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Allen Herstellern darf ein grundsätzliches Interesse daran unterstellt werden, ihre gewachsenen Ökosysteme vor Verwerfungen zu schützen. Automobile sind heute globale Produkte, mit Bauteilen, Komponenten und Systemen, die auf verschiedenen Kontinenten entwickelt und gefertigt werden. Von Partnern, die ihre Arbeitsleistung nicht mehr unabhängig einbringen können, sondern die sich mit allen Akteuren im Prozess aufs Engste verzahnen müssen. Fällt ein Spieler aus, droht allen der Stillstand. Durch diese gegenseitige Abhängigkeit entstehen fast zwangsläufig neue Formen der Zusammenarbeit: Wertschöpfungsnetzwerke, in denen moderne Informations- und Kommunikationstechnik Basis und Wegbereiter in einem ist.

für jede Form von weitgehender Kooperation zwischen einem Hersteller und einem Zulieferer“, bestätigt Stefan Tittel, Vorstandsvorsitzender der Crossgate AG in München. Sein Unternehmen hat sich auf die Business-to-Business-Integration spezialisiert und bietet die Vernetzung mit Geschäftspartnern, Kunden und Lieferanten über eine elektronische Plattform an, vergleichbar einem Infrastrukturservice wie Strom aus der Steckdose. Die Friktion, die mit der globalen Verteilung der Produktion Hand in Hand geht, könnten Hersteller und Lieferanten nur mit mehr Prozesstransparenz und Kommunikation einfangen, sagt Tittel und wiederholt ein in der Branche oft gehörtes Mantra: „Produktionsrelevante Informationen müssen schnell fließen und unmissverständlich interpretierbar sein.“ Doch die Realität sieht anders aus. Vorreiter für eine weitreichende Integration von IT-Systemen, Applikationen und Daten sind ausgerechnet die sensiblen Entwicklungsbereiche. In der Fertigung dagegen sind seit Jahren keine grundlegend neuen Strategien für einen effizienten Informationsaustausch erkennbar. Wer genauer hinschaut, erkennt, woran das liegt. Im CAx-Bereich arbeitet jeder Hersteller mit detaillierten Richtlinien: Die Entwicklungspartner erhalten verbindliche Ansagen dazu, welche Anwendungen in welcher Version und mit welchem Releasestand zum Einsatz kommen dürfen. Die entsprechenden Vorgaben reichen sogar bis auf die Betriebssystemebene der Arbeitsplatzrechner. Sicher mag sich manch mittelständischer IT-Leiter dadurch in seiner Inves-titionsfreiheit eingeschränkt fühlen. Die positive Kehrseite der Medaille aber sind einheitliche Applikationen, standardisierte Formate und die Kompatibilität auf breiter Front. Damit klappt der Austausch selbst komplexer Datenmodelle auch weitgehend problemlos. Um Zeit und Kosten zu sparen, verzichten viele OEMs inzwischen darauf, Konstruktionsdaten speziell an die Aufgaben ihrer Entwicklungspartner anzupassen. Gaben sie früher nur Ausschnitte preis, erlauben sie heute den Zugriff auf komplette digitale Fahrzeugmodelle. Das Datentransfervolumen zwischen Herstellern und Lieferanten weist ein sprunghaftes Wachstum auf. „Bis auf die Motoren liegen uns praktisch alle Bauinformationen vor“, heißt es bei einem großen Serienlieferanten. „Die für unsere Arbeit relevanten Daten müssen wir selbst extrahieren.“ Von einer solchen Informationsschwemme sind die Produktionsbereiche noch weit entfernt. Dort machen Hersteller eigentlich nur zwei Vorgaben: Sie legen die Informationsinhalte und Austauschformate fest, meistens konzentriert auf Lieferabrufe. Mit welchen technischen Hilfsmitteln Lieferanten das dann hinbekommen, bleibt ihnen selbst überlassen. Folge: Es existieren zahlreiche individuelle Lösungen und die Lieferketten sind nicht integriert. Eine echte Prozessverzahnung ist nicht in Sichtweite.

Für große Systempartner, die mehr als einen Hersteller beliefern, sind die klassischen 1:1-Verbindungen pflege- und kostenintensiv. „Unserer IT wäre schon geholfen, wenn wenigstens bei jedem OEM einheitliche Standards gelten würden“, sagt Christian Nykiel, der beim Kunststoffteilespezialisten Peguform für Geschäftsprozesse und Systeme verantwortlich ist. „Allen Standardisierungsbestrebungen zum Trotz präferieren viele Werke unterschiedliche Lösungen und arbeiten mit eigenständigen Verfahren.“ Ineffizienzen und Regelbedarfe wurden in der Vergangenheit lokal abgefangen, oft sogar innerhalb einzelner Produktionslinien geklärt. Solange die Alternativen funktionieren, bleiben gesetzte IT-Regelungen außen vor. Wo kein Kläger ist, gibt es bekanntlich keinen Richter. Doch kann es in Zukunft so weitergehen? Der Verband der Automobilindustrie ist davon überzeugt, dass Hersteller am Trend festhalten, nicht markenprägende Teile fremd zu vergeben. Zulieferunternehmen, die gestärkt aus der Krise hervorgehen, können in Zukunft an die 80 Prozent eines Fahrzeugs produzieren, vielleicht sogar mehr. Damit sich das für alle Beteiligten rechnet, braucht es standardisierte IT-Prozesse und Tools, die wie im Entwicklungsbereich unternehmensübergreifend praktisch in der gesamten Branche gelten.

„In der Krise hatten die Zulieferer andere Sorgen, als beispielsweise ihren Datenaustausch via EDI auf eine zukunftsorientierte Basis zu stellen“, sagt Stefan Tittel von Crossgate. Obwohl es im Markt nicht an passenden Angeboten fehlt, standen während der letzten zwei Jahre die Innovationsräder still. Das wird sich vielleicht schon bald ändern. Schließlich haben inzwischen auch Branchengrößen wie SAP das Spielfeld für sich entdeckt: Seit Anfang des Jahres können Unternehmen Bestellungen, Bestellbestätigungen, Lieferavise, Lieferabrufe, Rechnungen und Lieferscheine direkt aus ihrem SAP-System heraus mit Geschäftspartnern elektronisch austauschen. Solchen integrierten Netzwerk-lösungen gehört laut Stefan Tittel die Zukunft: „Variable Netzwerkstrukturen werden feste 1:1-Beziehungen auflösen und ersetzen.“ Davon hat die Branche zwar schon vor zehn Jahren gesprochen. Aber nur, weil bisher nicht alle mitziehen, ist die grundlegende Erkenntnis ja mit Sicherheit nicht falsch. Evolutionäre Entwicklungen brauchen eben Zeit – auch in der Autoindustrie. Die klassische Zuliefererpyramide wackelt jedenfalls schon.

Autor: Ralf Bretting

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