Ein Kunde bei BMW trägt die VR-Brille HTC Vive Pro, um sein Fahrzeug beim Autokauf virtuell zu erleben.

Ausgestattet mit der VR-Brille HTC Vive Pro kann ein Kunde etwa um sein virtuelles Fahrzeug herumgehen. (Bild: BMW)

Zubehörlisten, Broschüren und Webkonfiguratoren liefern zwar umfassende Informationen über ein Fahrzeug, eine fotorealistische Visualisierung bietet jedoch deutlich mehr. Und wenn diese sich nicht aufs Auto beschränkt, sondern das Fahrzeug in einer natürlichen, ebenfalls animierten Umgebung darstellt, dann kommt für den Kunden eine zusätzliche emotionale Komponente ins Spiel. Und nicht nur das, solche Visualisierungen helfen auch bei ganz praktischen Entscheidungen: „Die Farbe eines bestimmten Lackes mag bei Tag und Nacht unterschiedlich wirken, in der Visualisierung mit EVE wird das deutlich“, sagt Marcel Beneke-Wysocki, der bei der BMW Group der fachbereichsseitige Product Owner Customer Touchpoints at Retail ist. Die Abkürzung EVE steht dabei für: „Emotional Virtual Experience“.

BMW erschafft digitales Ökosystem

Für den Kunden ist EVE die fotorealistische 3D-Darstellung eines jeden BMW oder Mini in allen weltweit verfügbaren Varianten auf einem beliebigen Display. Für die Mitarbeiter des Händlers ist das Tool eine in das Verkaufssystem integrierte Lösung, mit der sie einem Kunden dessen Wunschfahrzeug ohne Medienbruch, ohne Informationsverlust anschaulich emotional präsentieren können. Und für den BMW-Konzern stellt EVE einen Teil des digitalen Kundenökosystems dar, das der Automobilhersteller seit mehreren Jahren aufbaut.

Einen Startpunkt bildete die BMW Connected App, der erste digitale Touchpoint zwischen Kunde und Fahrzeug. Inzwischen tritt der Konzern über vier Wege mit seinen Kunden digital in Kontakt: über die Website, über soziale Medien, über die My-BMW-App und über die Händler, wo physische und digitale Welt miteinander verschmelzen. Ziel des digitalen Ökosystems ist es, mithilfe der anfallenden Daten den Kunden einen Mehrwert zu bieten – sowohl beim Kaufprozess als auch bei Diagnose, Service oder Nachrüstung.

Berater von McKinsey betonen in einer Studie, dass dem Kundenerlebnis in der Automobilindustrie künftig eine noch viel größere Bedeutung zukommt als bislang. Die Generation der Millennials werde Mitte der Zwanzigerjahre fast die Hälfte der potenziellen Fahrzeugkäufer ausmachen, was sie zur größten demografischen Gruppe mache, so die Analysten. Sie sei nahtlosen, verlässlichen Service gewohnt, kompetente Beratung, personalisierte Kommunikation und ein themenbezogenes Social-Media-Marketing.

Das Beratungsunternehmen Arthur D. Little bezeichnet das Kundenerlebnis gar als das neue Unterscheidungsmerkmal in der Automobilindustrie. Bei einem Kauf spielten neben dem eigentlichen Produkt auch das Markenimage und die Erfahrungen bei Kauf und Service eine maßgebliche Rolle. Das Produkt, das reine Fahrzeug, verliere in diesem Dreiklang an Bedeutung, so die Berater. So gesehen ist EVE ein wichtiger Schritt für BMW, das Kundenerlebnis weiter zu verbessern.

Visualisierung auf Basis einer Spiele-Engine

Seitens der Händler sind dafür überschaubare Investitionen nötig: ein großes Display mit Sitzecke, wie es schon seit Jahren Standard ist, sowie ein Rechner – die sogenannte Rendering Machine. „Mit ihr tragen wir dem Umstand Rechnung, dass breitbandige Anbindungen aller BMW- und Mini-Händler an unsere Server derzeit nicht realistisch sind“, sagt Harald Hechler, der im Konzern der IT-seitige Product Owner Customer Touchpoints at Retail ist. Die Rendering Machine hält die 3D-Bilddaten für mehr als 50 Fahrzeugvarianten des OEM vor, inklusive aller Ausstattungsmöglichkeiten.

„Das sind mehrere Gigabyte an Daten pro Fahrzeugvariante“, verdeutlicht Hechler. Seit 2013 halten solche Systeme Einzug bei den Händlern, früher war dafür noch ein spezielles Frontend nötig. Inzwischen sind sie nahtlos mit den Verkaufsapplikationen verbunden. Rund 6.000 Installationen sind mittlerweile im Feld, über die mehrere 100.000 Konfigurationen pro Monat visualisiert werden. „Trotz der Modernisierung der Software ist weiterhin die existierende Hardware nutzbar“, betont Hechler. Das freut die Händler natürlich.

Die Visualisierung eines Fahrzeugs mit EVE beruht auf den Konstruktionsdaten des Fahrzeugentwicklungsprozesses, die „natürlich aufbereitet und auf kundenrelevante Ansichten abgemagert sind“, wie es Hechler formuliert. Technisch beruht die Visualisierung auf der Spiele-Engine Unreal Engine von Epic Games. „Die Darstellung der Modelle ist nicht nur realistisch, sondern auch sehr detailliert“, sagt Beneke-Wysocki. Schriftzüge und Warnhinweise im Fahrzeug zum Beispiel sind in der Landessprache, die Geschwindigkeitsanzeige entspricht den Gepflogenheiten des Landes. „Der Kunde sieht wirklich sein künftiges Fahrzeug, nicht irgendein Fahrzeug.“ Das klappt nicht nur mit Neuwagen, sondern auch mit Gebrauchten, da sich hierbei anhand der Fahrgestellnummer die Ausstattung ermitteln lässt.

BMW plant digitale Broschüre

Natürlich investiert ein Händler nicht für jeden seiner Verkäufer in die EVE-Technologie. „Meist gibt es ein, zwei Systeme in einem Autohaus, aber womöglich zehnmal so viele Verkäufer“, sagt Beneke-Wysocki. Damit trotzdem alle Verkäufer das System an ihrem Beratungsplatz nutzen können, haben die Teams von Beneke-Wysocki und Hechler kürzlich eine Lösung ausgerollt, die sie als Local Streaming bezeichnen. Dazu spielen sie die Animationen auf einer Website aus. Hat ein Händler ein Fahrzeug konfiguriert oder die vom Kunden zusammengestellte Konfiguration über eine Kennnummer ins Verkaufstool übernommen, wird das Modell geladen. Durch Klicken auf den Knopf „EVE“ öffnet sich der Browser auf einem wählbaren Display. Das kann der große Präsentationsbildschirm am Beratungsplatz oder das Tablet des Kunden sein – in letzterem Fall ruft der Kunde die URL über einen QR-Code auf, der auf dem Händler-Display angezeigt wird.

Eine der nächsten Entwicklungen wird eine digitale Broschüre sein. „Verlässt ein Kunde nach einer Beratung ein Autohaus, ohne sich entschieden zu haben, ist das für den Verkäufer eine schwierige Situation, weil er ihn dann nicht mehr erreichen kann“, sagt Beneke-Wysocki. Mit EVE soll sich das ändern. „Statt eines Preisblatts und eines Prospekts bekommt der Kunde einen Link und einen QR-Code, der ihn auf eine Website mit seiner persönlichen Broschüre führt.“ Dort findet er neben den nicht personalisierten Informationen zusätzlich Impressionen des Fahrzeugs, Bilder und Videoanimationen inklusive. „In Italien führen wir dazu gerade ein Pilotprojekt durch“, so der BMW-Experte. „Bislang bestätigen sich unsere Hoffnungen, dass die digitale Broschüre die Rückkehr eines Kaufinteressenten wahrscheinlicher macht.“

Beide BMW-Teams arbeiten zwar schon länger zusammen, sind jedoch seit Anfang 2019 auch räumlich vereint. „Dieser ständige unmittelbare Kontakt und das agile Arbeiten haben ein Wir-Gefühl erzeugt und unseren Output deutlich erhöht“, sagt Hechler rückblickend. Im Zwei-Wochen-Rhythmus liefern sie neue Features aus – dass das alleine nicht reicht, zeigte die Erfahrung. „Unsere Teams fanden manch neues Feature echt cool, aber die Händler nutzten es kaum“, erzählt Hechler. Eine Analyse ergab, dass die Trainingsmaterialien zu den neuen Funktionen eher den Charakter eines Handbuchs statt einer zeitgemäßen Informationsvermittlung hatten. „Also produzieren wir nun selbst Videos, in denen wir die Neuerungen vorstellen“, sagt Hechler. Zusammen mit den neuen Features werden sie mit Untertiteln in sieben Sprachen ausgeliefert.

Autokauf mittels Virtual Reality

Doch das unmittelbare Erleben geht mit EVE noch tiefer. Die Teams von Beneke-Wysocki und Hechler haben eine Virtual-Reality-Umgebung entwickelt. Ausgestattet mit der VR-Brille HTC Vive Pro kann ein Kunde zum Beispiel um sein virtuelles Fahrzeug herumgehen. Er kann die Tür öffnen und sich hineinsetzen. Das Fahrzeug kann in virtuellen Umgebungen, etwa in Hongkong oder den Alpen, bei Tag und Nacht platziert werden. Sämtliche beweglichen Teile – vom Kofferraum über den Tankdeckel bis zum Cabriodach – lassen sich bedienen. Rund 30 Installationen sind inzwischen im Feld.

„Wir mussten auch lernen, dass nicht jeder Verkäufer VR so einsetzen will, wie es die reine Lehre vorsieht“, sagt Hechler. Die beste Immersion tritt bekanntlich dann auf, wenn sich ein Kunde tatsächlich so bewegen kann, wie er es in der Realität ebenfalls machen würde. „Bei EVE-VR kann der Kunde aber auch auf seinem Stuhl sitzen bleiben“, erläutert Hechler. „Mancher Händler befürchtete, der Kunde könne wegen der ungewohnten VR-Brille stolpern oder es könne ihm übel werden.“ Beides wäre ein verkäuferischer Super-GAU. Die Möglichkeit, VR im Sitzen zu erleben, hat aber auch einen ganz unmittelbaren Vorteil: „Die Installation erfordert dann weniger Platz, was gerade bei kleineren Showrooms gut ist“, sagt Hechler.

Bei der Kundenakzeptanz erlebte das BMW-Team Überraschungen. Angenehme. „Wir dachten, dass das VR-Angebot vor allem von Jüngeren genutzt wird, weil sie in einer viel stärker digitalisierten Gesellschaft aufgewachsen sind“, sagt Marcel Beneke-Wysocki. „Aber die Händler melden uns zurück, dass die VR-affinen Kunden über alle Altersgruppen verteilt seien.“ Besonders eindrücklich erlebte ein Autohaus die Wirkung seiner neuen VR-Installation mit einem Kunden, der das Rentenalter bereits erreicht hatte: „Er hatte sein Wunschfahrzeug bereits im Web konfiguriert, einen 3er“, erzählt Beneke-Wysocki. „Nun wollte der Kunde ihn sich mit dem VR-System anschauen, fand das auch sehr eindrücklich – und fragte den Händler, ob er auch noch einen 5er so erleben könne.“ Letztlich bestellte er dann keinen 3er, sondern einen BMW X5 – für Beneke-Wysocki und Hechler die Bestätigung, dass ihre Teams mit dem neuen VR-Tool ziemlich viel richtig gemacht haben.

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