Innovationsschmiede SEAT:CODE: Mann am Laptop

In ihren Innovation-Labs, wie hier bei Seat:Code in Barcelona, spüren die OEMs Zukunftsthemen auf und entwickeln neue Produkte. (Bild: Seat)

Agil, jung, und weitgehend losgelöst von teils festen Strukturen großer Konzerne agieren die - zumeist nur wenige Jahre jungen - Innovationhubs der Automotive-Unternehmen. Zentrale Aufgabe sei es, neue digitale Geschäftsmodelle zu finden und zu skalieren sowie bestehende Produkte zu optimieren, sagt etwa Porsche über seine Technologie- und Digitalschmiede Porsche Digital. Im 100-prozentigen Tochterunternehmen der AG entwickeln Experten digitale Angebote und Dienstleistungen und konstruieren Industrielösungen. Im Fokus stehen, beispielhaft auch für andere Innovationsschmieden, der Ausbau bestehender und die Realisierung neuer Online-Kundenangebote sowie hochtechnologischer Lösungen im Automobilsektor.

Digitale Innovationen Made in Barcelona

Der Bedarf an diesen Angeboten scheint in den vergangenen Jahren gewachsen, denn alleine im vergangenen Sommer hat die Digitaleinheit der sportlichen Volkswagentochter zwei weitere Standorte eröffnet. So betreibt die Digital-Unit In Barcelona seit Juli gemeinsam mit der 2019 gegründeten Seat-Tochter Seat:Code die Entwicklung und Umsetzung digitaler Projekte mit Teams aus Produktmanagern, Softwareentwicklern, Technologie-Experten und UX-Designern. Barcelona ist zugleich der Hauptsitz von Seat:Code. Stefan Zerweck, COO der Porsche Digital: „Unser Ziel ist es, die Chancen der Digitalisierung für Porsche strategisch und proaktiv zu nutzen. Dafür ist der Aus- und Aufbau einer globalen Innovationsstruktur essenziell. In Barcelona haben wir nun die großartige Möglichkeit, weitere Talente für unsere Organisation zu begeistern.“ Dazu teilen sich gut 30 Mitarbeiter der Volkswagentöchter im Zentrum der katalanischen Metropole die Räumlichkeiten.

Im September schloss sich dann die Eröffnung eines Standorts im kroatischen Zagreb an, wo Porsche Digital fortan gemeinsam mit dem Tech-Experten Infinum speziell digitale Geschäftsmodelle erarbeitet. Im Rahmen eines Joint Ventures stehen vor allem der Ausbau bestehender und die Realisierung neuer Online- Kundenangebote im Vordergrund. Mit dem Standort rücken die Digitalexperten des Sportwagenherstellers eigenem Bekunden nach in ein aufstrebendes Innovationszentrum Europas, das insbesondere dank der größten Universität des Landes mit Schwerpunkten auf IT und Naturwissenschaften über vielseitige Talente aus der Technologie- und Entwicklerszene verfüge. Gemeinsam mit Porsche wolle man die digitale Landschaft künftig mitgestalten, beschreibt Tormislav Car, CEO des mehr als 250 Mitarbeiter starken Unternehmens Infinum, das Teamwork.

Neue Plattform Seat Innova für kreativen Wissensaustausch

Nach dem zweiten Seat Innovation Day meldet die spanische Volkswagen-Tochter aktuell die Gründung von Seat Innova. Mit ihr will der OEM eine Plattform schaffen, auf der sich alle Mitarbeiter, unabhängig aus welchen Bereichen sie stammen, zu innovativen Ideen austauschen können. Man wolle ein Medium schaffen, das die Belegschaft aktiv an der Zukunft des Unternehmens beteilige, sagt Xavier Ros, Vorstand für Personal und Organisation bei Seat. So sollen Ideen und Projekte im Zusammenhang mit neuen Mobilitätslösungen, der Industry 4.0 und neuen Geschäftsmodellen entwickelt werden.

Aufbauend auf den Initiativen, die auf dem Innovation Day vorstellt wurden, fand in diesem Jahr auch das erste Pitch-Event statt. Unter den vorgestellten Projekten finden sich beispielsweise Seat MÓ+, ein multimodaler B2B-Mobilitätsdienst, The Tribe by Cupra, eine digitale Community, Conti-GO, ein Leihservice für KFZ-Zubehör, und Seat E-Kids, ein Mobilitätsdienst für Kinder. Im Rahmen der Vorstellung der Plattform hielt der Bioingenieur David Aguilar, auch bekannt als „Hand Solo“, einen Gastvortrag. Aguilar entwicklelte schon im Alter von neun Jahren die erste Prothese für seinen rechten Arm, hält einen Guinness-Weltrekord und studiert Bioingenieurwesen mit dem Ziel, Prothesen weiterzuentwickeln.

Kunde mit langfristiger Geschäftsbeziehung

Bei BMW in München setzt man in der sogenannten Startup Garage zukunftsorientierte Digitalisierungsprojekte in Tech-Offices um. Hierbei verfolgen die Bayern anstelle eines Venture-Capital-Ansatzes ein sogenanntes Venture-Client-Modell; der OEM wird hier zum Kunden junger Unternehmen, noch bevor ein marktreifes Produkt parat steht. So sichert sich der Hersteller frühen Zugang zu Innovationen und kann individuelle Anpassungen vornehmen. Bei der ersten Zusammenarbeit fordert der OEM von den Startups weder Exklusivität noch setzt er IP-Restriktionen durch. „Wir stehen als Startup Garage für einen offenen Austausch“, sagt Bernhard Schambeck, Leiter der BMW Startup Garage. Das Programm unterstützt die Startups entlang der vier Säulen „Build“, „Sell“, „Learn“ und „Network“, die auf den Aufbau langfristiger Geschäftsbeziehungen einzahlen.

Der Fokus liegt auch hier wie bei den meisten anderen OEMs auf den eigen definierten Mega-Entwicklungsthemen wie dem automatisierten Fahren, dem Connected Car, der Elektrifizierung sowie den Services rund um neue Mobilität und Finanzen. Doch auch Technologien aus Produktion und Logistik wie beispielsweise Robotik, 3D-Druck, künstliche Intelligenz, Big Data, Smart Shopfloor und Mobile Devices landen im Themenpool der Startup Garage.

Blick in BMWs Startup Garage
Die BMW Startup Garage unterstützt die Startups entlang der vier Säulen „Build“, „Sell“, „Learn“ und „Network“. (Bild: BMW)

Vergangenen November verkündete BMW die Gründung des Unternehmens Idealworks GmbH, die Roboter und Steuerungssoftware für Logistiklösungen entwickeln und vertreiben soll. Mit Idealworks betrete man völlig neues Terrain, schildert CTO Jimmy Nassif. „Bisher entwickelten wir aus dem Blickwinkel der Automobilproduktion und seiner Logistik.“ Nun ändere sich die eigene Perspektive. „Wir werden zum Anbieter von Logistikrobotik über die Automobilbranche hinaus. Für die kommenden Monate haben wir einige Neuerungen in Vorbereitung“, so Nassif. Zum Portfolio zählt unter anderem der Smart Transport Robot STR, der 2015 in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer Institut entstand und der BMW zufolge große Resonanz und Nachfrage innerhalb wie außerhalb der BMW Group erfahre.

Daimlers Ideenschmiede wird zur offenen Innovationsplattform

Auf eine recht lange Tradition kann das Daimler Lab1886 blicken. Im Sommer 2017 wurde aus der bereits damals schon zehn Jahre bestehenden Innovationsabteilung Business Innovation der Inkubator Lab1886, aus dem heraus beispielsweise der Carsharing-Dienst Car2go wie auch die Customer-App Mercedes me hervorgingen. Mit neuen Infrastrukturen und vergleichbaren Arbeitsbedingungen wie in einem Startup setzte Daimler beim Lab1886 gezielt auf Schwarmintelligenz, um Ideen von Mitarbeitern wie auch aus eigenen Business Units auf unkonventionelle Weise auf den Weg zu bringen. Beim Stuttgarter Konzern fokussierte man von Beginn an die  „CASE“-Zukunftsfelder, also Connected, Autonomous, Shared & Services sowie Electric, quasi als Arbeitsauftrag für das Team.

Ein dreigliedriges Vorgehen stand vom Start weg im Lastenheft des Innovation-Hubs: In der ersten Phase reichen Daimler-Mitarbeiter ihre Ideen ein und über Instrumente der Start-up-Welt, Crowd Voting, Funding und Pitch im Haifischbecken (Shark Tank) erfolgt eine Auswahl für die nächste Phase. In der zweiten Inkubationsphase werden die vom Shark Tank ausgewählten Projekte pilotiert und zur Marktreife weiterentwickelt. Haben eine Idee oder ein Produkt Bestand und Potenzial für ein künftiges Geschäftsmodell, erfolgt der Roll‑out. Der Prozess schließt mit der Überführung in die Daimler-Organisation oder einer Ausgründung ab.

Im Dezember 2020 meldete Daimler nun den Neustart der Ideenschmiede unter dem Namen 1886Ventures. Dahinter steht die Übernahme der Hauptbestandteile des Lab1886 durch die RB-Capital GmbH in Mehrheitsbesitz von GFT-Gründer Ulrich Dietz. Durch diesen Wandel soll das Zukunftscluster nun zu einer offenen Innovationsplattform werden. Gemeinsam mit der Leiterin Susanne Hahn will Diez Ideen dadurch schneller zur Marktreife bringen. Die Daimler AG hält als strategischer Partner eine Minderheitsbeteiligung von zehn Prozent an der 1886Ventures. Die Mehrheit von 80 Prozent übernimmt Ulrich Dietz durch seine RB-Capital GmbH. Weitere zehn Prozent hält die international agierende Software-Firma GFT Technologies SE.

Ulrich Dietz, Geschäftsführender Gesellschafter der RB-Capital GmbH.
„Ich freue mich, gemeinsam mit Daimler sowie mit GFT eine einzigartige Innovationsplattform für Zukunftstechnologien im Industriesektor zu schaffen." Ulrich Dietz, Geschäftsführender Gesellschafter der RB-Capital GmbH. (Bild: Daimler)

Nach 13 Jahren Pionierarbeit im Automobilkonzern wird uns das Know-How von Lab1886 in der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle bestens unterstützen. Gepaart mit dem Digital-Wissen von GFT und unseren Erfahrungen im Aufbau von Start-Ups bringen wir die 1886Ventures in eine hervorragende Ausgangslage“, kommentiert Diez die neuen Strukturen. Daimlers Kommunikationschef Jörg Howe erläutert die Neuaufstellung: „Im Lab1886 sind Technologien, Geschäftsmodelle und Start-ups mit großem Potenzial entstanden. Unternehmenseigene Innovationsbereiche mit dem Fokus New Business stoßen allerdings spätestens in der Phase der Kommerzialisierung häufig an die Grenzen der Umsetzung.“ Auf Nachfrage von automotiveIT, wo genau die Grenzen liegen sowie zu den Gründen der Umstrukturierung, heißt es von Seiten Daimlers, dass das Lab1886 sich in den letzten drei Jahren insbesondere auf die Professionalisierung und den Aufbau der Ideation und Inkubation fokussiert habe.

Corporate-Bedingungen nicht immer ideal

Die Erfahrung habe aber auch gezeigt, dass Start-ups unter Corporate Bedingungen häufig nicht wettbewerbsfähig seien. „Vor allem die Geschwindigkeit der Kommerzialisierungsphase interner Startups ist einer der wichtigsten Faktoren und ausbaufähig“, teilt das Unternehmen auf Nachfrage von automotiveIT mit. Um den Fokus stärker auf die Geschwindigkeit der dritten Phase der Kommerzialisierung zu legen, gehe das Innovationslab jetzt den nächsten Schritt und entwickle sich weiter zu einem offenen Inkubator.

Insgesamt habe man zehn Projekte respektive Ventures mitgenommen, betont man bei 1886Ventures. Zu diesen zählen etwa Axyard, ein System vollautomatisierter, sowie fahrerloser Lkw, die bereits heute auf Betriebsgeländen fahren dürfen. Das Startup Globe Fuel Cell System wurde Ende Dezember 2020 gegründet. Hierbei geht es um den Einsatz der Brennstoffzellentechnolgie im Intralogistikbereich, etwa bei Gabelstaplern. Die Fuel Cell-Module sind variabel und daher für unterschiedliche F-Cell-Anbieter verwendbar und über die Cloud vernetzt, um einen Status-Update in Echtzeit zu bekommen. Wie ein Pressesprecher von 1886Ventures auf die Frage nach künftigen Innovationen erläutert, arbeite man an einem sehr innovativen Ansatz um möglichst kostengünstig und effizient große Datenmengen in und aus dem Pkw oder Lkw sowie Bus zu transportieren.

Initiativen besser von den Kernaktivitäten abkoppeln

Der Startup-Gedanke großer Unternehmen, die sie in Form eigener Inkubatoren umsetzen, ist freilich den derzeit vorherrschenden großen Veränderungen in der Automotive-Branche geschuldet. Doch dabei handelt es sich jedoch oft mehr um Schein als Sein und wirkliche Neuentwicklungen werden dadurch auch eher selten angestoßen. Das zumindest sagt der Silicon-Valley-Unternehmer, Stanford-Professor und Autor Steve Blank. Innovationstreiber dienen seiner Ansicht nach oftmals nur dazu, das Unternehmen als besonders innovativ darzustellen. In Wirklichkeit hätten die Maßnahmen jedoch nur selten praktische Relevanz und würden dem Kunden gegenüber gar nicht angewendet, so der Experte im „WHU Most Awesome Founder Podcast“ der privaten Wirtschaftshochschule und Start-up-Schmiede WHU – Otto Beisheim School of Management.

Zwar hätten die Unternehmen verstanden, dass sie grundlegende technologische Umbrüche herbeiführen müssen, statt existierende Produkte und Prozesse nur moderat weiterzuentwickeln. Was sie dabei jedoch vergessen, sei, dass Startups unter völlig anderen Rahmenbedingungen arbeiten. Denn diese seien in vielerlei Hinsicht freier und könnten flexibler agieren. Im Resultat würden große Unternehmen die Startups häufig lediglich in ihren Herangehensweisen kopieren. Vieles hält Blank daher eigenen Worten zufolge gar für „Innovationstheater“. Relevant sei vielmehr, dass das Management eine klare Vision präsentieren müsse, warum es grundlegende Innovationen für sinnvoll halte. Zudem müssten die Initiativen dafür von den Kernaktivitäten des Unternehmens abgekoppelt werden, sagt Blank.

Dass die Innovation-Labs ein Trend sind, der die deutsche Industrie insbesondere aus der Tech-Kultur der USA erreicht hat, sieht Peter Fintl, Director of Technology & Innovation bei der Technologieberatung Altran. Ziel sei es, technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu begegnen und Innovationen ohne Denkverbote der traditionellen Organisation voranzutreiben. Auf die Frage von automotiveIT, ob das Schicksal von Daimler Lab1886 auch für andere Inkubatoren gelte, erläutert der Marktexperte: „Meiner Einschätzung nach haben viele Wettbewerber die enormen Kosten unterschätzt, die mit den Labs einhergehen.“ Man könne festhalten, dass die Labs alleine noch kein Allheilmittel und nicht zwangsläufig ein Garant für bahnbrechende Neuerungen seien. Gerade beim Thema Innovationen gewinne aktuell das Denken in Ökosystemen massiv an Bedeutung, so Fintl. Unternehmen schließen Partnerschaften, die vor Jahren noch niemand antizipieren konnte.

Peter Fintl von Altran
„Es ist sinnvoll, das unabhängige Schnellboot wieder in den Flottenverband zu integrieren“, sagt Peter Fintl von Altran. (Bild: Altran)

Losgelöste Einheiten nicht immer die optimale Lösung

Insofern ändert sich dem Marktkenner zufolge auch die Ausgestaltung von Tech-Labs. In Zukunft werde es daher wieder stärker darum gehen, die Organisation als Ganzes zu aktivieren und Neuerungen zu fördern. Eine losgetrennte Einheit ist Fintls Meinung nach hier nicht immer die optimale Lösung. Erfolg brauche einen Mix aus externen Ideen und gestandenen Industrieexperten für die Umsetzung. „Die Labs werden sich daher neu erfinden müssen und stärker Innovationen innerhalb der bestehenden Organisation möglich machen“, folgert der Experte.

Die Arbeit der Innovationsschmieden kann je nach Thematik durchaus unterschiedlich bewertet werden. Gerade das Themengebiet Mobilitätsdienste hält der Altran-Experte für weitgehend ausdefiniert. Die Spieler seien am Markt, nun gehe es darum, die Plattformen auszubauen. Ein weiterer Innovationsschritt wird Fintl zufolge dann kommen, wenn sich am Basisprodukt etwas ändert, etwa durch den Siegeszug des automatisierten Fahrens. Für herstellernahe Labs sei aktuell die Zeit für produktnahe Innovationen gekommen.

Kann eine breitere Positionierung der Innovation-Hubs dann ein gewinnbringender Zukunftspfad für die Unternehmen sein? Fintl antwortet darauf mit einem Bild: „In der Tat ist es sinnvoll, das unabhängige Schnellboot wieder in den Flottenverband zu integrieren“. So könne vermieden werden, dass zu fokussierte Ideen ins Leere laufen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt der Ansicht des Altran-Experten zufolge in einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Mutterorganisation in cross-funktionalen Teams. Eine breitere Ausrichtung helfe darüber hinaus, losgelöste Innovationsinseln zu vermeiden.

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