Nicolai Martin vor einem BMW

Nicolai Martin verantwortet seit letztem Jahr das Thema autonomes Fahren bei BMW – "Das System muss in jeder Extremsituation sicher reagieren." (Bild: BMW)

Still ist es in letzter Zeit um das Thema autonomes Fahren geworden. Neuer Schwung könnte vom kürzlich von der Bundesregierung verabschiedeten Gesetzentwurf kommen, der einen Rechtsrahmen für autonome Fahrzeuge auf Level 4 in bestimmten Bereichen des öffentlichen Straßenverkehrs setzen soll.

Fragt man unterdessen bei den Automobilherstellern nach, so zeigt sich, dass die Entwicklung autonomer Fahrfunktionen konträr zur gefühlten Wahrnehmung ganz und gar nicht erlahmt ist. BMW beispielsweise arbeitet seit zwei Jahren zusammen mit IT-Dienstleister DXC Technology emsig an einer eigenen Entwicklungsplattform, um die Sicherheit und Zuverlässigkeit der autonomen Systeme stetig zu verbessern. Im Interview mit automotiveIT erklärt Nicolai Martin, Bereichsleiter Automatisiertes Fahren bei BMW, welche Erfahrungen der Premium-OEM dabei bislang gemacht hat, wie mit den ungeheuren Datenmengen umzugehen ist und wann echte Selbstfahrtechnologien in einem Serien-BMW zu sehen sein werden.

Welche Erfahrungen hat BMW bei der Weiterentwicklung des autonomen Fahrens in den letzten Jahren gemacht?

Unsere datengetriebene Entwicklung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung des automatisierten Fahrens. Wir sammeln anonymisierte Fahrdaten mit den Versuchsfahrzeugen der BMW-Testflotte. Daraus erfolgt die Auswahl relevanter Fahrszenarien und Umfeldfaktoren. Mit Einverständnis der Kunden gewinnt BMW seit Dezember 2019 außerdem wertvolle Daten mit tausenden von Serienfahrzeugen. Diese Daten werden konsequent anonymisiert und dann für die Entwicklung der Systeme verarbeitet. Das Zusammenspiel von Advanced Analytics, Simulation und Machine Learning ermöglicht noch kürzere Entwicklungszyklen für die Verbesserung und Weiterentwicklung der Kundenfunktionen.

Wie werden die enormen Datenmengen, die im Testbetrieb autonomer Fahrzeuge anfallen, selektiert beziehungsweise kategorisiert?

Die kontinuierlich steigende Datenmenge erhöht die Qualität der Fahrerassistenzfunktionen durch ein ständiges Verbessern (Re-Processing) der Funktionssoftware. Mithilfe der Daten aus der Entwicklungs- und Kundenflotte sind wir in der Lage, unsere Fahrerassistenzfunktionen ständig weiterzuentwickeln. Die aufgezeichneten Fahrten aus der Realität werden einmal gespeichert und können dann immer wieder mit neuen Softwareständen virtuell durchlaufen werden. Dieses sogenannte Re-Processing erfordert eine Datenplattform mit höchsten Anforderungen in Hinblick auf performante Speicherung und Verarbeitung großer Datenmengen sowie Rechenleistung. 2019 sind zwei dieser Hochleistungs-Datenplattformen beziehungsweise Data Center in Betrieb genommen worden: die BMW Group High Performance D3 Plattformen in Unterschleißheim bei München und in Schanghai. Neben der BMW Group D3 Plattform in München, welche eine starke Netzwerkanbindung hat, setzen wir natürlich auch immer stärker auf Cloud-Architekturen. So sind wir beispielsweise schon heute in der Lage, dank unserer weltweiten Datenverarbeitung bei den Kundenflotten mit relativ geringen Datenmengen wichtige Erkenntnisse für die Weiterentwicklungen unserer Fahrerassistenzfunktionen zu erzielen. In Zukunft werden die Potenziale der zu verarbeitenden Datenmengen sicherlich noch höher sein, was uns einen weiteren Ausbau ermöglicht. Um mit dieser Menge an Rohdaten effizient zu arbeiten, werden geeignete Schnittstellen zur Suche, Organisation und Analyse entwickelt, die eine effiziente Arbeit nahe an den Daten im Data Center ermöglichen. Für die Verbindung des Data Centers mit den Hardware-Stationen am BMW Group Autonomous Driving Campus stehen Glasfaserleitungen zur Verfügung, mit einer nutzbaren Datenrate von ca. 4 Terabit/s. In unserem hochleistungsfähigen Data Center fließen Kundenflottendaten und Testflottendaten zusammen, um in Kombination ausgewertet zu werden.

Vor zwei Jahren kündigte BMW an, dass der Ende 2021 auf den Markt kommende BMW iX bereits über Level-3-Funktionalitäten verfügen soll. Nun hört man, dass es wahrscheinlich „nur“ Level 2 wird und weitergehende Funktionen eventuell über OTA-Updates eingespeist werden. Wie sieht hier Ihr Fahrplan genau aus?

Der BMW iX wird 2021 der erste BMW sein, der mit einem neuen Technologiebaukasten zum automatisierten Fahren auf den Markt kommen wird. Dieser Baukasten wird, unter anderem mittels Sensorik und Rechenleistung auf neuem Niveau, eine kontinuierliche Verbesserung und Erweiterung der Assistenzfunktionen (Level 2) und mittelfristig auch automatisiertes Fahren Level 3 ermöglichen. Wir rollen diesen Baukasten kontinuierlich weiter aus. So wird er beispielsweise auch in der nächsten Generation der BMW 7er- und BMW 5er-Baureihen eingesetzt. Unser System bietet über viele Jahre somit ein enormes Potenzial – nicht zuletzt aufgrund der stetigen Weiterentwicklung über datengetriebene Entwicklung. Wir bieten unseren Kundinnen und Kunden eine Level-3-Funktion erst dann an, wenn diese absolut sicher ist und für sie einen Mehrwert bietet. Das System muss in jeder Extremsituation sicher reagieren.

Zur Person:

Nicolai Martin stehend

Nicolai Martin ist seit August 2020 Bereichsleiter Automatisiertes Fahren bei der BMW Group. Er ist Nachfolger von Alejandro Vukotich und leitete zuvor die Entwicklung der E-Antriebe beim Münchner OEM. Der studierte Wirtschaftsingenieur ist seit 2004 für BMW tätig und durchlief seitdem verschiedene Funktionen und Bereiche im Entwicklungsressort. Im Zeitraum von 2004 bis 2012 übernahm er unter anderem die Projektleitung für Bremsregelsysteme, die Gruppenleitung für Fahrerassistenz aktive Sicherheit sowie die Gruppenleitung für Fahrdynamik und Fahrerassistenz Steuergeräte & Sensorik. Von 2012 bis 2018 war Martin als leitender Konzeptingenieur Fahrerassistenz für BMW tätig und führte Abteilungen im Bereich Entwicklung Gesamtfahrzeug.

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