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Es ist hinlänglich bekannt, dass Europa und die USA unterschiedliche Philosophien verfolgen, was die Entwicklung und Erprobung autonomer Fahrzeuge angeht. In den Vereinig­ten Staaten legen selbstfahrende Flotten von Autobauern und Technologieunternehmen schon seit Jahren Kilometer um Kilometer auf öffentlichen Straßen zurück. Die tödlichen Unfälle der jüngeren Vergangenheit ändern zwar nichts an der „Innovation First“-Sichtweise der Amerikaner. Sie machen aber mehr als deutlich, wie riskant die öffentlichen Tests der noch unausgereiften Technologie sind. Vergleichbare Erprobungsfahrten in deutschen Innenstädten? Im derzeitigen Entwicklungsstadium undenkbar. Doch die Testkilometer sind notwendig, um ein Auto zum eigenständigen Fahren zu befähigen – genauer gesagt: Millionen von Kilometern. BMW etwa beziffert den Testaufwand mit 230 Millionen Kilometern. Zumindest was die autonomen Fahrzeuge der Münchener betrifft, könnte der Großteil davon in Milbertshofen im Norden der bayerischen Landeshauptstadt zurückgelegt werden – virtuell. „Rund 95 Prozent der Testkilometer werden per Simulation absolviert“, schätzt Martin Peller, Leiter der Fahrsimulation bei BMW. Um die Möglichkeiten und Umfänge zu erweitern, hat der OEM rund 100 Millionen Euro in die Hand genommen und in eine der modernsten Anlagen zur hochdynamischen Simulation realer Fahrsituationen investiert.

Die Anlage mit insgesamt 14 Simulatoren und Usability Labs – mit einer Größe von rund 11 400 Quadratmetern – soll bis 2020 auf dem Gelände des Forschungs- und Innovationszentrums FIZ fertiggestellt sein. Über 150 Beschäftigte sollen dort an der Entwicklung und Erprobung von Fahrerassistenzsystemen sowie von Anzeige- und Bedienkonzepten arbeiten – mit besonderem Fokus auf das autonome Fahren. „Das neue Fahrsimulationszentrum wird es uns ermöglichen, virtuelle und noch effizientere Absicherungsmethoden breit im Entwicklungsprozess einzusetzen und Ergebnisse aus Kundenstudien in die Produktentwicklung einfließen zu lassen“, erklärt Peller gegenüber automotiveIT. Fahrsimulatoren sind bereits heute als Bindeglied zwischen Funktionstests einzelner Komponenten und dem Fahrversuch mit vollständigen Systemen auf der Straße unerlässlich. Die neue Anlage erhöht in diesem Bereich die vorhandenen Kapazitäten für Probanden- und Kundenstudien. Dynamische Simulatoren, die im Unterschied zum statischen Pendant echte Bewegungen des Testwagens nachbilden, nutzt BMW bereits seit 2006. Schon vor zwei Jahren entstand im Forschungs- und Technologiehaus in Garching ein weiterer dynamischer Simulator. Nun werden die Kapazitäten also noch einmal erhöht.

Die neue Anlage im FIZ geht aber noch einen Schritt weiter: „Neu ist die Möglichkeit, neben Autobahnszenarien auch Stadtverkehr virtuell mit hoher Validität untersuchen zu können“, erläutert BMW-Entwickler Peller. Denn das selbstfahrende Auto muss sämtliche Verkehrssituationen bewerten können, sollten sie auch noch so unwahrscheinlich sein. Vor allem wenn viele Teilnehmer im komplexen Innenstadtverkehr involviert sind, lassen sich solche Szenarien allein aus Sicherheitsgründen nicht auf öffentlichen Straßen testen. Die neuen Anlagen bei BMW lösen dieses Dilemma: Zum einen schicken die Münchener ihre Fahrzeuge während der Entwicklung in den sogenannten High-Dynamic-Simulator. Dieser erzeugt Längs- und Querbeschleunigungen von bis zu 1,0 g. Damit können hochdynamische Ausweichmanöver, Vollbremsungen und intensive Beschleunigungsvorgänge getestet werden. Interessanter für das autonome Fahren ist jedoch der High-Fidelity-Simulator – was übersetzt so viel wie „hohe Wiedergabetreue“ bedeutet.

Neben den üblichen Möglichkeiten eines dynamischen Simulators lässt die 400 Quadratmeter große Anlage noch die Simulation besonders aufwendiger Fahrmanöver zu, etwa die schnelle Abfolge mehrere Abbiegevorgänge oder Fahrten im Kreisverkehr. Das ermöglicht letztlich den Test von autonomen Systemen im Stadtverkehr unter Laborbedingungen. Im High-Fidelity-Simulator wird das Testfahrzeug auf einer als Dom ausgeprägten Plattform montiert. Diese ist auf einem elektromechanischen Hexapod-System gelagert und kann über elek­­­t­rische Antriebe sowohl in Längs- als auch Querrichtung bewegt und gleichzeitig gedreht werden. Für einen realistischen Fahreindruck ergänzt ein Projektionssystem im Dom sowie eine Geräuschsimulation die Anlage. Das exakte Zusammenspiel aus Bewegung, Optik und Akustik soll im Simulator einen nahezu perfekten Gesamteindruck zulassen. Neben der Simulation riskanter oder ungewöhnlicher Situationen lassen sich die Szenarien in der Anlage beliebig kombinieren und wiederholen. Damit wollen die BMW-Entwickler im besten Fall bereits weitestgehend ausgereifte und abgestimmte Assistenzsysteme und Bedienkonzepte parat haben, noch bevor Testfahrzeuge erstmalig auf den Asphalt gehen.

Funktionssicherheit ist allerdings nur eine Seite der Medaille, Gebrauchssicherheit die andere. Daher finden nicht nur Entwickler und professionelle Testfahrer ihren Weg ins neue Fahrsimulationszentrum in Milbertshofen. Auch externe Versuchspersonen sollen regelmäßig Tests absolvieren, um neue Systeme frühzeitig dem Praxis-Check zu unterziehen. Welchen Anteil an der Marktreife von autonomen Fahrzeugen das neue Zentrum letztlich für sich reklamieren kann, wird sich 2021 zeigen. Rund ein Jahr nach der Inbetriebnahme der neuen Anlagen sollen erste Ergebnisse stehen, erzählt Martin Peller. Im besten Fall gehören mit Hilfe solcher Simulatoren fatale Unfälle mit selbstfahrenden Autos, wie sie in den USA passiert sind, dann der Vergangenheit an.

Bilder: BMW

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