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In der analogen Welt waren Automobilhersteller und ihre Zulieferer schlau: Der Komplexität einer wachsenden Modellpalette traten sie mit ausgefeilten Plattformstrategien entgegen. Die Idee besticht durch ihre Einfachheit: Statt für jede Variante eine eigene Bodengruppe mit passenden Motoren, Getrieben und Komponenten zu entwickeln, werden ähnliche Fahrzeuge auf der gleichen Basis gebaut. Ziel ist es, in neuen Modellen möglichst viel bekannte Technik zu nutzen und so die Entwicklungs- und Produktionskosten zu senken. Einfach ausgedrückt: Das Rad wird nicht für jedes Auto neu erfunden, die Werke können ohne große Umstellungen verschiedene Modelle je nach aktuellem Bedarf bauen. Diese Erfolgsformel aus der Blechbiege-Ära aber lässt sich nicht eins zu eins auf die digitale Welt übertragen. In Sachen Digitalisierung drücken OEMs und ihre Tier-1-Partner inzwischen zwar mächtig auf die Tube. Sie schließen Wissenslücken in ihren Reihen, gründen Software-Labs und heben die lockere Arbeitsatmosphäre auf den Schild, die sie bei zahlreichen Besuchen im Silicon Valley bestaunt haben. Wirklich voran aber kommen sie trotzdem nicht. Der Grund: Eine Kopie ist nie so gut wie das Original.

Hier liegt das Problem: Die Automobilbranche innoviert nicht, sie kopiert. Auf dem Konsumentenmarkt räumen Amazon, Google, Apple & Co. ab, weil ihre Ökosysteme auf breite Akzeptanz stoßen. Der Zuspruch für die Plattformen und Angebote ist deshalb so hoch, weil es die Anbieter perfekt verstehen, originären Mehrwert zu stiften und positive Kundenerlebnisse zu schaffen. In der automobilen Welt dagegen sieht es völlig anders aus. „Die Zeit der schnellen Erfolge im Zeitalter der Digitalisierung ist vorbei. Schicke Apps zu programmieren und ein, zwei Anwendungen in die Cloud zu verlagern, reicht nicht mehr aus“, kommentiert Carlo Velten vom Analystenhaus Crisp Research die aktuellen Entwick- lungen. Mercedes Me, MyAudi, i-Remote von BMW – jeder werkelt allein vor sich hin und versucht krampfhaft, auf dem Smartphone digitale Kundenbindung zu betreiben.

Ökonomisch macht das keinen Sinn: Den hohen Entwicklungskosten stehen nur geringe Skaleneffekte entgegen, weil die Anzahl der potenziellen Nutzer von vornherein begrenzt ist. Besser wäre es, wenn sich die deutsche Autoindustrie auf eine branchenweite Technologieplattform verständigen würde, um Applikationen und Services auf einer gemeinsamen Infrastruktur zu betreiben. Markenpositionierung und Individualisierung würden genauso gut funktionieren wie auf Fahrzeugseite. Ohne Markenschranken könnten Autofahrer sogar in den Genuss herstellerneutraler, personalisierter Mobilitätsservices kommen, unabhängig davon, in welchem Fahrzeug sie gerade unterwegs sind. Um eine solche Branchenplattform zu etablieren und ihr Schwung zu verleihen, braucht es konkrete Services – zum Beispiel einen zuverlässigen Pannenservice, egal ob für Premiumfahrzeuge oder den Zweitwagen in der Familie.

Mit jeder Technologiemesse im Jahreskalender aber entfernt sich die Automobilindustrie ein Stück weiter von diesem Idealbild. Auf der CES in Las Vegas zum Beispiel dominierten Anfang 2017 wie erwartet Closed-Shop-Lösungen die zahlreichen Firmenpräsentationen. BMW will digitale Services vorrangig auf der hauseigenen Connected-Plattform implementieren, Volkswagen verwaltet künftige Mobilitäts- und Infotainmentdienstleistungen über die Volkswagen-User-ID, ein geschlossenes Ökosystem. Bosch zeigte eine Hard- und Softwareplattform für IoT-Lösungen, die bis in die Automobilwelt strahlen soll, und ZF kündigte an, zusammen mit Nvidia eine KI-Plattform zu entwickeln.

Als Ausnahme überraschte allein Audiozubehörhersteller Harman, bei dem Technologien rund ums vernetzte Fahrzeug inzwischen auch ganz oben auf der strategischen Managementagenda stehen. Mit Harman Ignite, einer modular aufgebauten und skalierbaren Cloud-Plattform, lassen sich Incar-Applikationen entwickeln, verwalten und betreiben – egal, welches Markenemblem auf dem Auto prangt. „In der Vergangenheit mussten OEMs mehrere Lösungen vorhalten, um ihre Fahrzeuge zu vernetzen, Apps zu verwalten, Daten zu analysieren und Updates over the Air durchzuführen“, erklärt Sanjay Dhawan, der bei Harman den Bereich Connected Services leitet. Der Ansatz seiner Entwicklungstruppe ist genau richtig: Prozesse auf einer Plattform vereinheitlichen und damit Komplexität und Einzelaufwände reduzieren. So wie in der Fahrzeugproduktion Ende der 1990er Jahre.

Aktuell scheint die Branche nicht reif für eine unternehmensübergreifende, horizontale Integration. Die meisten Hersteller definieren sich das digitale Morgen noch immer im Rahmen eines produktzentrierten Denkens. Sie entwickeln tapfer ihr über einhundert Jahre altes Mobilitätskonzept technologisch weiter – in der Hoffnung, dass sie mit einer neuen Generation vernetzter und autonomer Autos möglichst widerstandslos in Richtung Zukunft fahren können. Diese Haltung aber ist gefährlich. „Im digitalen Zeitalter müssen Unternehmen kooperieren und datenbasierte Wertschöpfungsnetzwerke bilden“, heißt es in einem Best- Practice-Leitfaden, den die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften 2016 veröffentlicht und auf dem Nationalen IT-Gipfel in Saarbrücken zur Diskussion gestellt hat. Sicher können markenindividuelle Plattformen, die von Herstellern betrieben werden, einen gewissen Prozentsatz der Autofahrer binden. In einer offenen, interaktiven Lösung aber steckt erheblich größeres Geschäftspotenzial, das man nicht ungenutzt auf der Straßen liegen lassen sollte. Es ist höchste Zeit, dass OEMs und Zulieferer ihre Scheu ablegen und gemeinsam an Projekten arbeiten.

Dieser Artikel erschien erstmals in carIT 01/2017

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