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Die Produktion von Autos ist keine reine Fließbandarbeit mehr. Damit der Traum von Losgröße eins wahr werden kann, arbeitet die Industrie mit Hochdruck an flexiblen, modularen Methoden.

Kaum eine Innovation dürfte die Automobilindustrie derart revolutioniert haben wie die Einführung der Fließbandarbeit vor mehr als 100 Jahren. Das zentrale Element der zweiten industriellen Revolution ebnete den Weg zur Massenproduktion und damit letztlich zum Erfolg des Automobils. Seit Henry Fords glorreicher Idee ist viel Zeit vergangen. Die Autoproduktion am Fließband heute erinnert nur noch im Grundprinzip an die Anfänge in den Detroiter Ford-Werken. Die nächste industrielle Revolution hat das Zeug dazu, die Gewohnheiten in der Automobilproduktion nun abermals auf den Kopf zu stellen.

Aus dem niemals versiegenden Strom an Fahrzeugskeletten könnte die Digitalisierung ein hoch flexibles Inselnetzwerk machen, das den Anforderungen an hoch individualisierte Fahr- zeuge viel eher gerecht wird als starrer Akkord in der Linie. Das Gebot der Stunde lautet modulare Produktion: Ein solches neuartiges Fertigungskonzept zu entwerfen, ist beispielsweise das Ziel von Boschs Forschungsinitiative ReCaM (Rapid Recon- guration of Flexible Production Systems), die der Automobil- zulieferer bereits seit November 2015 mit Forschern aus allen Teilen der Welt verfolgt. Das Ziel: ein wandlungsfähiges Pro- duktionssystem, das Vorteile wie verkürzte Fertigungszeiten und besser individualisierbare Produkte mit sich bringt.

Der Zeitaufwand bis zur Inbetriebnahme etwa soll um 30 Prozent sinken“, sagt Projektleiter Sebastian Schröck aus der Forschung und Vorausentwicklung bei Bosch. Ein ehrgeiziges Ziel, das sich der promovierte Maschinenbauer und sein Forschungsteam mit Kollegen aus Finnland und Italien gesteckt haben. Erreicht werden soll es mit einer modularen Fertigungskette, in der jede Einheit spezifische Aufgaben übernimmt – zum Beispiel das Pressen, Bohren oder die Montage. Die entsprechenden Module verfügen neben allen erforderlichen Werkzeugen auch über die Fähigkeit, sich selbst zu konfigurieren und alle Fertigungsabläufe mit den Nachbarmodulen abzustimmen. Für einen solchen individualisierten Produktionsablauf setzt das ReCaM-Team auf den Lösungsansatz „Plug and Produce“. Das Prinzip ähnelt dem von Computern, die durch Plug-and-Play-Anwendungen selbstständig Tastaturen oder Drucker erkennen. Bei einer Produktionsumstellung sollen neue Module einfach hinzugefügt oder nicht benötigte entfernt werden können. Ein solcher Ansatz verspricht den Traum von Losgröße eins, also der massenhaften Produktion von Einzelstücken, Realität werden zu lassen.

Auch Autohersteller versuchen sich an dieser Aufgabe, vor allem im Premiumsegment. „Jeder Audi soll individuell sein wie ein Maßanzug“, forderte zum Beispiel Audi-Produktionsvorstand Hubert Waltl im Rahmen des TechDay Smart Factory 2016. Um das zu realisieren, suchen die Ingolstädter Rat bei Softwarestartups wie Arculus. An den Standorten Györ und Ingolstadt erprobt das Jungunternehmen um Geschäftsführer Fabian Rusitschka mit Audi modulare Produktionsmethoden. „Wir wollen mit unserem Ansatz eine höhere Wirtschaftlichkeit in die Fertigung bringen, um den Anforderungen einer massiv gestiegenen Produktvielfalt gerecht zu werden“, erklärt Rusitschka. Heißt konkret: Fahrzeuge in der Produktion durchlaufen nur diejenigen Stationen, die für die jeweilige Variante notwendig sind. Das modulare Produktionssystem, für das Arculus die Software konzipiert, betrachtet den Bauzustand des Produktes und seine Position im Produktionsablauf, um die gegebene Auslastung festzustellen. „Auf dieser Grundlage erkennt das System ganz genau, welche Station als Nächstes die richtige ist“, erläutert Arculus-Gründer Rusitschka. Einzelne Produktionsstationen sind somit nicht an einen gemeinsamen Takt gebunden, sondern erhalten genau die Zeit, die notwendig ist, um einzelne Arbeitsschritte fertigzustellen.

Der Weg zwischen den einzelnen Stationen wird von fahrerlosen Transportsystemen (FTS) gemeistert. Sie bewegen sich mit Hilfe von Laserscannern durch die Werkshallen und befördern das Fahrzeug zum nächsten Produktionspunkt. Die FTS sind autonom unterwegs, können Hindernissen ausweichen und Bauteile aufnehmen. Werksmitarbeiter können mit den Transportfahrzeugen über eine Fußtaste, ein Touchpad oder Sprachausgabe interagieren. Das Team um Arculus kümmert sich um die Integration in das Gesamtsystem. „Die Einheiten sind wie ferngesteuerte Autos, die vom übergeordneten ERP-System mit exakten Routen versorgt werden“, sagt Fabian Rusitschka. Damit sei sichergestellt, dass es zu keinen Verkehrsknotenpunkten komme, da das Gesamtsystem die Positionen aller Elemente kenne und in Echtzeit alle notwendigen Entscheidungen treffen könne, erklärt Rusitschka. Sollten solche Konzepte für eine exible Produktion erst einmal den Prototypstatus ablegen, könnte das Ende der traditionellen Fließbandarbeit schnell nahen. Noch sind lineare Fertigungsketten vor allem für Großserien und Volumenmodelle das erste Mittel der Wahl. Doch steigt die technologische Komplexität von Fahrzeugen weiterhin so schnell wie zuletzt und differenzieren sich die Wünsche von Kunden weiter aus, lässt sich mit Akkord an der Kette kein Stich mehr machen.

Autor: Yannick Polchow

Foto: Bosch

Illustration: Sabina Vogel

Dieser Artikel erschien erstmals in der automotiveIT 01/02 2017

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