steuern. Das System soll verstärkt die Intuition des Lagerarbeiters ansprechen, damit er die Materialflüsse fehlerfreier und vor allem schneller in die Wege leiten kann. Ähnliches versucht der Paketdienst DHL in einem niederländischen Logistikzentrum umzusetzen: Durch den Einsatz smarter Brillen erhofft sich das Unternehmen eine Effizienzsteigerung in der Kommissionierung um gut 25 Prozent.
Trotz der vielen pragmatischen Ansätze scheinen sich Unternehmen, Konsumenten und Forscher noch nicht endgültig entschieden zu haben, welcher Technologie sie in Zukunft den Vorzug geben wollen. Oft werden beide Realitätsformen als komplementär, im Sinne einer Mixed Reality, verstanden. Und genau darin könnte ein sehr wahrscheinliches Zukunftsszenario liegen. Im Sinne einer „Augmented Virtuality“ verschmelzen AR- und VR-Anwendungen und kreieren einen virtuellen Kosmos, in dem der Mensch in der physischen Welt verankert bleibt. Ein Paradies für Fortschrittsgläubige, ein Horrorszenario für diejenigen, die das Ende der Privatheit und die menschliche Identität ernsthaft in Gefahr sehen. Inwieweit solche ethischen Grundfragen im Zuge des digitalen Wandels besprochen werden, ist heute nicht abzusehen. Doch ohne Zweifel wird die neue Dimension der Realität zahlreiche Prozesse der Gesellschaft revolutionieren und eine Reihe an neuen Geschäftsmodellen hervorbringen. Und das in einer Weise, die sich kein Sciencefiction-Autor bisher erdacht hat.