Eine Mitarbeiterin von Daimler zeigt mit ihrem Finger auf einen Bildschirm, um einer Kollegin etwas zu erklären.

Daimler will aufgrund der Coronakrise 2.000 Stellen in der IT auslagern. (Bild: Daimler)

Um die Digitalisierung zu stemmen, benötigt die deutsche Industrie immer mehr IT-Experten. Die jährlich steigende Zahl freier Stellen untermauert dies eindrucksvoll: Laut einer Studie des Branchenverbands Bitkom waren Ende 2019 rund 124.000 Stellen unbesetzt. Nachdem der Wert sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt hat, erreichte er damit eine Rekordmarke.

Der Mangel an Spezialisten sei offenkundig und drohe bei einer Verschärfung die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Wirtschaft zu beeinträchtigen, so Bitkom-Präsident Achim Berg. „Software wird immer mehr zum Teil des Kerngeschäfts. Damit zieht die Softwareentwicklung quer durch alle Branchen in die Unternehmen ein und gewinnt dort massiv an Bedeutung.“

Rekrutierungsoffensive der Hersteller

Das Werben um Personal sollte bei OEMs und Zulieferern folglich einen hohen Stellenwert einnehmen, um die Digitalisierung der Geschäftsprozesse, Zukunftsprojekte und IT-getriebene Innovationen voranzubringen. So verkündete etwa Volkswagen, rund 2.500 neue IT-Fachkräfte einzustellen, um den selbstentwickelten Software-Anteil im Fahrzeug von zehn auf 60 Prozent zu steigern.

Den Bedarf an Digitalexperten taxiert der Volumenhersteller für die kommenden fünf Jahre sogar auf insgesamt 10.000 Stellen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass VW inzwischen selbst hunderte Softwareentwickler an der „Fakultät 73“ ausbildet. Auch Premiumhersteller wie Daimler gehen bei Rekrutierungsveranstaltungen gezielt auf Talentsuche.

Nachfragerückgang trotz Fachkräftemangel?

Wie passt es da ins Bild, dass der Fachkräfte-Index Automotive des Personaldienstleisters Hays einen besonders hohen Nachfragerückgang bei IT-Fachkräften aufzeigt? Egal, ob Entwickler, Berater oder IT-Architekten: Die Automobilbranche schrieb 2019 im Vergleich zu den Vorjahresquartalen immer weniger Stellen aus.

Dies mag zunächst widersprüchlich erscheinen, könnte aber durch die zunehmende externe Projektvergabe erklärt werden, da die Bitkom-Zahlen auch offene Stellen bei IT-Dienstleistern umfassen.

„Es kann damit zusammenhängen, dass Automobilunternehmen weniger IT-Stellen besetzen und stärker mit Externen arbeiten. Diesen Trend beobachten wir beispielsweise im Engineering, also der Entwicklung von Fahrzeugsoftware“, versucht Mario Zillmann vom Marktforschungsunternehmen Lünendonk & Hossenfelder den Widerspruch aufzulösen. Daimler hat bereits angekündigt 2.000 IT-Beschäftigte an Fremdfirmen zu übergeben.

Die Auswirkungen der Krise

Laut einer aktuellen Studie verstärkt die Coronakrise diesen Trend: Zwar beklagen auch IT-Dienstleister, dass einzelne Kunden die Budgets für externe Dienstleistungen kürzen oder Projekte verschieben, doch Themen wie Prozessautomatisierung, E-Commerce, Digital Workplace und Senkung der IT-Kosten – beispielsweise durch IT-Outsourcing, Softwaremodernisierung oder Überführen von IT-Anwendungen in die Cloud – erfahren momentan eine Sonderkonjunktur.

Für Adél Holdampf-Wendel, Bereichsleiterin Arbeitsrecht und Arbeit 4.0 beim Bitkom, ist es folglich nicht ausgeschlossen, dass die positive Beschäftigungsentwicklung in der IT-Branche auch in einer möglichen Rezession anhält: „Auch wenn die Coronakrise die Nachfrage vorübergehend dämpfen wird, sind diese Spezialisten in langfristiger Perspektive weiter auf dem Arbeitsmarkt gefragt.“

Existenzbedrohende Lage für OEMs

Dass digitale Kompetenz für die Autobranche nicht erst durch die Krise unerlässlich wird, betont auch Mario Zillmann. Ohne die notwendigen Fachkräfte drohe deutschen OEMs eine existenzbedrohende Lage, da sie mit Tesla sowie chinesischen Anbietern mittlerweile starke Konkurrenten haben.

„Fakt ist ja, dass der Ingenieur der Zukunft ein ITler ist“, bringt der Lünendonk-Experte es auf den Punkt. Obwohl einige Projekte derzeit hintenangestellt werden, sei eine Rationalisierung deshalb nicht zu befürchten.

Der Druck, softwaregestützte Fahrzeuge zu entwickeln, sei weiterhin sehr hoch und erfordere Kompetenzen in agiler Entwicklung, Skills in neuen Technologien wie künstliche Intelligenz und Virtual Reality sowie beim Aufbau von Betriebssystemen. Steht den Beschäftigten in der Digitalbranche somit eine sorgenfreie Zukunft bevor? Längerfristig mag dies so sein.

Die Prognosen verschlechtern sich

In der Coronakrise hat die Branche jedoch ebenfalls einen Dämpfer bekommen. Während der Bitkom-ifo-Digitalindex zur aktuellen Geschäftslage sowie die damit einhergehenden Erwartungen an die Beschäftigungsentwicklung im Februar noch überschaubar zurückgingen, werden inzwischen monatlich neue Tiefpunkte erreicht. Besonders Industrie und Handel waren im März von einem derartigen Nachfragerückgang betroffen, dass der Index auf den niedrigsten Wert seit dem Höhepunkt der Finanzkrise 2009 einbrach.

„Die Unternehmen der IT- und Telekommunikationsbranche beurteilen ihre konjunkturellen Perspektiven zwar besser als die der Wirtschaft insgesamt. Aber auch in den Auftragsbüchern der Bitkom-Unternehmen hat sich die Coronakrise jetzt schon bemerkbar gemacht. Sie drückt messbar auf die Stimmung“, bemerkt Bitkom-Präsident Achim Berg.

Auch wenn die Branche in Zeiten der Krise seines Erachtens ein Stabilitätsanker ist, haben sich Geschäftslage und -prognosen im April massiv verschlechtert. Auch die kurzfristigen Beschäftigungserwartungen sind erstmals seit Juli 2009 leicht negativ. Eine Mehrheit der Unternehmen erwartet einen Beschäftigungsabbau. Die fehlende Nachfrage hat den Fachkräftemangel somit zum ersten Mal seit 2015 als wichtigstes Geschäftshemmnis abgelöst.

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