Mann schaut durch VR-Brille

Die Annahme ist eher konservativ, doch sie spricht Bände: Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit fallen deutschlandweit innerhalb der nächsten fünf Jahre durch die Digitalisierung 1,5 Millionen Jobs weg. Gleichzeitig sollen ebenso viele neu entstehen, nur an anderer Stelle. Dort wo die Digitalisierung Geschäftsmodelle umkrempelt, sind neue Kompetenzen gefordert. Dieser Trend spiegelt sich vor allem in der Autobranche wider. Das zeigten zuletzt die angekündigten Entlassungswellen, die jedoch teilweise – wie bei Audi – von der frohen Botschaft von Neueinstellungen begleitet wurden:

Bis 2025 wollen die Ingolstädter 9500 Stellen an deutschen Standorten streichen, während zugleich in den Bereichen Elektromobilität und Digitalisierung 2000 Jobs geschaffen werden sollen. Allein in den vergangenen fünf Jahren haben sich Arbeitskräftebedarfe und individuelle Qualifikationsanforderungen dramatisch gewandelt. „Aus Personalsicht werden heute mehr denn je software- und weniger hardwareorientierte Profile gesucht“, sagt Joachim Deinlein, Automotive-Experte und Partner bei Oliver Wyman in München. „Datengetriebene Businessmodelle beziehungsweise Optimierungen spielen eine zunehmend größere Rolle.“ Dazu kämen zahlreiche neue Technologiefelder.

Neue Digital-Experten braucht das Land

Kurzum: Es braucht mehr Datenspezialisten, Software­ingenieure und E-Mobilitätsexperten. BMW stellt bereits ähnlich viele ITler wie Maschinenbauingenieure ein und ist damit nicht allein. Doch welche Profile werden künftig gesucht? „Mit zunehmender Digitalisierung sind neben Data Scientists auch vermehrt Tech-Developer und IT-Architekten gefragt, um digitale und technologische Aufgabenbereiche abzudecken“, ist Deinlein überzeugt. „Richtung Kunde sind zahlreiche neue Profile rund um Customer Experience und Mobility entstanden.“

Der Wandel lässt sich mit den üblichen Buzzwords von Berufsbezeichnungen beschreiben, die sich in Stellenanzeigen finden: Spezialisten für KI und Machine Learning, Big-Data-Experten, Prozessautomatisierer, Robotikingenieure, Blockchain-Spezialisten, User-Experience-Designer … „Jobs aus der alten Welt finden sich eher selten“, beobachtet Benedikt Maier vom Institut für Automobilwirtschaft. „Es dominieren klar Profile, die Digitalkompetenz erfordern.“

Oft genug werden Leute gesucht, die es inhouse nicht gibt. Dann heißt es qualifizieren oder woanders wildern gehen. „Die Arbeitsmarktgrenzen sind durchlässig geworden. Automotive-Unternehmen rekrutieren in vielen anderen Branchen“, weiß Maier. Und in exotisch anmutenden Fachgebieten – etwa bei Geisteswissenschaftlern, die keinen Bogen um die Informatik machen und sich mit der Mensch-Maschine-Schnittstelle beschäftigt haben.

Denn „Interaction Designer“, also Gestalter für Mensch-Maschine-Interaktion, haben Konjunktur. Fahrerassistenzsysteme, das Infotainment, überhaupt die gesamte Bedienung, müssen in ihrer Komplexität beherrschbar bleiben – das ist der Job von Interaction Designern. Die oft genug Quereinsteiger sind oder Absolventen der noch recht jungen Studiengänge, die auch unter den Namen Human Factors, Mensch-Maschine-Interaktion, User-Experience-Design firmieren.

Auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind Kenntnisse in diversen Interaktionstechnologien wie VR/AR (Virtual/Augmented Reality), Gesten- und Sprachsteuerung, Fähigkeiten im Usability Engineering sowie analytisches und konzeptionelles Denken. Ein Muss sind ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten, denn bevor das Fahrzeug mit seinem Lenker spricht, gilt es erstmal, eine Wellenlänge mit technikverliebten Entwicklern zu finden.

Data-First-Strategie

Nerdiges Verhalten ist auch bei einer weiteren, ebenfalls gesuchten Berufsgruppe sowie ihren Derivaten wenig vorteilhaft: Data Scientists. „Sie müssen Fähigkeiten mitbringen, um die Data-First-Strategie von Unternehmen nach vorn bringen zu können“, sagt Florian Baumann, CTO Automotive & AI bei Dell Technologies. Das ist mitunter mit viel Überzeugungsarbeit verbunden.

Data Scientists oder Big Data Engineers werden mittlerweile für alle Unternehmensbereiche gesucht, egal ob in Entwicklung, Einkauf, Marketing, Logistik, Produktion, Sales, Aftersales oder Retail. „Immer gilt es, aus großen Datenmengen Charakteristiken abzuleiten“, sagt Baumann. Wobei sich auch typische Entwicklungsingenieure immer stärker auf das Datenschürfen verstehen müssen. „Um die Anwendungsentwickler mit der Software und IT-Infrastruktur und den strengen Qualitätsprozessen in der Automobilbranche zu vereinen, werden überdies DevOps-Ingenieure benötigt“, markiert Florian Baumann einen weiteren Trend.

Generell sollten automobile Datenexperten neben ihrer IT-Expertise ein Grundverständnis für Mathematik, Physik und Neurowissenschaft mitbringen sowie über einen soliden methodischen Hintergrund verfügen, der Statistik und Informatik mit Fokus Machine Learning abdeckt.

Der Dell-Experte verweist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren zukunftsträchtigen Job: Cloudarchitekt. „Automotive-Unternehmen werden digitalisiert, Daten werden überall auf der Welt gesammelt und verwaltet. In der eigenen IT-In­fra­struktur und auch in der öffentlichen Cloud“, so Baumann. „Neben den typischen IT-Administratoren, die sich um das Aufsetzen, die Pflege und die Wartung der eigenen Infrastruktur kümmern, werden zukünftig verstärkt Cloudarchitekten benötigt.“ Das sind Ingenieure, die cloud-native Entwicklungsumgebungen designen und betreuen können. „Das Ecosystem von Startups, Firmen und Open-Source-Initiativen in diesem Bereich ist jetzt schon immens. Diese Ingenieure zählen heute schon zu einer der gefragtesten Berufsgruppen“, so Florian Baumann.

Auch im Verkaufsraum hinterlässt die Digitalisierung Spuren. „Gut 70 Prozent der Kunden kehren nach der Auslieferung mit Fragen rund um Connectivity und Infotainment ins Autohaus zurück“, berichtet Benedikt Maier. Viele Funktionen sind nicht ohne Weiteres verständlich. Um klassische Verkäufer zu entlasten und fachlich kompetent zu beraten, etabliert sich daher ein neuer Job: der Product Genius. Vor einigen Jahren kopierte BMW diesen Service von Apple, andere Hersteller folgten dem Beispiel. Das „Produktgenie“ nutze innovative Visualisierungstools wie VR, erklärt Maier, und „soll Kunden keine Fahrzeuge andrehen, sondern sie beraten“ – und zwar vor und nach dem Kauf.

Bild: iStock/amesy, Illustration: Andreas Croonenbroeck

Autor: Chris Löwer

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