Die so oft in der IT, scheint auch beim SCM die 80/20-Regel zu gelten: „Die Hersteller sind zum Großteil gut aufgestellt in der Steuerung der internen Logistikabläufe. 80 Prozent der Prozesse hat man in der Regel im Griff, bei den Sonderprozessen sieht es jedoch meist lückenhaft aus“, meint Matthias Loebich, Partner und SCM-Experte beim Beratungshaus BearingPoint. „Wir sehen jedoch zunehmend einen Trend, dass Unternehmen sich nach der Optimierung der Kernprozesse den Sonderprozessen widmen.“ Doch es gibt auch weniger optimistische Einschätzungen, die einem grundsätzlichen Defizit vieler SCM-Installationen Rechnung tragen. „Die Automobilindustrie ist noch weit entfernt von einer durchgängigen Umstellung auf SCM-Standardsoftware. Das betrifft vor allem die stücklistenabhängigen Prozesse. Sie werden noch zu großen Teilen von Systemen bedient, die vor vielen Jahren für Mainframes programmiert wurden“, sagt Edgar Schaefer, Leiter Beratung, Produktions- und Logistiksysteme bei HP Enterprise Services Deutschland. Das bringe Probleme wie Medienbrüche in der Lieferkette und einen hohen Wartungs- und Anpassungsaufwand der Eigenentwicklungen mit sich. Während die OEMs noch häufig auf eigenentwickelte Altsys-teme setzen, nutzen laut dem SCM-Hersteller JDA die Zulieferer mit abnehmender Größe immer häufiger Standardsoftware. „Die heute notwendige Geschwindigkeit und Flexibilität sind mit den Eigenentwicklungen kaum zu realisieren. Die Zulieferer stehen Standardlösungen meist offener gegenüber, weil sie keine Wahl haben, wenn sie schnell mit den Veränderungen im Markt Schritt halten wollen“, sagt Klaus Wenger, Geschäftsführer JDA in Deutschland. Der SCM-Anbieter mit Sitz in Arizona hat in den letzten Jahren SCM-Spezialisten wie die Unternehmen I2 und Manugistics übernommen.
Die Schwierigkeiten, die durch den massiven wirtschaftlichen Einbruch 2009 und das starke Anziehen der Nachfrage im letzten Jahr entstanden sind, verweisen Wenger zufolge auf einen Bruch zwischen dem SCM und den Finanzsystemen: „Es wird immer entscheidender, diese Lücke durch ein integriertes Sales und Operation Management zu schließen, um rechtzeitig und flexibel auf Marktveränderungen einschwenken zu können“, meint Wenger. Keine Frage, die länderspezifische Produktion in neuen Märkten für neue Märkte, Transportkosten und CO2-Bilanz – viele neue Faktoren machen eine möglichst effiziente Planung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg immer komplizierter. Auch deshalb dürfte ein Mehr an Standards insbesondere das Leben der Zulieferer erleichtern. „Der Standardisierungsgrad von Schnittstellen und Dateninhalten muss erhöht werden. Dann können die Beteiligten der Lieferkette gegenseitig besser Nutzen aus Informationen der anderen Parteien – etwa über Pufferbestände – ziehen“, meint auch Schaefer. Das sei aber eben nicht nur eine technische Herausforderung, denn die Bedenken insbesondere auf Lieferantenseite seien hoch, dass diese Informationen bei Preisverhandlungen missbraucht werden könnten. Ein Bereich bei den OEMs, in dem es an durchgängiger Automatisierung hapert, ist die Versuchsteillogistik, die den Anlauf von neuen Produkten begleitet. Weil es sich hier nicht um eine Serienproduktion handelt, werden die einzelnen Prozesse separat gesteuert. „Oft werden die Abläufe hier noch manuell unterstützt. Es gibt zum Beispiel Optimierungspotenzial bei frühzeitigeren Verhandlungen mit Zulieferern, beim Zurückspiegeln von Qualitätsproblemen an den Zulieferer und bei der logistischen Steuerung der Teile“, konstatiert Loebich. Vor allem bei den übergreifenden Prozessen können sich viele Unternehmen steigern, denn die Kommunikation zwischen den verschiedenen Parteien hakt häufig noch. Grundsätzlich brauche es schnellere Durchlaufzeiten der Informationen durch die Lieferkette, fordert Schaefer: „Potenzial dafür gibt es in der Beseitigung der starren Prozesszyklen – wöchentlich oder täglich – sowie in der besseren Abstimmung der Prozessabläufe und Übergabepunkte zwischen OEM, Logistikdienstleistern und Lieferanten.“ Allgemein sei auch im Bereich Transportmanagement, Disposition und Behältermanagement noch ein deutlicher Spielraum für SCM-Verbesserungen, meint Matthias Loebich. Noch immer werden Behälter über zusätzliche Bestände gemanagt. „Aufgrund der vielen Standorte ist zum Beispiel das optimale Management der Behälterversorgung ein übergreifendes Thema, das Zulieferer und Hersteller in Summe betrifft“, sagt Loebich. Zunehmend häufiger sei der Ansatz zu erkennen, die Behältersteuerung effizienter zu gestalten und über Unternehmensgrenzen hinweg zu planen. Wie immer bei übergreifenden Szenarien liegen die Hürden in der Frage nach der Verantwortung – wer ist zuständig für den Prozess und für die Datenqualität? Die Zulieferer stehen hier wie üblich vor der Herausforderung, die Komplexität uneinheitlicher Herstellervorgaben zu bewältigen, bei der Peripherie und den unterschiedlichen Labels.
Fraglos sind insbesondere im JIT/JIS-Bereich beeindruckende Beispiele für den Umgang mit extrem komplexen Zusammenspielen zwischen OEM, Zulieferern und wiederum deren Zulieferern an der Tagesordnung. Doch es gibt zu denken, dass zum Beispiel ein Mini-Teilbereich im SCM, das Rampen-Management, teilweise erstaunliche Lücken aufzeigt: zwischen detailgenauer Planung einerseits und langen Wartezeiten wegen Flaschenhälsen beim Entgegennehmen der Ware auf dem Hof des Empfängers andererseits. Viele beteiligte Köche, die den Brei verderben? Ein Kommunikationsproblem? „Es gibt noch viel Verbesserungspotenzial, wenn es um einheitlich definierte Standards zwischen OEM, Zulieferern und Logistikdienstleistern geht“, bestätigt Loebich.
Autorin: Daniela Hoffmann, Foto: Volkswagen