Stefan Bratzel beim Mobility Circle 2020

CAM-Direktor Stefan Bratzel führt gemeinsam mit Pascal Nagel, dem stellvertretenden Chefredakteur von carIT, durch den virtuellen Mobility Circle 2020.

Peter Mertens – Automotive Industry Veteran

Nach einer Begrüßung durch CAM-Direktor Stefan Bratzel und den stellvertretenden carIT-Chefredakteur Pascal Nagel begrüßen die beiden Gastgeber den ehemaligen Audi-Entwicklungschefs Peter Mertens auf der virtuellen Bühne in München. Im Zwiegespräch mit den beiden Moderatoren analysiert der Industrieveteran die aktuelle Lage in der Autobranche. „Es gibt eine Reihe an Dingen, die wir falsch eingeschätzt haben“, erklärt Mertens. Dazu gehöre unter anderem das zu lange Festhalten am Verbrennungsmotor und das späte Umschwenken der Branche auf den Aufbau von Elektro-Kompetenzen. „Wir hätten uns früher auf eine Disruption einstellen können und sollen“, so Mertens. Unter anderem habe man verschiedene Facetten rund um die Lithium-Ionen-Technologie vernachlässigt. Etwa im Bereich der Batteriesteuerung habe Tesla einen Vorsprung von mehreren Jahren.

Hinsichtlich der aktuellen Anstrengungen der Autohersteller im Bereich Software äußert sich Mertens kritisch. Geschwindigkeit könne man nicht in großen, hierarchischen Strukturen entwickeln, hierzu bräuchte es kleine, autarke und agile Organisationsformen. Auch hier sei Tesla der Branche voraus, da man hier eigene Strukturen aufbauen konnte, ohne Rücksicht auf bestehende Legacy-Systeme nehmen zu müssen. Die traditionellen Hersteller hätten hingegen lange auf Outsourcing gesetzt.

Jens Beier – Industry Marketing Lead – Automotive Fujitsu Marketing Central Europe, Fujitsu Technology Solutions

Fujitsu-Experte Jens Beier thematisiert in seinem Vortrag die intermodale Mobilität der Zukunft. Eine wichtige Rolle spiele dabei das Thema Quantencomputing beziehungsweise quantum-inspirierte Systeme auf Basis traditioneller Architekturen zur kombinatorischen Optimierung. Fujitsu arbeitet in diesem Bereich bereits an Projekten mit der japanischen Bahn und Post sowie mit dem Hamburger Hafen. Ziel sei es dabei immer, Abläufe auf Basis der schnelleren Rechenprozesse effizienter zu gestalten. Ein weiteres wichtiges Thema sei in diesem Zusammenhang auch der Digital Twin in Mobility-Anwendungen: „Wenn Städte in Zukunft Einfluss auf die Verkehrssteuerung nehmen wollen, müssen wir die Mobilität der Stadt als digitalen Zwilling abbilden“, erklärt Beier. Eine Herausforderung sei es dabei, dies in Realtime durchzuführen. Ein weiterer Use Case für den Digital Annealer von Fujitsu sei die Planung von Antennenstandorten im Rahmen des 5G-Netzausbaus.

Michael Lohscheller, Chief Executive Officer, Opel

Im Rahmen seiner Keynote spricht Opel-CEO Michael Lohscheller über den Transformationsprozess beim Hersteller aus Rüsselsheim, deren Schlagzahl sich aktuell rapide erhöht. Ein wichtiges Thema stelle dabei die Reduktion der CO2-Emissionen der eigenen Flotte dar. Um dieses und weitere zentrale Zukunftsthemen zu adressieren, habe Opel daher die Unternehmensstrategie PACE ins Leben gerufen, mit deren Hilfe man 2019 ein Rekordjahr absolvieren und sich im ersten Halbjahr 2020 in den schwarzen Zahlen halten konnte. Gleichzeitig habe man es geschafft, Strafzahlungen für den Flottenausstoß zu vermeiden. Das Thema Nachhaltigkeit sei jedoch nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine moralische Verpflichtung für Opel, so Lohscheller. Daher treibe man auch das Thema Elektromobilität voran: Im Jahr 2021 sollen so sechs elektrifizierte Pkw-Modelle sowie drei E-Nutzfahrzeuge auf den Markt kommen. „Wir wollen Elektromobilität in alle Fahrzeuge des Unternehmens bringen“, so Lohscheller. Bis 2024 soll es elektrifizierte Varianten aller Opel-Fahrzeuge geben.

Zudem gelte es, in Sachen Elektromobilität die gesamte Wertschöpfungskette in den eigenen Händen zu behalten. Unter anderem investiere man zu diesem Zweck gemeinsam mit dem Total-Konzern in eigene Gigafactories zur Batteriefertigung in Kaiserslautern und Frankreich. Gleichzeitig erforsche man intensiv den Bereich der Brennstoffzellen-Mobilität.

Generell stehe Opel derzeit vor zahlreichen Paradigmenwechseln und setze dabei häufiger auf den Grundsatz „Weniger ist mehr“, erklärt Lohscheller weiter. Unter anderem habe man in diesem Zusammenhang den Grundriss von Fabriken verkleinert, um die Logistik effizienter zu gestalten oder den Opel Adam gestrichen, der in Sachen Emission nicht effizient genug gewesen sei und ein zu hohes Maß an Individualisierungsoptionen geboten habe, so Lohscheller.

Michael Hafner – Leiter Automatisiertes Fahren Mercedes-Benz Cars Entwicklung, Daimler

Mobility Circle 2020

Daimler-Experte Michael Hafner stellt die Roadmap des Stuttgarter Herstellers im Bereich des autonomen Fahrens vor. Im Fokus des Vortrags stehen dabei die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie künftige Anwendungen jenseits von Level 3. Einer der Anwendungsfälle, die Hafner vorstellt, ist das gemeinsam mit Bosch ins Leben gerufene System des Automated Valet Parking, andererseits kommt Hafner auf den DrivePilot Daimlers zu sprechen, der dem Fahrer auf Autobahnen die Fahraufgabe abnehmen kann. Der Hersteller plant zudem, über Over-the-Air-Updates neue Features in die eigenen Fahrzeuge einzubinden. Das Einverständnis der Kunden vorausgesetzt, könnten zudem auf Basis von Datenauswertungen im Fahrzeug neue Funktionalitäten realisiert werden.

Um die eigenen Kompetenzen optimal zum Einsatz zu bringen, arbeite man im Bereich des autonomen Fahrens eng mit Nvidia zusammen. Als Ergebnis der Kooperation soll unter anderem 2024 eine neue Systemgeneration Einzug ins Fahrzeug halten.

Startup-Pitch powered by Cisco

Im Startup-Pitch powered by Cisco dürfen sich drei Startups für jeweils vier Minuten dem virtuellen Publikum des Mobility Circle vorstellen.

Den Anfang macht Florian Petit von Blickfeld, der die Lidar-Lösungen des Unternehmens vorstellt. Unter anderem habe man es geschafft, entsprechende Systeme rund 50mal kleiner zu gestalten als vergleichbare Systeme und mit nur einem statt mit 64 Lasern auszukommen. Trotz kleinerer Dimensionen sei das System in der Lage, Objekte bis zu 250 Meter weit verlässlich zu erkennen. Gleichzeitig sei es möglich, das Lidar von Blickfeld in der Infrastruktur zu verbauen, um das Verkehrsgeschehen von außerhalb des Fahrzeugs abzubilden.

Als zweites Startup stellt Ottopia die eigenen Lösungen im Bereich der Teleoperabilität von Fahrzeugen vor. Autonomes Fahren perfekt zu gestalten, sei eine nahezu unmögliche Aufgabe, erklärt CEO Amit Rosenzweig. Daher setzt das Startup auf Teleoperations Center, von denen aus Fahrzeuge ferngesteuert durch schwierige Situationen gesteuert werden können, die die jeweiligen Systeme an ihre Grenzen bringen.

Das Startup Spark EV Technology hingegen bietet Lösungen zur Vorhersage der Reichweite elektrischer Fahrzeuge an. Hierzu komme eine Vielzahl von Data Points aus dem Fahrzeug und seiner Umgebung zum Einsatz, erklärt Justin Ott. Mit Hilfe eines eigenen Algorithmus könne so die Zuverlässigkeit der Reichweitenanzeige deutlich verbessert werden. Gleichzeitig sei es mit der Lösung von Spark EV Technology möglich, Ladevorgänge auf Basis der jeweiligen Vorhersagen zu optimieren, erklärt CEO Justin Ott.

Als Sieger aus dem Publikumsvoting des Mobility Circle 2020 geht Blickfeld hervor. Das Startup darf sich über ein Medienpaket der automotiveIT freuen.

Michael Cole – President and CEO, Hyundai Motor Europe

Hyundais Europa-Chef Michael Cole spricht nun über die aktuelle Transformation beim südkoreanischen Hersteller in Richtung elektrischer, vernetzter Mobilität. Unter anderem setze man in diesem Zusammenhang auf die Submarke Ioniq, deren Fahrzeuge auf einer eigens entwickelten Plattform aufsetzen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden zudem Hyundais Wasserstoff-Fahrzeuge, die ebenfalls ein wichtiges Element auf dem Weg zur lokal emissionsfreien Mobilität von morgen darstellen, erklärt Cole. In diesem Zusammenhang biete man auch außerhalb der Anwendung im Antrieb verschiedene Brennstoffzellen-Systeme an, unter anderem zur mobilen Stromerzeugung in mobilen Ladegeräten für E-Fahrzeuge. „Unser Ziel ist es, bis zum Jahr 2030 rund 700.000 Brennstoffzellenstacks pro Jahr zu produzieren“, so Cole.

Das Engagement Hyundais beschränkt sich natürlich nicht nur auf alternative Formen der Energieversorgung, sondern umfasse auch den Startup-Inkubator Cradle, neue Konzepte der Vernetzung im und um das Fahrzeug oder den Bereich Urban Air Mobility.

Paneldiskussion mit Michael Hafner (Daimler) und Michael Cole (Hyundai)

In einer anschließenden Paneldiskussion sprechen nun Michael Cole und Michael Hafner über die urbane Mobilität der Zukunft. Einigkeit besteht bei beiden Sprechern über das Framework, in dem entsprechende autonome Systeme stattfinden sollen: Sowohl Cole als auch Hafner unterstreichen die Aussage, dass Lösungen nur in enger Kooperation von öffentlichen Trägern und privaten Akteuren Erfolg haben können.

Ebenfalls im Mittelpunkt des Gesprächs steht die Elektrifizierung des Antriebs und der entsprechenden Infrastruktur. Hyundai setzt in diesem Zusammenhang unter anderem auf die App Charge MyHyundai sowie die Teilhabe am Charging-Netzwerk von Ionity.

Einigkeit besteht bei beiden Sprechern auch in der Rolle, die der Endkunde bei der Entwicklung des autonomen Fahrens spielt: Sowohl Hafner und Cole betonen die Relevanz, entsprechende Funktionen sorgfältig und unter Einsatz professioneller Fahrer zu testen, bevor diese beim Kunden ankommen. Gleichzeitig müsse man aufgrund der nahezu unendlichen Mengen an möglichen Verkehrssituationen auch Potenziale aus realen Verkehrsdaten nutzen können, um Funktionen weiter zu verbessern, so Hafner. Gleichzeitig rechne man zunächst mit der Anwendung der Technologie in Mobilitätsdiensten. Mit sinkenden Preisen von Sensorik und In-Car-Systemen sei jedoch langfristig auch der private Besitz autonomer Fahrzeuge ein Fokus. Michael Cole hingegen betont, man müsse sich von den Denkweisen traditioneller Fahrzeugbauer lösen und die Denkweisen von modernen Mobilitätsanbietern adaptieren.

Oliver Luksic – Bundestagsabgeordneter, verkehrspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion

Einen politischen Blickwinkel bietet nun Oliver Luksic, der als verkehrspolitischer Sprecher die FDP-Bundestagsfraktion vertritt. Luksic spricht sich im Rahmen der Dekarbonisierung für einen technologieoffenen Ansatz innerhalb der nächsten zehn Jahre aus. „Wir brauchen einen Mix aus Batterie, Plug-in-Hybrid, modernem Verbrenner und auch der Brennstoffzelle“, so der Politiker. Die derzeitige Fixierung auf die Batterie betrachtet Luksic kritisch: „Der Staat spielt eine Rolle, indem er Ziele vorgeht, aber er sollte nicht den Weg dorthin vorgeben.“

Positiv bewertet der Politiker hingegen die aktuellen Prozesse der Gesetzgebung im Bereich des autonomen Fahrens. Mit Hilfe der Technologie sei es möglich, Verkehr besser zu steuern und so die Nachhaltigkeit und Sicherheit in der Mobilität zu erhöhen. In diesem Zusammenhang seien auch neue Regelungen hinsichtlich der Datennutzung durch verschiedene Verkehrsträger und Mobilitätsplayer nötig.

Stefan Bratzel – Gründer und Direktor, Center of Automotive Management (CAM)

Gastgeber und CAM-Direktor Stefan Bratzel stellt in seinem Vortrag die Ergebnisse des Mobility Services Report 2020 vor, den das CAM gemeinsam mit carIT und Cisco jährlich veröffentlicht. „Wir sehen, dass sich Menschen während Corona massenhaft von der Shared Mobility abgewandt haben“, fasst Bratzel die zentralen Ergebnisse der Studie zusammen. In Folge der aktuellen Pandemie seien viele Versprechen der neuen Mobilitätsdienste uneingelöst geblieben. Gleichzeitig habe die Krise den Ausleseprozess – etwa unter den Ridehailing-Anbietern – verschärft, zumal in vielen Märkten erkennbar werde, dass sich einzelne Dienste zu Oligopolen entwickeln. Den Markt für das Carsharing teilen sich derweil Autohersteller wie Daimler, BMW und Volkswagen mit klassischen Vermietern wie Avis, Sixt oder Deutsche Bahn.

Andere Services, etwa im Bereich Auto-Abo, befänden sich innerhalb des Hype Cycles in einer weitaus früheren Phase, so Bratzel. Gleiches gelte auch für den Markt für intermodale Mobilitätsdienste, die häufig nur regional unterwegs seien. Hier gelte es in Zukunft, entsprechende Dienste sinnvoll zu orchestrieren, um nicht durch neue Verbindungen und Wege mehr Verkehr hervorzubringen, so Bratzel. Diese Problematik entstehe unter anderem, wenn ein entsprechender Mobilitätsmix auf Kosten des ÖPNV oder von Fußwegen gehe.

Marcus Willand – Partner, Consulting Enablement und Strategy, MHP Management- und IT-Beratung GmbH

MHP-Experte Marcus Willand spricht nun über die Herausforderungen, vor denen Städte aktuell stehen. Zentrales Problem sei dabei der steigende Mobilitätsbedarf, der auf gleicher Fläche abgebildet werden muss. Nach wie vor finden sich im Modalsplit Deutschlands rund 75 Prozent motorisierter Individualverkehr, so Willand. Der ÖPNV kommt auf einen Anteil von 19 Prozent. Um diese Probleme zu lösen und die hohen Emissionswerte zu senken, müsse eine Mobilitätswende in Richtung intermodaler, elektrischer, vernetzter und geteilter Verkehrsträger stattfinden.

Zudem stellt Willand die zentralen Ergebnisse einer Studie der Forschungskooperation WeTalkData vor, an der MHP und die Motor Presse Stuttgart beteiligt sind. Ein Ergebnis: 79 Prozent der Deutschen stimmen zwar der Aussage zu, dass sich der Verkehr der Zukunft langfristig ändern müsse, jedoch nutzen für den eigenen Arbeitsweg nur die Wenigsten selbst einen Mix aus mehreren Verkehrsmitteln. Vier von fünf Befragten kennen zudem neue Mobilitätsdienste, genutzt werden diese jedoch nur von 16 Prozent. Eine ähnlich große Personengruppe würde kostenlose ÖPNV-Angebote begrüßen, eine Steuer zur Finanzierung von Klimaprojekten begrüßen hingegen nur 12 Prozent.

„Wir glauben, dass Nachhaltigkeit und Multimodalität zusammen gedacht werden müssen“, erklärt Willand. In der Vergangenheit habe hier allerdings der Markt versagt, inzwischen sei jedoch Besserung absehbar. Als Positivbeispiel führt der MHP-Experte etwa die Berliner Plattform „Jelbi“ an, die dem Kunden mit einer Anmeldung Zugang zu 14 verschiedenen Services bietet. Hier brauche es neutrale Instanzen, die Kunden über eine einzelne „Mobilitäts-ID“ Zugang zu möglichst vielen intermodalen Diensten bietet, um das Angebot attraktiv zu gestalten, so Willand.

Philip Reinckens – Geschäftsleiter & Prokurist Deutschland, Tier Mobility GmbH

Mobility Circle 2020

Das Thema intermodale Mobilität greift auch Philip Reinckens, Geschäftsleiter Deutschland vom E-Scooter-Sharingdienst Tier auf. Unter anderem habe man den eigenen Service so aufgebaut, dass er es in „Satellitenstädten“ ermögliche, etwa Arbeitswege teilweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit den eigenen Kleinstfahrzeugen zu absolvieren. Um diese Strategie konsequent voranzutreiben und den eigenen Platz in urbanen Mobilitäts-Ökosystemen zu zementieren, setze man zudem auf Partnerschaften mit anderen Playern. Unter anderem habe man bereits Kooperationen mit 27 Verkehrsunternehmen in acht Ländern abgeschlossen, darunter etwa die BVG, MVG oder die Rheinbahn.

Verstärkt setze man auch auf das Thema Nachhaltigkeit: Neben den elektrischen Antrieben im Fahrzeug selbst, kompensiere Tier unter anderem die eigenen Emissionen, setze auch im Service auf E-Fahrzeuge und überführe ausrangierte Scooter über einen eigenen Marktplatz in den Gebrauchtmarkt.

Kalle Greven – Leiter DB New Mobility

Kalle Greven, der als Leiter DB New Mobility die neuen Mobilitätsdienste der Deutschen Bahn mitverantwortet, orchestriert unter anderem Services wie Bonvoyo, Call a Bike, CleverShuttle, Flinkster, Ioki und Mobimeo. „Der Modalsplit ist die einzige Möglichkeit, die Mobilitätsströme signifikant zu verändern“, erklärt Greven. Die Mobilität der Zukunft müsse daher verstärkt auf Angebote des ÖPNV zurückgreifen. „Es geht darum, Dinge integriert zu denken“, so Greven. Ohne den ÖPNV als starkes Rückgrat sei dies nicht möglich. Ein ganzheitliches Denken erfordere jedoch einen umfassenden Zugang zu Mobilitätsangeboten für alle Menschen in Deutschland – dies dürfe ländliche Regionen ausdrücklich nicht ausschließen.

Paneldiskussion mit Olivier Reppert (Share Now), Philip Reinckens (Tier), Kalle Greven (DB New Mobility), Marcus Willand (MHP)

Im Zentrum der zweiten Paneldiskussion des Mobility Circle stehen zunächst die Folgen der Corona-Pandemie auf neue Mobilitätsanbieter. Man habe die Krise vergleichsweise gut überstanden, erklärt Philip Reinckens. Gründe hierfür seien etwa die Mitarbeiterstruktur, die dazu geführt habe, dass man Kurzarbeit geltend machen konnte, sowie das eigene System mit Wechselakkus, das die operativen Aufwände deutlich verringert habe.

Man beobachte seit längerer Zeit eine Konsolidierung, ergänzt Olivier Reppert in Bezug auf den Carsharing-Markt. Inzwischen stelle sich jedoch nicht mehr die Frage, ob Carsharing überhaupt Relevanz habe, so Reppert, vielmehr richte sich der Blick nach vorne, etwa auf autonome Fahrdienste. Der zentrale Fokus müsse darauf liegen, Dienste optimal zu verschränken, aber den Kunden dennoch Auswahlmöglichkeiten zu bieten.

„Bei neuer Mobilität geht es nicht nur darum, die Dienste einfach auf die Straße zu bringen“, warnt auch Kalle Greven. Vielmehr müsse im Fokus stehen, Dienste sinnvoll zu integrieren und bestehende Lücken zu ergänzen. Bestehende ÖPNV-Angebote durch neue Dienste zu kannibalisieren, sei wenig zielführend.

Reinhard Birke, CEO, Upstream Mobility

Einen Blick aus Sicht der Städte bietet nun Reinhard Birke, CEO von Upstream Mobility, einem Wiener IT-Dienstleister in öffentlicher Hand. Eine zentrale Rolle komme beim MaaS-Player unter anderem Open Data-Systemen zu, so Birke. Dafür habe man unter anderem den Bereich Data Science ins Leben gerufen, der mit anderen kommunalen Institutionen zusammenarbeitet. In diesem Bereich setze man unter anderem auf Analysen von Verkehrsdaten, um Verkehrsströme zu optimieren. Einen hohen Wert lege man dabei, so Birke, auf den marktwirtschaftlichen Charakter des eigenen Unternehmens.

Pia Blessing – Mobility Expert and Consultant

Die Mobilitätsexpertin Pia Blessing diskutiert in ihrem Vortrag das Titelthema des Mobility Circle 2020, nämlich die Frage, welches Maß an staatlicher Orchestrierung für die Mobilität der Zukunft nötig ist. Vor allem angesichts der kurzen Wege, die viele Mobilisten in der Regel zurücklegen, müsse man kritisch beleuchten, inwieweit es vertretbar sei, das Auto derart stark in den Mittelpunkt der Mobilität zu stellen, wie dies derzeit der Fall ist.

Vor allem innerhalb der vergangenen Jahre seien zahlreiche neue Services auf den Markt gekommen, etwa durch Mikromobilitäts-, Carsharing- oder Ridehailing-Anbieter. Dennoch seien im gleichen Zeitraum mehr Fahrzeuge zugelassen worden. Der Grund hierfür sei in der Tatsache zu suchen, dass der Mensch nicht durchgängig rational handeln würde, sondern verschiedene Biases in sich vereine, die ihn etwa in Richtung vertrauter Handlungsformen drängen. „Die Verkehrswende ist einer der größten Change-Management-Prozesse der Geschichte und soll mit Menschen gelingen, die eine Aversion gegen Veränderungen haben“, erklärt Blessing. Zusätzlich zu Pull-Maßnahmen, also dem Vorhandensein von Angeboten, brauche es inzwischen auch Push-Maßnahmen, die Menschen aktiv zur Veränderung ihres Verhaltens bewegen.

Unter anderem müsse man in der Siedlungs- und Verkehrspolitik umdenken: Unter anderem gehe es darum, Städte in der Siedlungspolitik bereits so zu gestalten, dass viele Wege des täglichen Lebens so kurz gehalten werden, dass diese auch zu Fuß absolviert werden können. Gleichzeitig müsse es gelten, Wohnen, Arbeiten und Mobilität stärker miteinander zu verschränken. Als Push-Maßnahmen könnten hierbei unter anderem eine Reduzierung von Fahrzeug-Stellplätzen in Wohnquartieren zum Einsatz kommen, die einen Ausbau und die Nutzung neuer Mobilitätsformen fördere oder die Einführung einer City-Maut für Autofahrten in die Innenstadt.

Theo Jansen – Vorsitzender der Deutschen Plattform für Mobilitätsmanagement e.V.

Den letzten Vortrag vor der abschließenden Paneldiskussion übernimmt Theo Jansen, Vorsitzender der Deutschen Plattform für Mobilitätsmanagement e.V. (Depomm). „Bei der Verkehrswende fehlt es oft an politischer Führung und Kommunikation“, kritisiert Jansen zu Beginn seiner Präsentation. „Die Kommunen – wenn sie denn wollen – haben hier enorme Einflussmöglichkeiten.“ Gleichzeitig fehle ein positives Narrativ für die Verkehrswende: Diese werde häufig als Maßnahme gegen den Individualverkehr verstanden und zu wenig als positive Chance auf neue Organisationsformen, die die Stadt sicherer und sauberer machen können. Hierfür sei ein dezidiertes Mobilitätsmanagement notwendig, das Verkehrsströme erkennen und sinnvoll steuern kann.

Unter anderem seien etwa die Parkgebühren in deutschen Städten in den vergangenen Jahren nicht in dem Maße gestiegen, wie dies beim Preis für Busfahrkarten der Fall war. Hier etwa könne die Verkehrswende ansetzen. „Push-Maßnahmen sind unbedingt erforderlich“, stimmt Theo Jansen seiner Vorrednerin Pia Blessing zu. „Die Instrumente sind bekannt, es muss nur mehr Mut aufgebracht werden“, so Jansen. Ebenso sei es nötig, verschiedene Abteilungen in Kommunen zusammenzubringen, etwa mit Hilfe von Mobilitätsmanagern, um holistische Lösungen zu schaffen.

Paneldiskussion mit Pia Blessing, Thilo Jansen und Reinhard Birke

In der abschließenden Paneldiskussion mit Pia Blessing, Thilo Jansen und Reinhard Birke herrscht weitgehend Einigkeit über die urbane Mobilität der Zukunft: Die drei Referenten sprechen sich für eine Varianz verschiedener Verkehrsträger aus, die sich gegenseitig ergänzen und für Kunden Auswahlmöglichkeiten gewährleisten.

Für entsprechende Umbauten in den Städten seien jedoch hohe Finanzierungsaufwände nötig, bringt Reinhard Birke an. Ansonsten gerate man in einen Teufelskreis, in dem eine niedrige Nutzungsbereitschaft zeitgleich mit der Ansicht potenzieller Mobilisten stattfindet, die Finanzierung des Angebots sei aufgrund der niedrigen Nutzerzahl unnötig. Zudem müsse man öffentliche Plätze „zurückerobern“, gibt Thilo Jansen zu bedenken: Der entsprechende Raum für neue Dienste sei in vielen europäischen Städten gegeben, wenn dafür Parkflächen und Fahrbahnen für den Individualverkehr reduziert würden.

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