Eine Collage an Bilder vom Mobilitätsanbieter Lyft zusammengefügt zu einem Würfel.

Komplette CRM-Eigenentwicklungen setzen den Willen zur Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb sowie eine dauerhaft angelegte IT-Strategie voraus. (Bild: Lyft)

Manche Debatte in der IT-Welt hat einen ziemlichen Bart. So auch diese: Ist Individual- oder Standardsoftware die bessere Lösung? Wie bei vielen Anwendungen hatten sich auch beim Customer Relationship Management (CRM) in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer häufiger die Systeme von der Stange durchgesetzt. Denn auch Individuallösungen müssen dauerhaft gepflegt und weiterentwickelt werden – diese Selbstverpflichtung wollten immer weniger Firmen eingehen.

Doch im vergangenen Jahr ließen gleich zwei Unternehmen aufhorchen: Der Mobilitätsanbieter Lyft hat sein CRM selbst entwickelt und interne Mails von Tesla deuten darauf hin, dass der Elektroautobauer konkret darüber nachdenkt, seine CRM-Anwendung von Salesforce durch eine Eigenlösung zu ersetzen. Seitens Tesla ist das allerdings nie offiziell bestätigt worden. Es könnte also auch sein, dass es sich bei diesem Thema um einen der berüchtigten Schnellschüsse von Elon Musk handelt, von denen nicht alle umgesetzt werden. Doch sind eigenentwickelte CRM-Lösungen inzwischen tatsächlich en vogue?

Eigenentwicklungen sind eher selten

Die CRM-Welt im Automobilbereich sei eine gewachsene Systemlandschaft mit schwergewichtigen und zum Teil sehr produktnahen Applikationen, urteilt Stefan Aumüller, Geschäftsführer des CRM-Spezialisten Vision11. Diese Applikationen seien nötig, um die Komplexität in den Varianten zu beherrschen. Damit meint der Experte nicht nur Teil-Varianten, sondern auch „die Summe aller Release-Stände, Apps, Dienste und so weiter über die gesamte Produktlaufzeit“.

Gleichzeitig hätten die meisten Unternehmen in der Branche schon massive Investitionen in die Customer Experience getätigt und dabei oft auf einen Best-of-Breed-Ansatz gesetzt. Aber: „Nicht die Funktionen und Features eines CRM-Systems werden über die Customer Experience von neuen Mobilitätskonzepten, alternativen Antrieben und der immer weiter zunehmenden Vernetzung entscheiden, sondern die Art und Weise, wie flexibel einen das System bei den zukünftigen Fragestellungen unterstützt“, ist Aumüller überzeugt.

„Komplette Eigenentwicklungen setzen den unbedingten Willen zur Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb, eine dauerhaft angelegte IT-Strategie, eine konsequente Umsetzung sowie die Unterstützung des Topmanagements voraus.“ Umsetzbar sei das daher „vermutlich eher selten und nur in sehr softwareentwicklungsnahen Unternehmen“, die zudem wohl eine gewisse Größe haben müssen.

Lyfts Anforderung an ein CRM-System

Auf Lyft trifft die Nähe zur Softwareentwicklung sicherlich zu. Schließlich ist die eigene Mobilitätsplattform zur Vermittlung von Ridesharing-Angeboten sein Alleinstellungsmerkmal. Ajay Sampat, bis Juli 2020 Senior Engineering Manager bei Lyft, beschreibt die Überlegungen, die der Entscheidung zur CRM-Individuallösung vorangingen, in einem Blogbeitrag des Engineeringteams bei Lyft: Ein Teil des Unternehmenswachstums ergebe sich aus Verbesserungen im Akquisitionsprozess – etwa indem Lyft gebietsspezifische Anzeigenkampagnen starte, um bekannter zu werden oder eigene multimodale Angebote zu bewerben.

„Solche Kampagnen zu koordinieren, erwies sich als zeitintensiv“, resümiert Sampat. „Deshalb wollten wir sie automatisieren.“ Durch die Automatisierung wäre das Marketingteam in der Lage, auch viel mehr mit komplexen Kampagnen zu experimentieren. So ließe sich rasch und verlässlich herausfinden, welche Kampagnen besonders wirkungsvoll sind. Auf der Suche nach einer hierfür passenden CRM-Lösung hatte Lyft den Markt evaluiert, bevor es sich letztlich für eine Individuallösung entschied. Denn das Ergebnis lautete, dass die Eigenentwicklung der bessere, günstigere und individuellere Ansatz sei.

Lyfts Anforderungen lauteten: Das System muss eine Prognose der Wahrscheinlichkeit erlauben, dass ein neuer Nutzer sich auf das Produkt einlässt; es muss Messgrößen ermitteln, um die Marketingbudgets gezielt verschiedenen internen und externen Kanälen zuzuweisen; und es muss letztlich diese Budgets automatisiert über tausende Anzeigenkampagnen verteilen können. Die aus den Marketing- und Vertriebskampagnen resultierenden Daten fließen bei Lyft anschließend in das Feedback ein, das ein KI-System permanent zum verstärkenden Lernen bekommt.

Einbindung der digitalen Welt

Um die Automatisierung von Aufgaben zu illustrieren, nennt Sampat verschiedene Beispiele: die Aktualisierung von Angeboten in Abhängigkeit von tausenden Suchbegriffen, die Identifikation von hochwertigen Nutzersegmenten oder der gemeinsame Zugriff auf Erkenntnisse aus unterschiedlichen Strategien bei den Kampagnen. Das resultierende System tauften die Lyft-Entwickler auf den Namen „Symphony“ – in Anspielung auf seine Aufgabe: die Orchestrierung von Unternehmenszielen, prognostizierten Nutzerwerten, zugewiesenen Budgets und ihrer Freigabe, um neue Nutzer zu gewinnen. Technisch beruht Symphony auf der Big-Data-Warehouse-Lösung Apache Hive, der Workflow-Management-Plattform Airflow, einer selbstentwickelten Plattform fürs maschinelle Lernen sowie auf Schnittstellen von Drittanbietern.

„Von einem CRM verlangte das Unternehmen etwas, was mit einer Standardlösung wohl nur schwierig umzusetzen gewesen wäre“, sagt der Berliner Unternehmensberater Stephan Bauriedel und verweist dabei auf ein grundlegendes Problem: CRM-Systeme seien einst für den stationären Vertrieb entwickelt worden, „die Einbindung der digitalen Welt in die Systeme ist daher nicht ohne Aufwand möglich“. Sowohl Tesla als auch Lyft seien Unternehmen, die sehr stark beziehungsweise ausschließlich auf ein digitales Vertriebsmodell setzten.

So hatte Tesla bekanntlich im Zuge der Kostenreduktion seinen stationären Vertrieb drastisch ausgedünnt, um die ersehnte Gewinnschwelle schneller zu erreichen. Trotzdem glaubt Bauriedel, dass der Bedarf für selbstentwickelte CRM-Lösungen bei vielen Unternehmen der Automobilbranche „derzeit nicht gegeben“ sei. Denn: „Sie sind einfach noch nicht so weit in der Digitalisierung des Vertriebs, dass der Nutzen eines solchen Ansatzes den Aufwand überwiegt.“

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