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Mit der Digitalisierung werden neue Geschäftsmodelle möglich, Produktanbieter entwickeln sich zu Serviceanbietern: „Der digitale Zwilling spielt hierfür eine wichtige Rolle“, sagt Lydia Kaiser, Abteilungsleiterin Digital Engineering and Collaboration am Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik (IEM). „Wenn man zum Beispiel an die Scheinwerferentwicklung denkt, dann werden künftig nicht mehr die Scheinwerfer verkauft, sondern die Funktion Ausleuchten“, konstatiert Christopher Lankeit, Gruppenleiter Fahrzeugtechnik am selben Institut.

Die bisher noch recht vereinzelten Praxisprojekte zeigen, dass dieser Weg nicht einfach ist. „IoT-Produkte zu entwickeln, kann schwierig sein – vor allem, weil es zwei verschiedene Aspekte der Softwareentwicklung zusammenbringt: hardwarenahe Frontendentwickler, die Experten für Embedded und Kommunikationsprotokolle sind, und Back­endentwickler, die mit Businessapplikationen arbeiten und sich mit der Integration und Analyse der Daten befassen“, erklärt Thomas Jäckle, Lead Software Developer des Bosch IoT Things Cloud Service. Die Analogie des digitalen Zwillings könne dabei helfen, diese Gegensätze zu überwinden, und eine ganzheitliche Sicht auf ein IoT-Device ermöglichen. Bei Bosch nutzt man das Eclipse-Ditto-Modell, um digitale Zwillinge zu entwickeln. Das Framework hilft, die Verbindung zwischen den realen Dingen und ihrem digitalen Abbild herzustellen und den Status der Zwillinge zu managen – vor allem aber, um APIs für Services bereitzustellen. Das ermöglicht, die Daten der virtuellen Repräsentation mit anderen Daten zu kombinieren, beispielsweise mit Wetterdaten.

Im Produktionsumfeld ist das Thema digitaler Zwilling zumindest auf den ersten Blick vergleichsweise leicht greifbar und Teil von Industrie 4.0. Das Ziel für die Produktion ist letztlich, den gesamten Produktionsprozess virtuell abzubilden, eine automatisierte Planung und Umsteuern in Echtzeit zu erlauben. Dafür müssen die Themen Digital Factory und Digital Twin perspektivisch verschmelzen. Immer wichtiger wird der digitale Zwilling eines Produktionsprozesses auch für den Qualitätsnachweis. Zulieferer Klingelnberg aus Hückeswagen in Nordrhein-Westfalen beispielsweise setzt bei der Kegelradfertigung auf das Konzept. Die erste große Herausforderung lag darin, die Prozesskette überhaupt digital zu beschreiben und mit dem Thema Härteverzüge von Stahl umzugehen, erinnert sich Klingelnberg-CTO Hartmuth Müller.

Ausgehend von einem zunächst „dummen“ digitalen Abbild wurde der Verzahnprozess mit Hilfe einer selbstentwickelten Simulationssoftware und der Industrie-4.0-Idee eines cyber-physischen Systems so lange optimiert, bis man einen intelligenten digitalen Zwilling geschaffen hatte. Ein Assistenzsystem hilft, genau das zu fertigen, was vorher ausgelegt wurde; alle Maschinen wurden horizontal cloudbasiert vernetzt. „Einer der großen Hinderungsgründe: Es gibt wunderbare Lösungen für Einzelprobleme, aber wenig Schnittstellen“, berichtet Müller. Die Schnittstellen zu den Werkzeugen am Markt wie CAD-Systemen habe man selbst geschaffen. Einfach war das alles nicht, aber es hat sich gelohnt. Mit der perfekten Dokumentation des gesamten Prozessvorgangs könne man sich vom Wettbewerb differenzieren, erzählt Müller: „Wir liefern ein Produkt mit Geburtsurkunde – das rechnen uns unsere Kunden hoch an.“

In nahezu allen Digitalisierungsprojekten der Branche spiele der digitale Zwilling derzeit eine wichtige Rolle, sagt Udo Lange von Capgemini. „Die Herausforderung besteht beim Digital Twin eines Fahrzeugs darin, dass viele Daten zusammengeführt werden müssen, diese Daten Stand heute aber nicht im direkten Zugriff der OEMs sind.“ Der Zugriff auf die Daten der Zulieferer müsse noch geschaffen werden. Auch anders herum ist es schwierig: Wollen Zulieferer auf die Daten der von ihnen hergestellten Teile oder Systeme im Fahrzeugbetrieb zugreifen, um sie zu optimieren, sei diese Konstellation ebenfalls noch nicht abschließend geregelt. Möchte ein Lieferant digitale Services anbieten, müsse er sich entweder mit dem OEM einigen oder mit seinen Kunden direkt Vereinbarungen treffen, so Lange.

Noch gebe es keine rechtlich verbindliche Grundlage, damit der Hersteller die Daten aus einem Kundenfahrzeug verwenden kann. „Wenn viele Applikationen unabhängig voneinander Daten des gleichen Device sammeln und managen, gibt es letztendlich redundante Kommunikation, hohe Bandbreitenanforderungen und unverhältnismäßig hohe Datenmanagement- und Analysekosten“, stellt Gartner in einem Forschungspapier zum digitalen Zwilling fest. Zudem seien viele IoT-Lösungen kompliziert, weil sie Legacy-Anwendungen und -geräte umfassen, aber auch, weil sie unterschiedliche Stakeholder mit verschiedenen Prioritäten haben. „Die Frage, wem welche Daten gehören, wird zur Zukunftsfrage“, glaubt Lydia Kaiser.

Aus Sicht der Fraunhofer-Experten brauchen Unternehmen nach ersten Testprojekten eine umfassende Gesamtstrategie, die festlegt, welche Daten wo und wie entstehen, wie ihre Verwendung und Verwaltung aussehen soll und welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten. „Die größte Hürde liegt in der Vielzahl möglicher Anwendungen. Zwar treiben die Anbieter viel medienwirksame Werbung, viele Anwender aber wissen noch nicht, was das Thema für sie selbst bedeutet“, so Kaiser. Es gebe eben weder den einen Digital Twin noch die eine Software, die dieses Konzept umsetzt. Braucht es Verhaltensmodelle und eine Komplettabbildung in der Entwicklung? Wie lassen sich Daten verwenden, die im Feld entstehen? All diese Fragen müssen geklärt sein. Je nachdem, welcher Bereich das Thema vorantreibt, sei es die Produktentwicklung, IT oder Produktion, greifen unterschiedliche Lösungen. Viele KMUs stehen noch am Anfang und diskutieren jetzt erstmals über PLM-Lösungen für das Produktdatenmanagement.

Teilweise würden auch Engineeringdaten in ERP-Systemen mitverwaltet, berichtet Lydia Kaiser. Das sei jedoch nicht der richtige Ansatz für die Zukunft. „Kleine und mittlere Zulieferer müssen das Thema im Sinne des Systems Engineering ganzheitlich angehen, Anwendungsfälle mit greifbarem Nutzenpotenzial identifizieren und somit das Thema in kleine Häppchen schneiden. Das alles muss in eine Datenstrategie eingehen“, rät Kaiser. Sie meint: Perspektivisch werden sich die Zulieferer, getrieben von den OEMs, dem Thema nicht entziehen können. Doch die richtige Wahl fällt schwer. Die schnellen Veränderungen durch die Digitalisierung erfordern eigentlich kleine, schnell umsetzbare Lösungen. Ein typisches Einstiegsprojekt für ein KMU wäre die Frage, ob sich ein Prototyp einsparen lässt, wenn man auf einen Digital Twin setzt. „Man muss nicht immer die ganze Palette ausrollen, sondern erst mal den ersten Schritt identifizieren und mit diesem Baustein anfangen“, so Christopher Lankeit.

Schon die Definition, was genau eigentlich ein digitaler Zwilling ist, stellt manches Unternehmen vor Probleme: Für die einen ist das schon ein CAD-Modell, andere zählen unterschiedliche Sichten wie zum Beispiel Simulationsmodelle oder Modelle für die Produktion dazu. „Wenn man ein Spiegelbild sieht, ist es zwar wie ein Zwilling und man kann einige Sachen gut betrachten. Aber um einen gebrochenen Arm zu erkennen, braucht man ein Röntgenbild“, beschreibt Christopher Lankeit die Herausforderung, die darin besteht, viele verschiedene Sichten in einer Gesamtsicht zusammenzubringen. Als Beispiel nennt Lankeit die Steuergeräte in der Autoindustrie, für die virtuelle Abbilder mitgeliefert und zusammengeführt werden. „Da gibt es viele Fragestellungen, aber durchaus auch Lösungen und Austauschformate für die Tool-Vielfalt. Die ersten Beispiele zeigen, dass man die Herausforderungen durchaus kontrollieren kann.“

Bilder: Kuka, iStockphoto/Stefan Weichelt, Illustrationen: Tesla, Sabina Vogel

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