interview_sajjad khan

carIT: Herr Khan, die Digitalisierung ist bei Daimler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Können Sie innovative Ideen schnell genug ins Fahrzeug bringen oder würden Sie lieber noch ein, zwei Gänge hochschalten?

Um es mit Worten aus Bob Dylans Song „The Times They Are a Changin’“ zu sagen: Wenn man zufrieden ist und aufhört zu schwimmen, sinkt man zu Boden wie ein Stein. Deshalb lautet unsere Devise: Wir können uns immer verbessern. Beispiel: Idea to Product – die Zeit, die zwischen einer Idee und dem aus ihr entwickelten Produkt vergeht, haben wir drastisch verkürzt. Im Fahrzeug selbst sehen wir nach wie vor fünf- bis sechsjährige Lebenszyklen. Aber im Softwarebereich können wir nun innerhalb von zwei oder drei Monaten Neuerungen bringen.

Um schnelle Softwareupdates zu ermöglichen, haben wir nicht nur unsere Produktions- und Entwicklungsprozesse angepasst, sondern auch einen Teil der Fahrzeuge, die bereits auf der Straße sind. Ein konkretes Beispiel ist das Infotainmentsystem MBUX, das wir Anfang des Jahres vorgestellt haben und das unsere OTA-Strategie perfekt umsetzt. Schnelligkeit muss natürlich auch im Ökosystem gedacht und gelebt werden, um regional unterschiedliche Kundenbedürfnisse abzudecken. In China kooperieren wir bei digitalen Services mit WeChat oder Alipay, in Nordamerika mit Alexa und Google Home.

Beträgt die Zeit, in der Sie Ideen in ausgereifte Produkte verwandeln, wirklich ausnahmslos zwei bis drei Monate?

Die Geschwindigkeit hängt natürlich von der Komplexität einer Idee und den gewünschten Funktionsumfängen ab. Wenn wir über definierte Interfaces arbeiten, die in unseren Plattformen bereits implementiert sind, schaffen wir Releases in sechs bis acht Wochen. Und damit meine ich echte Live-Features, keine nur minimal funktionsfähigen Testprodukte. Für das MBUX entwickeln und testen wir viele Features in der Cloud. Tatsächlich muss ich sagen, dass wir die Cloud inzwischen als universelles Steuergerät für das gesamte Fahrzeug nutzen.

Welche Roadblocks müssen Sie überwinden, um das Tempo kontinuierlich hochzuhalten, vielleicht sogar nochmals zu steigern?

Im Fokus unserer Strategie stehen immer die Mitarbeiter und ihr Knowhow. Unsere weltweiten Standorte verfügen über ausgezeichnetes Fachwissen. Unsere Aufgabe ist es nicht nur, den Aufbau dieser Expertise weiterhin zu fördern, sondern den Austausch in einem internationalen Kompetenznetzwerk zu orchestrieren. So bauen wir Geschwindigkeit und Innovationsfähigkeit auf. In Sindelfingen etwa verfügen viele Mitarbeiter über einen exzellenten Software-Background, den unsere Digital Hubs in Berlin, Seattle, Peking und Tel Aviv optimal ergänzen. Auch im Silicon Valley zeigt Mercedes-Benz mit einem Entwicklungsstandort Präsenz.

Welche Technologien werden den Weg zum digitalen Fahrzeug prägen? In welche Richtung entwickeln sich aus Ihrer Sicht die Kundenanforderungen?

Aus der Technologieperspektive gibt es mehrere Interaktionselemente, die benötigt werden – etwa Gesten-, Blick-, Sprach- oder Touchsteuerung. Diese Vielfalt ist in der Natur des Menschen verankert und orientiert sich an unseren fünf Sinnen. Mit MBUX etwa haben wir beim Thema natürliche Sprachsteuerung einen gewaltigen Sprung gemacht. In diesem Zusammenhang spielt die Cloud eine wichtigere Rolle – sowohl als Push-, aber auch als Pull-Mechanismus. Im Idealfall merkt der Fahrer gar nicht, welche Prozesse in der Cloud und welche in den Bordsystemen des Fahrzeugs ablaufen.

Stichwort Cloud: Trotz aller Diskussionen über 5G kann noch immer keine flächendeckende und ausfallsichere Verfügbarkeit des mobilen Internets sichergestellt werden. Wie gehen Sie damit um?

Wenn die Cloud nicht verfügbar ist, setzen wir auf Edge Computing – gemäß einem Ansatz, den wir C und C nennen: Cloud und Car. Wir stellen die Funktionalität für Kunden und Fahrzeug natürlich auch dann sicher, wenn keine Internetverbindung aufgebaut werden kann. Ob Sie im Schwarzwald oder auf einer Straße in Peking unterwegs sind: Dienste wie die Navigation werden Ihnen immer zur Verfügung stehen.

Die hohe Bandbreite von 5G hilft uns gar nichts, wenn sie nicht verfügbar ist. Deshalb richten wir unser Augenmerk auf die Netzabdeckung. In der Vorentwicklung beschäftigen wir uns unter anderem mit Satelliten, die die Erde in niedriger Höhe umkreisen und so die Verfügbarkeit des mobilen Internets deutlich verbessern können. An diesem Thema arbeiten übrigens zahlreiche Firmen, ein Rollout in zwei oder drei Jahren scheint möglich.

Buttons am Lenkrad, Touchscreens, natürliche Spracheingabe – die Industrie setzt bei der Bedienung auf Redundanz. Wird es künftig immer mehrere HMI-Systeme in Mercedes-Fahrzeugen geben?

Das würde ich pauschal so nicht sagen. Die Entscheidung wird immer vom jeweiligen Fahrzeug und von den Wünschen unserer Kunden abhängen. Grundsätzlich legen wir höchste Standards an und bringen neue Technologien erst ins Fahrzeug, wenn sie ausgereift sind, zuverlässig funktionieren und sich optimal bedienen lassen. Wir sind couragiert genug, auf ein neues Feature zu verzichten, wenn wir unsere hohen Ansprüche noch nicht erfüllt sehen.

Generell setzen wir aber auf eine Kombination mehrerer Bedienelemente, um die User Experience zu verbessern. Touch Controls am Lenkrad beispielsweise stellen heute ein Minimum an Ablenkung sicher. Aber sobald Autos zunehmend autonom fahren, stellt sich die Frage, ob die Vorteile des Systems nicht in den Hintergrund treten werden. Die Reise geht dann eher in die Richtung von Sprachbefehlen sowie Gesten- und Blicksteuerung, die von einer intelligenten KI im Fahrzeug verarbeitet werden.

Was ist Ihr persönlicher Favorit, wenn es um die Bedienung im Fahrzeug geht?

Schwer zu sagen, die Entscheidung ist immer abhängig von der jeweiligen Situation. Um die Funktionen  und Möglichkeiten eines Systems zu erkunden, gibt es kaum etwas Besseres als die Touchbedienung. In
stressigen Situationen, in denen die Bedienung möglichst ablenkungsfrei erfolgen muss, nutze ich gerne natürliche Sprachbefehle.

Gibt es weitere Bedienelemente, die Ihrer Meinung nach allmählich aus dem Cockpit verschwinden werden, beispielsweise der traditionelle Dreh-/Drücksteller?

Es gibt immer Elemente in einem Fahrzeug, die aktualisiert werden müssen. In der neuen A-Klasse etwa sehen wir, dass die Kombination aus Touchpad und Sprachbedienung ausgezeichnet funktioniert. Für eine intuitive Bedienung sind Dreh-/Drücksteller weniger nötig. Unsere Strategie ist es, uns so weit wie möglich natürlichen Sinnen und Interaktionsmechanismen zu nähern, um die Technologien so intelligent und intuitiv wie möglich zu machen.

Welche Technologien und HMI-Elemente werden Autos in zehn Jahren prägen?

Die Bedienung wird definitiv näher an die natürliche Interaktion des Menschen rücken. In der neuen A-Klasse etwa sieht man erste Schritte auf dem Weg dorthin. Eine deutlich wichtigere Rolle als einzelne Bedienelemente oder Sensoren wird das Thema künstliche Intelligenz spielen. Die Erkennung von Sprache ist dabei der erste Schritt. Noch wichtiger ist die korrekte Einordnung in den jeweiligen Kontext. Ein Beispiel: Statt nur die drei Wörter „Mir ist kalt“ zu erkennen, kann das Fahrzeug in Zukunft Rückschlüsse auf die Intention des Sprechers erkennen und die Heizung höher stellen.

Digitale Displays verdrängen die klassischen analogen Instrumente. Ist das lediglich eine Frage der Optik oder gibt es tatsächlich greifbare Vorteile?

Es ist eine Mischung aus beidem. Natürlich eröffnen sich ganz neue gestalterische Möglichkeiten im Fahrzeug. Mein Team arbeitet hier eng mit unserem Chefdesigner Gordon Wagener zusammen. Durch die Freiheit, die die Technologie ermöglicht, können wir Fahrzeuge gleichzeitig emotionaler und intelligenter gestalten. Darüber hinaus ist natürlich mehr Personalisierung für den Fahrer möglich, der die Displaygestaltung selbst bestimmt. Auch hier ist KI in Zukunft ein wichtiger Faktor: Sie kann dem Fahrer situationsabhängig unterschiedliche Informationen anzeigen.

Sie haben sich bei der Entwicklung von MBUX vom alleinigen Standort Stuttgart losgelöst und setzen verstärkt auf die global verteilten Digital Hubs. Was versprechen Sie sich von der Dezentralisierung?

Ein ganz pragmatischer Grund ist, dass wir an den einzelnen Standorten nicht ausreichend Fachkräfte rekrutieren können. Seattle etwa ist ein Mekka für Cloudexperten, dort sind viele entsprechende Unternehmen ansässig. Tel Aviv hingegen hat eine extrem innovative Startup-Szene, während China in Sachen digitale Ökosysteme deutlich weiter ist als Deutschland. Das zeigt sich etwa im Bereich mobiles Bezahlen. Wir suchen weltweit die besten Talente und führen sie in einem hochperformanten Netzwerk zusammen, das von Stuttgart aus gesteuert wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass unsere Entwicklung zentralisiert wäre – vielmehr kommunizieren alle Standorte auch untereinander.

Welche Rolle spielen bei der Entwicklung neuer Technologien Partnerschaften und gemeinsame Plattformen? Können Autobauer in Zeiten zunehmender Konkurrenz durch ITK-Konzerne die technologischen Herausforderungen überhaupt noch alleine lösen?

In dem technologischen Feld, in dem wir uns bewegen, besteht kein Zweifel daran, dass ein Unternehmen allein nicht schnell genug vorankommen kann. Kooperationen einzugehen ist die einzig richtige Strategie. Die Kehrseite der Medaille ist natürlich die Konkurrenz, die man an den Tisch holt. Deshalb müssen die Grenzen sehr präzise verlaufen. Bis zu welchem Punkt kollaborieren wir mit Mitbewerbern und ab welchem Punkt treten wir in Wettbewerb zu anderen Unternehmen? Wir unterstützen etwa Android Auto und CarPlay von Apple in unseren Fahrzeugen, bieten aber das bessere Navigationssystem MBUX an.

Wir möchten unseren Kunden möglichst viele Optionen offenhalten, ihnen aber gleichzeitig selbst die beste Lösung anbieten. Auf der Technologieseite des MBUX setzen wir auf die Rechenpower einer Plattform von Nvidia – die Kooperation ist sehr eng. Das ist aber kein neues Phänomen, wenn man sich die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit Partnern wie Bosch oder Continental anschaut. Dennoch: Bereiche, die einen USP unserer Produkte und Services bilden, etwa die Schnittstelle zu Kunden und die Technologieintegration, werden wir niemals aus der Hand geben.

Wird sich das Ökosystem Mercedes Me irgendwann für Drittentwickler und -produkte öffnen?

Wir sind bereits heute offen für die Produkte von Drittanbietern. Und natürlich ist es denkbar, Drittentwickler auf die Plattform zu holen, sofern die jeweiligen Apps von Mercedes geprüft und freigegeben werden. Ein ganz anderer Aspekt in dieser Diskussion ist für mich die Frage, ob Apps nicht den Höhepunkt ihres Hype Cycle bereits überschritten haben. Statt manuell eine App zu öffnen und zu bedienen, setze ich auf die intuitive Bedienung über künstliche Intelligenz, die für mich die Steuerung der Software übernimmt. Die Relevanz von Third-Party-Apps wird aus meiner Sicht tendenziell abnehmen. Spannend bleibt die Frage, wie schnell dieser Prozess ablaufen wird.

Sie haben das neue Forschungs- und Entwicklungscenter in Tel Aviv schon angesprochen. Der Schwerpunkt dort soll auf digitalen Fahrzeug- und Mobilitätsdiensten liegen. Was konkret können wir erwarten?

Die Frage nach der Mobilität der Zukunft lässt sich nicht mit einem bestimmten Service beantworten. In Europa etwa sehen wir, dass wir mit Car2go einen sehr guten Mobilitätsdienst aufgebaut haben. Wir haben aber auch gesehen, dass dieser Dienst alleine nicht für alle Kundenbedürfnisse ausreicht – deshalb haben wir zusätzlich Services wie Mytaxi und Moovel etabliert. Alle drei Angebote in Kombination mit dem eigenen Fahrzeug und Mercedes Me bilden ein Ökosystem, das bei Kunden ankommt und geschätzt wird.

Aus Tel Aviv wird kein weiterer bestimmter Dienst kommen. Dort arbeiten wir vielmehr an grundsätzlichen Technologien wie Bild­erkennung, Sensorik, Security und Datendiensten – sie liefern wichtige Bausteine, um bestehende Services  abzusichern und zu optimieren.

Bilder: Uli Regenscheit

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