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Aber auch das Risikomanagement wird ernster genommen. „Das Bewusstsein ist gestiegen, insbesondere was Klumpenrisiken angeht. Es gab viele Initiativen bei den OEMS, bei denen die Teilegruppen und Lieferketten im Hinblick auf Standort und Versorgungsrisiken durchpflügt wurden – immer unter der Fragestellung: Haben wir unseren Sourcing Footprint hinsichtlich Naturkatastrophen und politischen Risiken ausgewogen gestaltet?“, berichtet Haubensak. Dabei sollen alternative Lieferquellen im Ernstfall nicht aus Schubladen hervor gewühlt werden, sondern quasi auf Knopfdruck verfügbar sein. „Man beschäftigt sich immer mehr über die gesamte Kette hinweg mit Risikomanagement und macht sich mehr Gedanken um die Unterlieferanten“, bestätigt auch Stefan Brandner, Vorstand der SupplyOn AG. Man sehe, dass die großen Lieferanten Schritt für Schritt ihre Prozesse und Systeme zum SRPM (Supplier Risk and Performance Management) weiterentwickeln. „Die mittelständischen Zulieferer sind hier noch deutlich hintendran, werden von den großen Kunden aber stark mit in die Verantwortung genommen, auch die eigenen Unterlieferanten besser zu managen und ihren Kunden ein Risikomanagement aufzuzeigen: Es reicht ein Ausfall eines Tier-4-Lieferanten, um die Bänder beim Automobilhersteller stillstehen zu lassen“, führt Brandner weiter aus.

Istzustand: Viel Aufwand wurde bereits in die Themen Lieferantenbewertung und -management gesteckt. „Die Automobilhersteller haben vollgefüllte Dashboard-Blätter mit bis zu 35 Kriterien. Die Datenmenge scheint ungebrochen weiter zu wachsen: Das bedeutet für die Zulieferer wie auch für die Hersteller selbst viel Administration“, sagt Martin Haubensak. Im Supplier Management bestünden zahlreiche Brüche und viel „Gemurkse“, denn es sei schwer, die unterschiedlichen Datenquellen in einem Pool zusammenzuführen. „Die IT muss sich immer wieder sehr abmühen, hier Konsistenz zu schaffen“, so Haubensak. Mit dieser Wahrnehmung steht der Experte nicht allein. „Die IT-Systeme für Lieferantenbewertungen sind sehr heterogen und spiegeln Prozesse, die über einen langen Zeitraum gewachsen sind. In der Praxis liegen nicht selten um die 70 verschiedene Systeme oder Datenquellen unter einem Dash­board oder Cockpit“, berichtet Lindner. Meist handele es sich um Eigenentwicklungen, doch auch dort, wo auf Standardsoftware zurückgegriffen werde, unterliege das System oft einer so starken Anpassung, dass vom ursprünglichen Standard nicht mehr viel übrig bliebe, erzählt der Consultant aus der Praxis. Jeder Hersteller arbeitet mit einer Vielzahl an gro­ßen Tier-One-Lieferanten, danach wird es exponentiell. „Der Blick auf den direkt nachstehenden Lieferanten ist bei den Herstellern ausgereift, aber sobald ein OEM den Lieferanten eines Lieferanten bewerten will, fehlt es an Transparenz. Direkte Zugriffsmöglichkeiten sind nicht vorhanden“, so Lindner. Es darf gefragt werden, ob es hier im Zeitalter von Cloud, Mobile und Big Data nicht effektivere Lösungen geben könnte.

Sollzustand: Das Rad muss dabei nicht von jedem neu erfunden werden. „Viele Faktoren für das Supplier Risk Management sind nicht unternehmensabhängig. Dazu gehören Lieferantenstammdaten, Zertifikate, aber auch die Erfüllung von Compliance-Anforderungen oder Umweltrisiken am Standort des Lieferanten. Hierfür sind branchenweite Cloud-Lösungen der effizienteste Ansatz“, konstatiert Brandner. So müssen Lieferanten ihre Daten auch nur einmal zentral pflegen. „Wenn ein Lieferant bestimmte Auflagen erfüllt, gilt das übergreifend und kann für alle zugänglich in einer Plattform festgehalten werden“, so Brandner. SupplyOn hat diesen Ansatz zum Beispiel in einer Lösung für Nachhaltigkeit in der Supply Chain umgesetzt. Insbesondere Sustainability-Aspekte sind oft übergreifend zu sehen. „Beim Thema Nachhaltigkeit gibt es eine Vielzahl von Facetten, angefangen dabei, ob Arbeitsthemen vernünftig gehandhabt werden, über Compliance und Abfallentsorgung bis zum Energiemanagement“, erläutert Haubensak. „Bei den vielen Informationen, die alle Hersteller benötigen, ließe sich durch einen industrieweiten Informationsstandard viel Aufwand einsparen.“ Gerade bei nicht-individuellen Aspekten von Nachhaltigkeit und Qualität würde eine übergreifende Lösung von Dienstleistern Sinn machen, meint auch Haubensak. Es bleiben, zum Beispiel beim Risikomanagement, auch unternehmensabhängige Themen. Ein Lieferant kann für verschiedene Auftraggeber beispielsweise eine unterschiedliche Liefertreue haben, und damit wäre auch das Maßnahmenmanagement anders. Auch das individuelle Audit wird kundenspezifisch bleiben, meint Brandner. Trotzdem könnten hierfür ebenfalls zentrale Cloud-Lösungen mit einheitlicher Systembedienung und Single-Sign-on eingesetzt werden.

Cloud-Technologien könnten zur Vereinfachung beitragen. Der IT-Dienstleister NTT Data sieht beispielsweise in einer Cloud-basierten Lieferantenplattform, die das Prinzip von Social-Media-Plattformen wie Facebook auf eine B2B-Plattform überträgt, einen zukunftsfähigen Ansatz für Standards und mehr Transparenz. Grundsätzlich bringen gemeinsam genutzte Cloud-Lösungen viel positives Potenzial für die Branche. „Der wichtigste Vorteil eines Cloud-Konzeptes besteht darin, dass alle auf die gleiche Lösung zugreifen, zudem bietet sich eine bessere Möglichkeit, die kleineren Lieferanten anzubinden, die bisher noch nicht gut integriert sind“, erklärt Brandner. Alle Änderungen stünden für alle Beteiligten zugleich zur Verfügung, es müsse nicht jeder einzelne seine Systeme anpassen. „Das gilt auch für neue gesetzliche Vorgaben“, sagt Stefan Brandner und nennt Beispiele: Ein neues US-Gesetz von 2012 sieht vor, dass Konfliktmineralien, die in Ländern mit Menschenrechtsverletzungen abgebaut werden, ausgewiesen werden müssen. Jedes Unternehmen, das in die USA liefert, muss sich daran halten. Auch ein neues EU-Gesetz bringt ab Oktober 2013 Änderungsvorgaben: Ab dann ist ein Nachweis innergemeinschaftlicher Warenbewegungen (Gelangensbestätigung) nötig: Fehlt der Nachweis, muss zwingend die deutsche Umsatzsteuer ausgewiesen werden, Verstöße haben empfindliche Strafen zur Folge. Es macht Sinn, solche Aspekte gemeinsam statt alleine umzusetzen.

Doch der Schuh drückt. „Es gibt erhebliche Einsparungspotenziale. Dafür müsste jedoch ein Umdenken stattfinden, hin zu mehr gelebten Partnerschaften bei den OEMs“, meint Sebastian Lindner. Doch selbst die Experten sind noch skeptisch, ob es dafür reichen wird. „Die Unternehmen haben eine bestimmte Arbeitsweise, von der sie glauben, dass sie dadurch erfolgreich sind. Daher ist ein Standardsystem zur Abdeckung individuell unterschiedlicher Erfolgsfaktoren unwahrscheinlich“, vermutet Haubensak. „Die Bedarfsplanung bei VW ist anders als bei BMW. Mal gibt es mehr Push-, mal mehr Pull-Konzepte, auch die Stücklistenstrukturen sind sehr unterschiedlich“, meint der Zuliefermanagementexperte. Eine entscheidende Hürde liege auch darin, dass jeder Hersteller eine eigene Metrik habe, wie und mit welcher Regelmäßigkeit, in welcher Detailtiefe und mit welcher Offenheit Supplier gemessen werden, meint Sebastian Linder: „Hier ist man von Standards noch weit entfernt. Besonders die Bewertung von Lieferanten für Nicht-Produktionsmaterial bereitet den Unternehmen derzeit noch Probleme.“ Zudem dürfte der Abschied vom Vertrauten – wie immer – schwer fallen. „Das Problem liegt darin, dass es bereits etablierte Netzwerke und Kooperationen gibt, mit Prozesssynchronisation zwischen jeweils zwei Unternehmen. Wenn stärker nach weiteren Leistungsfaktoren neben Preis und Qualität geschaut würde, könnten etablierte Netzwerke, in denen viel Knowhow steckt, ausgeweitet werden“, bestätigt Lindner. Auch das Cloud Computing selbst stößt noch immer auf Gegenwind. „Es ist eher ein mentales und unternehmenskulturelles Problem. Technisch sind Cloud-Lösungen realisierbar“, erklärt der SCM-Consultant Lindner. 2002 schrieb Daniel Garretson von Forrester Research anlässlich des Misserfolgs der Supplier-Plattform Covisint: „Es gibt deutlich weniger Fähigkeit zum Kooperieren für die Automobilindustrie, als jeder gedacht hätte. Es gibt eine Menge tief verwurzelten Misstrauens, so dass es sehr schwierig ist, die einzelnen Ebenen in einem kollaborativen Prozess zusammenzubringen“. Und 2013? Die Vision, standardisiert Lieferanten zu bewerten und ein lernendes Konstrukt zu schaffen, ist technisch kein Problem mehr. Alles wartet auf die Branche.

Autorin: Daniela Hoffmann
Fotos: VW, Fotolia/Sergey Nivens, Audi, Illustration: Fotolia/DavidArts, Sabine Werner

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