Automatisierung und künstliche Intelligenz (KI) prägen die Fertigungsprozesse in der Automobilindustrie immer stärker. Laut der Beratungsagentur Sopra Steria sind bei 60 Prozent der Unternehmen neue Technologien in der Produktion bereits im Einsatz oder werden aktiv erprobt. Auch in Forschung und Entwicklung setzt die Autobranche auf moderne KI-Lösungen. Der Engineeringdienstleister IAV und das Deutsche Forschungszentrum für künstliche Intelligenz zum Beispiel haben erst kürzlich ein gemeinsames Forschungslabor für Deep Learning und KI in der Motorenentwicklung gegründet. Die Vorreiterrolle der gesamten Branche überrascht nicht, ihre ausgeprägte Technologieaffinität ist nichts Neues: Schon die ersten Roboter standen an den Fließbändern von Autobauern.
Auch vernetzte Maschinensysteme kamen zum Einsatz, lange bevor es das Internet und die Industrie 4.0 gab. Heute verfügen KI, Machine Learning, Business Process Automation, Big Data und moderne Analytics eine über immense Dynamik. Manche KI-Programme kommen bereits auf einen IQ von 47 Punkten. Das ist zwar noch weit von den 100 Punkten entfernt, die ein Mensch im Durchschnitt erreicht. Doch IT-Experten gehen davon aus, dass bis 2050 maschinelle Intelligenz die von Menschen übertreffen wird.
Auch außerhalb der Fahrzeugfertigung kommen hochintelligente Systeme immer häufiger zum Einsatz. Auftragsfertiger wie Foxconn, Flugzeughersteller wie Boeing oder auch Dienstleistungsbetriebe wie Amazon nutzen KI-basierte Roboter und Deep LearningAlgorithmen auf breiter Front. Häufig springen KI-Entwicklungen regelrecht von einer Branche auf eine andere über und stoßen dann dort massive Veränderungen an. Googles Entwicklungsarbeiten an autonomen Autos und die Konsequenzen bei den Fahrzeugherstellern sind ein imposantes Beispiel.
In einem Interview mit dem Schwestermagazin carIT bestätigte Marcus Keith, Leiter Digital Business bei Audi: „Ohne Machine Learning geht nichts mehr. Nehmen Sie nur mal die Möglichkeiten im Bereich Fahrerassistenz. Welche Potenziale stecken künftig in den Systemen, wenn sie selbstlernend sind? Stellen Sie sich vor, Sie rüsten diese Assistenten noch mit einer Onlineanbindung aus und nutzen KI im Backend. Vieles läuft dann automatisch, gekoppelt mit extrem schnellen Lernkurven.“ Mit seiner KI-Forschung hat Google nicht nur Fahrzeugherstellern Konsequenzen aufgezwungen, sondern darüber hin aus auch bei den fahrzeuggebundenen Dienstleistungsbranchen wie Taxi, Speditionen und Kurierdiensten massive Veränderungen ausgelöst. Damit wird klar, dass die neuen hochintelligenten Systeme auch außerhalb ihres eigentlichen primären Entwicklungsbereichs erhebliche Auswirkungen haben.
Neue KI-Anwendungen krempeln selbst Bürotätigkeiten um, vielen der sogenannten White-Collar-Jobs wird es wohl an den Kragen gehen. Bei Volkswagen zum Beispiel sollen im Rahmen des Projektes „Robotic Enterprise“ schon bald Algorithmen die Arbeit von Controllern, Einkäufern und Verkäufern erledigen. Schon heute nutzt der größte deutsche Autobauer schlaue Software für die Bedarfsprognosen seiner fast 250 Fahrzeugmodelle in über 100 Märkten. Die Trefferquote liegt bei 90 Prozent – das ist weitaus mehr als die 60 Prozent, die menschliche Kollegen bestenfalls erreichen. Tatsache ist, dass sich die Arbeiten in der Rechtsabteilung, im Rechnungswesen oder im Vertrieb eines Fahrzeugherstellers nur graduell von gleichartigen Jobs bei einer Bank, einem Handelsbetrieb oder einer Telefongesellschaft unterscheiden. „Genau genommen ist inzwischen jeder Job durch Automatisierung bedroht, bei dem man vor einem Computer sitzt und irgendwelche Informationen bearbeitet“, schreibt der Zukunftsforscher Martin Ford in seinem neuen Buch „Rise of the Robots: Technology and the Threat of a Jobless Future“.
Insofern lohnt sich ein Blick auf die KI-Entwicklungen der Backoffice-Jobs in anderen Branchen – was dort erfolgreich ist, kann schon bald im Industriesegment Auto Einzug halten. Die Datev, ein IT-Dienstleister für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte, experimentiert beispielsweise seit geraumer Zeit mit KI, um Finanzdaten zu verarbeiten. Selbst auf den höchsten Ebenen des Finanzwesens übernehmen Algorithmen zunehmend die Arbeit von bislang gut dotierten Experten. US-Handelsriese Walmart hat im September 2017 angekündigt, mindestens 7000 Stellen im Rechnungswesen abzubauen. Die Jobs sollen durch KI und neue Geschäftsprozesse völlig automatisiert werden. Eine japanische Wagniskapitalfirma hat sogar einen Roboter mit vollem Stimmrecht im Aufsichtsrat sitzen, „weil er hervorragende Prognosen über das Risiko von Startups geben kann“, heißt es.
Auch die Investmentbank Goldman Sachs automatisiert immer mehr Geschäftsprozesse. „Wir sind praktisch ein komplett digitales Unternehmen“, sagt IT-Chef Roy Joseph. Ein Viertel aller Mitarbeiter seien inzwischen IT-Ingenieure, die rund 7000 Anwendungen auf 200 000 Servern betreuen. Ein weiteres Feld sind Kreditprüfungen: Die US-Bank JP Morgan berichtet, dass man mit moderner KI-Software in wenigen Sekunden ein Volumen an Anträgen bearbeiten kann, wofür man früher über 360 000 Stunden an qualifizierter Arbeit aufwenden musste. Auch immer mehr Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen nutzen moderne KI-Methoden, um beispielsweise Verträge und Geschäftsbedingungen auf potenzielle Schwachstellen zu analysieren. Tausende Verträge mit hunderten von Seiten können in wenigen Sekunden überprüft werden. Dana Remus, renommierte Rechtsprofessorin an der University of North Carolina, schätzt, dass bereits in naher Zukunft 13 Prozent aller juristischen Arbeiten der Automatisierung zum Opfer fallen werden.
Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers hat zu KI und der damit verbundenen Jobentwicklung weltweit eine Umfrage durchgeführt: 58 Prozent der befragten CEOs gaben an, dass sie in den nächsten fünf Jahren viele Stellen aufgrund von Automation abbauen können. Eine andere Untersuchung von McKinsey kommt zu dem Ergebnis, dass bis 2030 etwa 375 Millionen Arbeiter und Angestellte ihren Job aufgrund neuer Technologien verlieren werden. In den USA sollen 38 Prozent aller Arbeitsplätze betroffen sein. Für Deutschland geht McKinsey von 35 Prozent aus, in Großbritannien sollen es 30 Prozent sein.
Die Weltbank sieht die kommende Entwicklung sogar noch dramatischer: Das Institut geht davon aus, dass 57 Prozent aller Jobs in den OECD-Ländern innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte gefährdet sind – darunter ausdrücklich auch viele White Collar Worker im Angestelltenbereich. Laut McKinsey müssen sich bis 2030 rund fünf Prozent der Kopfarbeiter nach einem neuen Job umschauen. Besonders betroffen sind die Arbeitsplätze von Buchhaltern und Controllern. „Rund ein Fünftel der Beschäftigten im Finanz- und Rechnungswesen ist mehr oder minder mit der Bearbeitung von Daten beschäftigt – mindestens 80 Prozent davon lassen sich schon heute problemlos automatisieren“, heißt es in der Untersuchung.
Die Betroffenen sehen die Entwicklung noch relativ gelassen. Nach einer Untersuchung des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center meinen 80 Prozent der amerikanischen White-Collar-Angestellten, dass ihr Job in der heutigen Form noch „für mindestens 50 Jahre unverändert bestehen wird“. In Deutschland ist die Einstellung gegenüber KI kritischer: Nach einer Untersuchung der Werbe- und Digitalagentur Syzygy sind hierzulande 57 Prozent aller Befragten gegenüber KI skeptisch, 45 Prozent misstrauen der neuen Technologie und knapp 16 Prozent sehen sie als Bedrohung.
Wie konkret sich diese neuen Anwendungen auf den Arbeitsmarkt auswirken werden, ist heiß umstritten. Viele neigen zu der Kopf-in-den-Sand-Mentalität, andere sehen massiven Handlungsbedarf. „Wir müssen schnellstens lernen, mit der aufziehenden technologischen Arbeitslosigkeit umzugehen, und die Menschen entsprechend umschulen“, fordert zum Beispiel Microsoft-Chef Satya Nadella. Das deckt sich mit dem, was auch andere IT- und Arbeitsmarktexperten fordern. „Viele Mitarbeiter im Rechnungswesen sind froh, wenn sie weniger mit Zahlenkolonnen umgehen müssen und stattdessen mehr Zeit für die Kommunikation mit Menschen und für komplexe Abläufe und Entscheidungsprozesse haben.
„Doch dazu müssen sie auch entsprechend ausgebildet werden“, sagt Mark Murp, Analyst bei der Denkfabrik Brookings Institution, die in regelmäßigen Abständen die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt untersucht. In ihrem jüngsten Bericht heißt es folgerichtig: „Die Kopfarbeiter müssen sich darauf einstellen, dass in Zukunft weniger Wissen und Knowhow gefragt ist, sondern mehr sogenannte Softskills verlangt werden.“ Murp fügt noch hinzu: „Führungseigenschaften, Organisationsfähigkeit, Teamwork, Kreativität und emotionale Intelligenz sind die Eigenschaften, die bei den Jobanforderungen in Zukunft ganz oben stehen werden.“ Auch er sieht als Lösungen nur eine breite Umstellung der Aus und Weiterbildung. „Es ist allerhöchste Zeit, den gesamten Bildungsweg komplett umzukrempeln – von der Grundschule bis hinauf zum Studium. Noch immer wird viel zu viel Wert auf die Wissensvermittlung gelegt, wogegen die zukünftigen Anforderungen nur Randerscheinungen in den Curricula sind“, lautet seine eindringliche Forderung an die Bildungsverantwortlichen.
Autor: Harald Weiss
Foto: iStockphoto/Ralwel
Dieser Artikel erschien erstmals in der automotiveIT 01/02/2018