Ein Bosch-Mitarbeiter mit einem Tablet steht in einer Produktionshalle und blickt auf die Illustration einer 3D-Grafik.

Der Digital Twin ist auf strategischer Ebene schon weit gedacht, aber der Nutzen noch nicht vollständig klar. (Bild: Bosch)

Zum Thema der Umsetzung gibt es beim Digital Twin (DT) noch viele Herausforderungen. „Eine der größten Hürden ist das gesamtheitliche, domänenübergreifende Denken, das über das klassische Systems Engineering hinausgehen muss. Dazu gehört, isolierte Domänen zu vereinen und datengetriebene Modelle durchgängig entlang des Lebenszyklus mitzudenken“, berichtet Theresa Riedelsheimer, stellvertretende Abteilungsleiterin beim Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK). Diese Erkenntnis zeichnet sich in einer kurz vor dem Abschluss stehenden Digital-Twin-Studie von Fraunhofer-IPK und Msg Systems ab, die den Reifegrad des Themas in der Industrie hinterfragt. Als besondere Herausforderung erweist sich demnach vor allem, Mehrwert gegenüber Aufwand abzuschätzen.

Zwar sei der Digital Twin auf strategischer Ebene schon weit gedacht, aber der Nutzen nicht vollständig klar, so Riedelsheimer. Kosten und Aufwand für das Sammeln der Daten und die entsprechende Infrastruktur sind aber nur durch eine nutzenzentrierte Auslegung des gesamten Digital-Twin-Systems zu ermitteln, inklusive Hard- und Software sowie Services. Die Expertin konstatiert eine Lücke zwischen Strategie und der Operationalisierung: „Der digitale Zwilling ist kein Selbstzweck. Deshalb muss aus der Nutzenrichtung gedacht werden: Welche Probleme soll die Technologie lösen?“ Gerade im Zusammenhang mit Industrie 4.0 und der Produktentwicklung lohne sich der Ansatz, ist sich Theresa Riedelsheimer sicher. Bisherige Lösungen seien jedoch sehr vereinzelt und wenig integriert, so gebe es beispielsweise Verbesserungsansätze, die nicht über die Prototypenphase hinausgehen.

Digital Twin ist ein IoT-Architekturelement

„Derzeit gibt es in der Praxis zwei Typen von Digital Twins, je nach Perspektive: Zum einen der mit Bestellung ausgelöste Prototypenzwilling des Autos, der neben der Fertigung des physischen Produkts in der Fabrik läuft, zum anderen der Instance Twin nach der Auslieferung“, meint Stefan Ried, Principal Analyst und Practice Lead bei dem Lösungsanbieter Cloudflight. In dem Moment, in dem ein Fahrzeug gefertigt wurde, würden zum Beispiel bei Tesla bestimmte Teile des Prototype Twin in den Instance Twin hinüberkopiert. Im Prototype Twin wird unter anderem festgelegt, wie schnell das Fahrzeug fährt, und anhand dessen die Steuersoftware parametrisiert. Kommuniziert der Autokäufer später per App mit dem Fahrzeug, wird auf diesen Parametern agiert: So lässt sich zum Beispiel die Beschleunigung per Softwarefeature erhöhen. Bei den deutschen OEMs sei man beim Digital Twin noch nicht so weit, stellt der Analyst fest. Im B2B-Bereich gebe es allerdings eine Initiative, um das Thema bei Lkw voranzutreiben. Gabelstaplerhersteller Linde Material Management beispielsweise liefert seit Januar eine neue Serie mit digitalem Zwilling aus, über den der gesamte Service abgewickelt wird.

Aus Rieds Sicht ist der Digital Twin vor allem ein IoT-Architekturelement, das einer Software erlaubt, mit einer physischen Komponente zu „reden“ – unabhängig davon, ob es ein Auto ist oder ein Bauteil im Produktionsprozess. Applikations- und Prozesslogiken sollten vom digitalen Zwilling getrennt bleiben. „Häufig meinen IT-Verantwortliche, dass die Daten bereits in bestehenden Systemen wie Flottenmanagement oder CAM vorhanden sind. Es gibt in der Tat viele Systeme mit gewisser Überlappung – allerdings sind diese immer aus nur einer Domäne“, erklärt Stefan Ried. Diese Systeme sollten künftig Informationen in den DT schreiben oder sich die Infos von dort holen, die sie benötigen. Der digitale Zwilling redet sozusagen als Kommunikationsschnittstelle mit allen Anwendungen, selbst wenn das Fahrzeug nicht online ist. Je kreativer und innovativer die Geschäftsmodelle sind, desto mehr lohnt sich der Digital Twin, weiß der Experte von Cloudflight.

Digital Twin beeinflusst Werkstattbesuch

Um sich auf diese neuen Businessmodelle einzustellen, ist jedoch ein massives Umdenken in den Unternehmen erforderlich. So bietet beispielsweise die Fraunhofer Academy Ausbildungsgänge für Ingenieure und ITler zum Thema Digital Twin an. Darin wird vermittelt, wie Services mitgedacht werden, welche Daten benötigt und wie diese überhaupt identifiziert werden können. Es gibt jedoch noch sehr viel Unklarheit mit Blick auf Verantwortlichkeiten: „Während die befragten IT-Spezialisten vor allem der Meinung sind, dass sich die Ingenieure umorientieren müssen, glauben diese, dass die IT die Probleme lösen muss“, stellt die Fraunhofer-Expertin fest. Auch das Thema Nachhaltigkeit sollte von Anfang an mitgedacht werden: Schließlich kann der digitale Zwilling einerseits selbst erhebliche Ressourcen verschlingen, andererseits zum Beispiel durch verbesserten Ressourcenverbrauch zu mehr Nachhaltigkeit beitragen.

Aus Sicht von Stefan Ried müssen Ingenieure nun überlegen, wie sie mit verschiedenen Zugriffslevels auf das Fahrzeug umgehen, zum Beispiel um das Auto aufzuschließen oder den Kofferraum für eine Paketlieferung des Paketboten zu öffnen: „Das waren bisher alles Punkt-zu-Punkt-Lösungen – über den Digital Twin geht es einfacher.“ Unbedingt notwendig sind grundsätzliche Überlegungen, welche Zugriffssphären es gibt: die des Herstellers selbst, des Händlers, des Zulieferers oder die des Kunden – auf der tiefsten Ebene der Steuergerätesoftware haben Änderungen schließlich sogar Einfluss auf die Betriebszulassung. Der digitale Zwilling ändert auch insgesamt den Umgang mit dem Fahrzeug: Perspektivisch können dann nicht mehr einfach in der Werkstatt Steuergeräte neu eingestellt werden – der Digital Twin muss sie dafür autorisieren. Dafür müssen auch unabhängige Werkstätten befähigt werden, denn die Kunden können ihre Servicestation frei wählen. Auch das sei eine große Herausforderung für die deutschen Autohersteller, stellt Ried fest.

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