
In der Schule hätte es für diese Leistung wohl eine Eins gegeben. „Here ist weiterhin Marktführer“, bescheinigten die Analysten von Counterpoint Research dem Kartendienst im Sommer 2018 in ihrem Ranking. Die offene Ortsplattform des Anbieters sei „einzigartig“. Anders als Google und TomTom habe Here einen Fuß in einem großen Markt wie China. Die Kollegen von Ovum, Herausgeber des zweimal im Jahr erscheinenden Location Platform Index, setzten Here im vergangenen Sommer erstmals vor Google an die Spitze ihres Index. Maßgeblich dafür war wohl die vereinfachte Preisstruktur für Entwickler, inklusive einer kostenlosen Option. Weitere Pluspunkte, die Here bei Ovum sammelte: Fortschritte bei hochaufgelösten und bei Indoor-Karten sowie die neue Technik für sichere Updates und Datenübertragungen per Luftschnittstelle. Das Beratungshaus Strategy Analytics sah Here 2018 bereits zum fünften Mal in Folge an der Spitze seiner Benchmark-Studie über Location-Based-Services.
„Dass Audi, BMW und Daimler Nokias Kartendienst gekauft haben, war ein geschickter Schachzug“, findet Matthias Kempf, Gründungspartner beim Beratungsunternehmen Berylls Strategy Advisors. „Der Schritt sorgt für Unabhängigkeit von den großen amerikanischen Kartenanbietern.“ Und diese Unabhängigkeit kann noch viel Wert sein. Schließlich gilt der Gesamtmarkt für digitale Karten als Wachstumsgeschäft. MarketsandMarkets prognostiziert von 2018 bis 2023 ein Wachstum von neun auf 20 Milliarden US-Dollar, was einer jährlichen Steigerung von 17 Prozent entspräche. Im Automobilsektor erwarten die Marktforscher sogar noch höhere Zuwachsraten. Doch es geht nicht nur um Wachstum, sondern um die zunehmend strategische Bedeutung ortsbezogener Dienste, die ohne hochaufgelöste Karten nicht möglich sind. „Die strategische Unabhängigkeit der europäischen Automobilhersteller von den US-Kartendiensten ist ein Vorteil gegenüber den Wettbewerbern“, findet Kempf.
Als Nokias Kartensparte 2015 zum Verkauf stand, war diese Entwicklung keineswegs vorgezeichnet. Am 4. Dezember 2015 vollzogen Audi, BMW und Daimler die Übernahme der Nokia-Kartensparte für 2,8 Milliarden Euro und benannten sie in Here Technologies um. 2017 stiegen dann Intel und eine asiatische Investorengruppe mit jeweils zehn Prozent bei Here ein. Zu den Asiaten gehören der Internetanbieter Tencent und der Automobilzulieferer NavInfo aus China sowie die Beteiligungsgesellschaft GIC aus Singapur. Im gleichen Jahr vereinbarten Here und der japanische Elektronikriese Pioneer eine gegenseitige geringfügige Beteiligung. 2018 folgten Bosch und Continental mit Anteilen von jeweils fünf Prozent. „Kämen weitere Anteilseigner hinzu, würde mich das nicht überraschen“, so Matthias Kempf von Berylls. Here macht zu Umsatz und Gewinn keine Angaben. Die jährlichen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung beziffert das Unternehmen auf mehr als 500 Millionen Euro. Seitens der Anteilseigner gebe es keine Abnahmegarantien für Here-Produkte und -Dienste, sagt Christof Hellmis, bei Here für Innovationen und die Servicestrategie zuständig. „Vielmehr müssen wir wie jeder Zulieferer mit unseren Angeboten überzeugen.“
Laut Here sind 1,5 Millionen Fahrzeuge dazu in der Lage, ihre Sensordaten für Warn- und Servicedienste über die jeweilige OEM-Cloud zur Verfügung zu stellen. „Im Herbst 2016 haben wir damit begonnen, Ende 2017 waren es bereits 500 000 Fahrzeuge, Ende 2018 hatte sich die Zahl dann verdreifacht“, sagt Christof Hellmis, der von einem weiteren exponentiellen Wachstum ausgeht. 2019 will man laut Unternehmensmitteilung die Zehn-Millionen-Marke knacken. Die große Vision lautet: „HD Live Map“ – äußerst detaillierte Karten für das hochautomatisierte Fahren. „Wobei Karten zu erstellen nicht so schwer ist, der eigentliche Aufwand ist, sie aktuell zu halten“, erklärt Hellmis.
Das soll bei Here mit der Live Map gelingen: Der cloudbasierte Dienst wird die Sensordaten vernetzter Fahrzeuge nutzen, um Veränderungen – etwa ein neues Schild – in die Karten quasi in Echtzeit einzupflegen. „Digitale Karten sind aufwendig und erfordern ein langfristiges Engagement“, betont Christof Hellmis. „Nur durch Standardisierung und Offenheit gegenüber Dritten erreichen wir rasch eine kritische Masse, die finanzierbar bleibt.“ Die OneMap Alliance illustriert, was er damit meint: Bis zum Jahr 2020 wollen die Mitglieder der Allianz konsistente hochaufgelöste Karten erstellen und die Daten austauschen. Derzeit gehören neben Here die südkoreanische SK Telecom, NavInfo und Pioneer zur Allianz, weitere Partner sind willkommen.
Angesichts der Erfolgsgeschichte von Here liegt die Frage nahe, ob die Automobilhersteller in dieser Zeit der Umbrüche nicht auch anderweitig enger zusammenarbeiten sollten. Naheliegend ist zum Beispiel eine deutsche oder europäische Zellfertigung. Es gibt Experten wie den Roland-Berger-Berater Wolfgang Bernhart, die die beiden Bereiche für nicht vergleichbar halten: Bei einer eigenen Zellfertigung gehe es nur um geteiltes Risiko, bei Here dagegen auch um die Daten, die die OEMs einbringen. Zudem sei Google wirtschaftlich ein anderes Kaliber als die Zellfertiger, die alle kleiner als die OEMs sind. Auch die Investitionen liegen bei der Zellfertigung in einer anderen Dimension als bei Here. Berylls-Berater Kempf stellt die Frage, ob tatsächlich jeder OEM sein eigenes selbstfahrendes System entwickeln muss: „Die Automobilhersteller betrachten das zum Teil noch als ihre Kernkompetenz, aber angesichts des US-amerikanischen Vorsprungs – gerade mit Blick auf neue Mobilitätsdienste – sollte man vermehrt kooperative Ansätze in Betracht ziehen.“ Solche Kooperationen fallen den OEMs traditionell in Bereichen leichter, die zwar als wichtig betrachtet werden, aber nicht zu sehr am Selbstverständnis nagen. Oder dort, wo der Leidensdruck hoch genug ist – siehe die Zusammenlegung der Mobilitätsdienste von Daimler und BMW.
Bild: Here