Der stille Tod lauert in Suzhou an jeder Straßenecke. Die chinesische Millionenstadt in der Provinz Jiangsu, in direkter Nachbarschaft zu Schanghai, wird wie viele andere Metropolen im Reich der Mitte seit einigen Jahren von einer Gefahr heimgesucht, die auf den ersten Blick nicht als solche erkennbar ist: dem Elektroroller. Zwar machen die günstigen Scooter durch nervtötende Soundmodule ihren Besitzer beim Parken auf sich aufmerksam, doch beim Fahren sind sie kaum zu vernehmen. In Suzhou sind sie mittlerweile eine der Hauptursachen für Verkehrstote.
Behörden in China wollen der Rollerplage daher mit Verboten Herr werden: In der Hauptstadt Peking sind sie neuerdings von der Straße verbannt, andere Provinzen wollen nachziehen. Schätzungsweise 200 Millionen Elektroroller bevölkern die Verkehrsadern, sind sie doch ein preiswertes, praktisches Fortbewegungsmittel. Und sie sind ein Grund, weswegen in manchen Regionen Chinas die Menschen wieder freier atmen können.
Dass die chinesische Regierung gegen elektrische Vehikel vorgeht, steht allerdings im Gegensatz zur eigenen seit mehr als zwei Jahrzehnten forcierten Verkehrspolitik. Um die wie ein Damoklesschwert über den chinesischen Metropolen hängende Luftverschmutzung einzudämmen, begann man früh mit steuer- und ordnungspolitischer Förderung der Elektromobilität. Mit sichtbarem Erfolg. So hat sich, Zahlen des Centers of Automotive Management zufolge, die Anzahl der verkauften Elektroautos auf dem chinesischen Markt zwischen 2014 und 2015 fast verdreifacht – auf rund 188 000 Fahrzeuge. Bis 2020 erwarten Experten eine Steigerung des Absatzes auf mehr als 800000 Einheiten. Die Wirtschaftsmacht in Fernost hat sich noch vor den USA zum absoluten Leitmarkt für EMobility entwickelt. Und auch was die Produktion von Elektrofahrzeugen angeht, ist China mittlerweile führend.
Im McKinsey-Ranking der wichtigsten Herstellerländer für E-Cars hat sich das Land 2016 erstmals vor Japan an die Spitze gesetzt. Derzeitiger Marktführer ist der Anbieter BYD, der 2015 allein mit den Modellen Qin und Tang die Grenze von 50000 PluginHybriden überschreiten konnte. Der GeelyAbleger Kandi EV kommt auf mehr als 20000 verkaufte batterieelektrische Autos. „In China arbeiten Hersteller und Behörden sehr systematisch daran, Elektroautos für den Kunden attraktiv zu machen“, sagt Nicolai Müller, Elektromobilitätsexperte und Senior Partner bei McKinsey.
„Zwei Gründe gibt es dafür: Zum einen soll durch lokal emissionsfreie Autos die Umweltbelastung und die Abhängigkeit von Erdöl verringert werden. Zum anderen versucht die chinesische Regierung, über diese Technologie zu den globalen Wettbewerbern aufzuschließen.“ Dafür würden nicht nur erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt, sondern auch Regulierungen wie strenge Emissionsstandards oder lokal wegfallende sehr hohe Zulassungsgebühren eingeführt, so der Experte.
„Die derzeit diskutierte verpflichtende Quote für E-Autos wäre ein weiterer Schritt in diese Richtung.“ Denn die chinesische Regierung will dem eigenen Markt für E-Mobility noch einmal einen Boost verschaffen: Im Oktober wurde bekannt, dass Peking Autohersteller dazu verpflichten will, über Quoten die Anzahl der Elektroautos auf Chinas Straßen erheblich zu erhöhen. Ein Regierungsentwurf, der der „Süddeutschen Zeitung“ vorliegt, sieht vor, dass ab 2018 für acht Prozent aller in China verkauften Fahrzeuge sogenannte Kreditpunkte gesammelt werden müssen – vergleichbar mit dem in Europa praktizierten Emissionshandel. Bis zum Jahr 2020 soll sich der Anteil auf zwölf Prozent steigern. Im selben Jahr sollen nach Regierungsplänen zudem 70 Prozent der Verkäufe von Fahrzeugen mit alternativem Antrieb von lokalen Autobauern kontrolliert werden.
All dies sind Maßnahmen, die in der deutschen Automobilindustrie, die in Fernost ohnehin hohe Hürden zu überwinden hat, das Schreckgespenst des Protektionismus auf den Plan ruft. Sollte die Quote tatsächlich in Kraft treten, müssten die OEMs die Produktion von Elektroautos massiv ausweiten. Für Hersteller wie Volkswagen wäre das ein kaum zu bewältigender Kraftakt: Der Konzern verkauft gut 40 Prozent seiner Fahrzeuge im Reich der Mitte, bei der Kernmarke sind es sogar 50 Prozent. Der Anteil an Elektroautos würde mit der Quotenregelung in illusorische Höhen steigen.
Der Druck aus Peking trifft die deutschen Hersteller zu einem Zeitpunkt, da sie sich selbst darüber klarwerden müssen, wie eine Elektromobilitätsstrategie überhaupt aussehen könnte. Für Autobauer wie Daimler sind nach eigener Aussage alternative Antriebe eine wichtige Säule der Wachstumsstrategie in China. „Perspektivisch planen wir, unser Portfolio mit elektrifizierten Varianten stark auszubauen“, bestätigt Bernhard Auer, Director Market Management bei Daimler Greater China, auf Anfrage. Ein Plan, der mit einer verpflichtenden Quote viel schneller umgesetzt werden müsste als gedacht. Einen Ausweg könnte Daimlers Joint Venture mit dem chinesischen Elektroautohersteller BYD bieten: Zusammen entwickelten beide Unternehmen den Denza, ein E-Fahrzeug mit einer Reichweite von gut 400 Kilometern.
„Der Denza ist unser Elektroauto, welches in China für China produziert wird“, sagt Auer. „Das Fahrzeug ist optimal auf die Anforderungen unserer chinesischen Kunden abgestimmt und ein wichtiger Teil unserer Lokalisierungsstrategie.“ Ob der Denza ein Verkaufserfolg wird, ist jedoch noch nicht abzusehen. Während die deutschen Hersteller also um ihren Anteil am Elektromobilitätskuchen fürchten müssen, gehen neue Player aus China auf Angriffskurs.
Das bisher als Rennstall in der Formel E in Erscheinung getretene Startup NextEV hat eine Reihe finanzkräftiger Investoren an Land gezogen, um möglichst schnell ein Konkurrenzprodukt zum Tesla auf den chinesischen Markt zu bringen. Internet Gigant Tencent hat im letzten Jahr mit Future Mobility eine Automotive-Einheit ausgegliedert, die bis 2020 ein autonom fahrendes Elektrofahrzeug auf die Straßen bringen will und dafür nun massiv in die Produktion investiert. Neue Akteure, die den Kampf um das fernöstliche Eldorado der Elektromobilität zusätzlich verschärfen werden. Und freilich will niemand im Elektroboom einen stillen Tod erleiden.
Dieser Artikel erschien erstmals in der carIT 04/2016