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Bildschirmfoto 2016-02-23 um 11.49.04Daimler organisiert seine Produktion künftig in globalen, architekturbasierten Fertigungsverbünden. Folge: Die Hierarchien werden flacher, die Produktion flexibler. Sie rückt so nah an die Kunden wie nie zuvor.

Eine stetig wachsende Anzahl an Fahrzeugmodellen und -derivaten, hochgradig volatile Märkte, zunehmende Stückzahlen – die Automobilproduktion sieht sich großen Herausforderungen gegenüber. Und durch die Digitalisierung kommt eine weitere hinzu. Zwar sind auch die Verheißungen des Einsatzes digitaler Technologien in der Fertigung groß, Stichwort: Industrie 4.0. Sich deutlich verändernde Kundenerwartungen – etwa sehr kurze Produktzyklen, wie sie in der Unterhaltungselektronik üblich sind – setzen die Hersteller aber enorm unter Druck. Klar ist: Die automobile Produktion muss sich verändern – und das fordert durchaus prominente Opfer. „Wir haben die Werkleiterebene komplett eliminiert“, sagte Markus Schäfer, Bereichsvorstand Mercedes-Benz Cars für Produktion und Supply Chain Management, jüngst auf einer Veranstaltung. Lange Zeit galt der Werkleiter als unantastbare Institution in der Automobilwelt, nun wird die Position im Zuge neuer Organisationsstrukturen überflüssig. Daimler ist aktuell das beste Beispiel dafür, wie sich über Jahrzehnte gewachsene Strukturen im Zeitalter der vierten industriellen Revolution verändern müssen. Der OEM verabschiede sich derzeit von den klassischen, singulär agierenden Werken, sagt Schäfer im Gespräch mit automotiveIT. Stattdessen werden die Hierarchien flacher, lange Entscheidungsketten eliminiert und die Produktionsstandorte von Mercedes-Benz in vier flexiblen globalen Netzwerken organisiert. Im Mittelpunkt eines jeden Verbunds steht ein Leadwerk, das als Kompetenzzentrum für Neuanläufe, Technologie und zur Qualitätssicherung dient. Diese Produktionsnetzwerke sind architekturbasiert: So wird von Rastatt aus der fünf Standorte umfassende Verbund für die Kompaktwagen wie A- und B-Klasse auf Basis der MFA (Mercedes Front-Wheel Drive Architecture) organisiert. Das Werk Bremen fungiert als Kompetenzzentrum für die C-Klasse, Sindelfingen ist das Leadwerk für die Ober- und Luxusklasse. Beide Standorte gehören dem Verbund für die Modelle mit Heckantrieb (MRA, Mercedes Rear-Wheel Drive Architecture) an. Die Produktionsnetzwerke für die SUV- und Sportwagenarchitekturen (MHA, Mercedes High Architecture; MSA, Mercedes Sports Architecture) sowie für den Powertrain (MPA, Mercedes Powertrain Architecture) komplettieren die neue Struktur. Diese Netzwerke ermöglichen Daimler ein Höchstmaß an Flexibilität. In einem volatilen Umfeld sei dies laut Schäfer eine besonders wichtige Eigenschaft. Neue Werke lassen sich schneller hochfahren, die Produktion flexibler umstellen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist: die Standardisierung der Fabriken. Daimler schwebt gewisserma- ßen ein Idealwerk mit rund 300000 Einheiten im Jahr vor. Das erhöht zum einen die Vergleichbarkeit der Standorte, zum anderen den Wettbewerb untereinander.

bedeutet nicht zuletzt die Standardisierung der Anlagen. Für die neue Organisation in architekturbasierten Verbünden ist dies sogar unerlässlich, wie Schäfer verdeutlicht: „Eine Modulstrategie für das Produkt funktioniert nur optimal, wenn es auch eine Anlagenstrategie gibt, die dazu passt.“ Daher wird es künftig auch ein Modulkonzept für die Anlagen geben. Vorbei die Zeit, in der Werkleiter verschiedenste Maschinen und Roboter nach eigenem Gusto auswählten. Die zur Verfügung stehenden Anlagenvarianten werden deutlich reduziert und innerhalb der Netzwerke standardisiert. Produkte und Anlagen beeinflussen sich dabei keineswegs nur einseitig: In gleichem Maße wie Anlagen für die Produkte designt werden, müssen sich auch die Bauteile an den Maschinen orientieren, etwa bei der Frage nach eingesetzten Materialien. „Die Produktion muss mit der Produktentwicklung eng zusammenarbeiten“, fordert Schäfer. Eine solche Neuausrichtung der Fertigung ergibt allerdings nur Sinn, wenn die Werke und Anlagen innerhalb der Verbünde intelligent miteinander kommunizieren können. Dies stellt Daimler durch die weltweite Nutzung der Steuerungssoftware Integra sicher. So kann beispielsweise das Werk Rastatt als Leadwerk für die Kompaktmodelle weltweit auf die Produktionsdaten aus allen anderen Standorten des Verbundes zugreifen und – falls nötig – Anlagen und Roboter aus der Ferne neu programmieren. Ähnlich wie Premiumkonkurrent Audi arbeitet auch Daimler mit der Simulation des gesamten Fertigungsprozesses, um die Komplexität moderner Fahrzeuge beherrschen zu können. Bauraumvorgaben, Materialfluss oder die Ergonomie der Arbeitsplatzgestaltung werden so bereits vor Inbetriebnahme des Werkes virtuell abgebildet. In Zukunft soll ein sogenannter digitaler Zwilling die tatsächlichen Verhältnisse in der Fabrik in Echtzeit dokumentieren. Alles in allem will Daimler eine durchschnittliche Produktionszeit von 30 Stunden pro Fahrzeug erreichen. „Das ist ein Ziel, das wir uns setzen und an dem wir uns ständig messen“, sagt Schäfer.

Eine 360-Grad-Vernetzung bedeutet allerdings längst nicht nur den reibungslosen Informationsfluss innerhalb des globalen Produktionsnetzwerks, sondern auch zwischen den einzelnen Unternehmensbereichen bis hin zum Kunden. Markus Schäfer wird dahingehend deutlich: „Der Kollege im Vertrieb wird ohne eine flexible Produktion, die schnell auf Änderungen reagieren kann, mit dem Portal Mercedes me keinen Erfolg haben.“ Letztendlich rückt auch die Produktion selbst immer stärker zum Kunden. Denn auf der einen Seite ist die neue Flexibilität der Fertigung eine Antwort auf immer individuellere Kundenwünsche. Auf der anderen Seite bietet die konsequente Vernetzung der Produktion auch gänzlich neue Möglichkeiten, den Kunden bereits während der Herstellung seines Fahrzeugs gezielt ansprechen zu können. So kann der Käufer künftig relativ kurz vor der Produktion oder sogar während der Fertigung über sein Smartphone noch Einfluss auf das Fahrzeug nehmen. Dies könne sogar in Echtzeit geschehen, erklärt Schäfer gegenüber automotiveIT: „Ein Beispiel: Das Fahrzeug ist in der Fabrik auf dem Weg in die Lackierstraße und der Kunde wird gefragt: Soll es wirklich weiß sein? Oder der Käufer kann kurz vor der Radmontage noch die Felgenvariante aussuchen. Das ist zwar derzeit noch Vision, aber sehr weit sind wir letztlich auch nicht davon entfernt.“ Der Kunde wird somit in die Produktion seines eigenen Fahrzeugs eingebunden. Das sei vor allem eine Chance, ihn emotional aufzuladen, die Bindung zum Hersteller zu intensivieren, sagt Schäfer – in Zeiten abnehmender Markentreue ein nicht zu unterschätzender Faktor. Dass diese Möglichkeit in Zukunft auch wahrgenommen wird, steht für den Produktionschef außer Frage: „Es wird sicherlich Kunden geben, die absolut begeistert sind, wenn sie beispielsweise kurz vor der Lackierung noch ein Bild von ihrem Auto bekommen.“ Keine Frage: Die Fertigung von Automobilen steht vor grundsätzlichen Umwälzungen. Bei Daimler ist man nun bereits einen wichtigen Schritt gegangen, um die künftigen Herausforderungen zu meistern. Das übergeordnete Ziel: Flexibilität. Einer typischen Horrorvision von der Produktion der Zukunft erteilt Schäfer allerdings eine klare Abfuhr: Die Fabriken des OEM werden nicht menschenleer sein. Die nötige Flexibilität sei von Robotern allein keinesfalls zu erreichen, so der Produktionschef. Bleibt festzuhalten: Der Faktor Mensch – sei es als Kunde oder Arbeiter – wird in der modernen Automobilproduktion weiterhin eine sehr zentrale Rolle spielen.

Autor: Pascal Nagel

Illustration: Sabina Vogel

Dieser Artikel erschien erstmals in der automotiveIT 12/2015

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