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Das Startup aus Litauen hat eine Plattform für intermodale Mobilität entwickelt. (Bild: Trafi)

Es ist nicht so, dass Martynas Gudonavicius das Rad neu erfunden hätte. Aber er und sein Team haben den Dreh raus: Ihre intermodale Mobilitäts-App Trafi gilt fast schon als Goldstandard – obwohl sie erst im vergangenen September in Vilnius, dem Sitz des gleichnamigen Startups, ausgerollt wurde. Verfügbar ist das Programm derzeit in Estland, Lettland, Litauen, Brasilien, der Türkei und Indonesien. Per Smartphone lässt sich in Echtzeit verfolgen, wo das für den geplanten Trip am besten geeignete Verkehrsmittel gerade steckt.

Der Bus hat Verspätung? Warum also zehn Minuten im Regen stehen, lieber passgenau losstiefeln. Ein Uber-Taxi ist nur zwei Minuten entfernt unterwegs? Gleich den Fahrer anmorsen. Das Sharingauto ist gerade vergriffen, aber ein Leihrad nur ein paar Meter von der Endhaltestelle der Straßenbahn entfernt? Prima, gleich zugreifen. Egal, welcher Verkehrsträger – er scheint in der Echtzeitkarte der App mit genauer Position auf. Verwirrend viele Möglichkeiten, um ans Ziel zu gelangen?

Nein. Die App schlägt vor, wie man am schlanksten durch die Stadt kommt. Und das je nach Vorlieben, erklärt Gründer und CEO Martynas Gudonavicius. Wer seine Wege mit etwas Bewegung im Alltag verknüpfen möchte, dem werden Strecken zu Fuß vorgeschlagen, mit denen man sich etwa zweimaliges Umsteigen mit dem Bus erspart, um zur U-Bahn zu gelangen. Wer kostenbewusst ist, wird eher mit Öffis durch die Stadt gelotst, wer es lieber kommod möchte, dem wird öfter ein Sharingauto offeriert. Algorithmen erkennen die jeweiligen Vorlieben des Benutzers und sorgen für möglichst passende Vorschläge.

Mehr noch: Die App ist auch mit aktuellen Wetterdaten und -vorhersagen verknüpft, so dass Wanderwillige nicht unbedingt in den Regen gejagt werden und die voraussichtlichen Verkehrsströme berücksichtigt werden, wenn plötzlich viele vom Rad auf Öffis oder Leihautos umsteigen. Baustellen, Umleitungen und Staus werden bei der Routenplanung berücksichtigt.

Das Ticketing erfolgt nahtlos und wird zentral über die App abgewickelt. Auch die Sharingfahrzeuge werden per Smartphone entriegelt. Einfacher geht es kaum. „Unser Ziel ist, dass jeder ohne privates Autos schnell und bequem durch die Stadt kommt“, erklärt Gudonavicius. Das versprechen andere Mobilitäts-Apps auch, etwa von Moovel (Daimler), Qixxit (Deutsche Bahn) oder Door2door. Doch keine ist quer über alle Mobilitätsmöglichkeiten derart konsequent und gut verzahnt wie die aus Litauen. Trafi zeigt, wozu intermodale Dienste in der Lage sein können.

Lohn langer Arbeit: „Wir haben elf Jahre gebraucht, um unsere Algorithmen und unsere Plattform zu perfektionieren“, berichtet Gudonavicius von der Phase, die noch vor der Firmengründung lag, als er und sein Freund Jurgis Pašukonis, Mitgründer und CTO, zunächst als kleine geistige Fingerübung entsprechende Algorithmen geschrieben haben.

Das Potenzial der Lösung, deren Algorithmen auch von Apple und Google genutzt werden, ist gewaltig. Der Nutzer spürt sofort, dass er äußerst geschmeidig, passgenau und ohne Warterei durch die City kommt, sich dabei noch nicht mal um die Bezahlung diverser Verkehrsmittel Gedanken machen muss, weil diese automatisiert abläuft. Gerade beim Ticketing hapert es hierzulande, weil jeder Anbieter sein eigenes Ding machen möchte.

Eigentlich wollte Gudonavicius Trafi lieber heute als morgen in Berlin anbieten, Tests laufen. Doch allein die städtischen Verkehrsbetriebe BVG und den Verkehrsverbund VBB unter einen Hut zu bekommen, sei schwieriger als gedacht, räumt der Litauer ein. Hinzu kommt, dass sich Sharinganbieter und Verkehrsbetriebe nicht allzu gern in die Karten schauen lassen, ihre Daten lieber für sich behalten, um daraus maximalen Nutzen zu ziehen. Doch das ist ein Irrtum.  Die Masse macht’s, was manche im Big-Data-Zeitalter noch immer nicht begriffen haben.

Zwar scheinen zumindest die BVG nicht abgeneigt, sich Dritten zu öffnen. Doch vor jeder Entscheidung liegt ein langer Diskussions- und Abstimmungsprozess, verlautet aus der Verwaltungsetage. Dabei dürften Verkehrsplaner und die Stadtverwaltung eigentlich ganz versessen auf Apps wie Trafi sein: Denn die durch sie generierten Daten zu Verkehrsströmen und individueller Nutzung fließen aggregiert und anonymisiert in eine bessere Infrastrukturplanung ein. So werden klassische Staustrecken entschärft, indem dort Fahrradwege gebaut werden, oder der Takt städtischer Busse wird erhöht.

Bereits jetzt reagiert die Stadtverwaltung in Vilnius, indem sie von Fußgängern stark frequentierte Bereiche mit Zebrastreifen, breiteren Trottoirs und mehr Laternen ausstattet – das dürfte den ein oder anderen zusätzlich dazu verleiten, sich in der App die Routenvariante für Bewegungshungrige ausrechnen zu lassen.

Dank der Trafi-Daten werden derzeit auch Bushaltestellen an günstigere Orte verlegt und Fahrwege der Öffis optimiert, damit sie weniger im Stau stecken bleiben. Die Planer denken mit Blick auf den neu gewonnenen Informationsschatz bereits über „dynamische Busrouten“ nach, die sich abhängig von Tageszeit und Wochentag der jeweiligen Nachfrage anpassen.

Denkbar wäre auch, die inzwischen bedrohliche Leihfahrräder-Schwemme, die gerade deutsche Großstädte heimsucht, sinnvoll zu kanalisieren. Aber das eine Problem bleibt: Was nutzen eine gut gestrickte App und feingranulare Daten, wenn sich Mobilitätsanbieter nicht anderen öffnen und sich in bester Wagenburgmentalität hinter ihren geschlossenen Plattformen verbarrikadieren?

Es läuft aber nicht überall auf der Welt so zäh wie in deutschen Kommunen. Von daher ist Gudonavicius zuversichtlich, dass sich seine Company blendend entwickeln wird: „Trafi wird in fünf Jahren für die mobile Welt das sein, was heue Android oder iOS für Smartphones sind“, sagt er. Das Betriebssystem für smarten Stadtverkehr werde sich von der heutigen Plattform zu einem ganzen Mobilitätsökosystem entwickeln. Hehre Ziele. Hoffentlich spielen Stadtverwaltungen und Verkehrsbetriebe mit.

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