Robotersteuerung via AR

Der Durchbruch von AR und VR - vor allem in der Produktion - lässt die Autoindustrie immer näher ans Metaverse heranrücken. (Bild: Hyundai)

Konstruktion und Produktion in der digitalen Parallelwelt. Avatare als Autoverkäufer. Welche Rolle wird das Metaverse für die Automobilindustrie spielen? Alles nur ein Hype? Sicher nicht. Da sind sich Hersteller, Zulieferer und Experten einig. Die digitale dreidimensionale Welt wird künftig auf die Branche disruptiv wirken.

Was naheliegend ist, denn das Auto ist das beste Beispiel dafür, was es bedeutet, in und mit dem Metaverse zu leben. „Die digitale und physische Welt verschmelzen schon heute in Fahrzeugen“, erklärt Valentin Heun, Vice President of Innovation Engineering beim US-Technologieunternehmen PTC, „Allein schon, wenn wir lenken.“ Was eben nicht mehr mechanisch, sondern digital per Kabel (Steer-by-Wire) geschieht. Zwischen dem eigentlichen Impulsgeber für die Richtungsänderung, dem Lenkrad, und den Rädern besteht keinerlei mechanische Verbindung mehr. Lenkbefehle werden elektrisch über ein Steuergerät an einen Motor übermittelt, der die Bewegungen ausführt und an die Räder weiterleitet.

Für Heun ein Sinnbild dafür, was kommt: „Reales und Digitales verschmelzen - so entsteht eine Welt, die wir bedienen können und in der wir leben.“ Ein Metaversum, in dem unter anderem weltweit verstreute Entwickler gemeinsam Autos konstruieren, als würden sie gemeinsam vor Ort im Team arbeiten. „Mit einem Desktop Computer Interface geht das nicht“, verdeutlicht der Experte. Ebenso wenig, wie ein Wartungstechniker aus der Ferne eine defekte Produktionsstraße per Desktop wieder in Schwung bringen oder eine ganze Fabrik für ein neues Automodell geplant werden könnte. Dazu braucht es schon das Eintauchen in eine realistische 3D-Welt.

Digital Twin im Fokus des Automobil Produktion Kongress

Autoproduktion im Metaverse / Digital Twin auf dem Automobil Produktion Kongress 2023

Christine Baumer, Head of Virtual Factory at BMW, diskutiert auf dem Automobil Produktion Kongress 2023 am 16. Mai in München mit Felix Reinshagen, Co-Founder and CEO at NavVis, die Möglichkeiten, die digitale Zwillinge und das Metaverse für die Autobranche eröffnen.

 

Den Fokus der Diskussion bilden die drängendsten Fragen rund um die wichtigen Zukunftstechnologien: Stehen Aufwand und Ertrag beim Digital Twin im Bereich hochkomplexer Produktionsprozesse wirklich im Einklang? Wird die Planung von neuen Automobilwerken künftig im Metaverse stattfinden? Und hat die deutsche Autoindustrie vom großen OEM bis zum kleinen Mittelständler überhaupt das nötige Digital-Knowhow, um von virtuellen Realitäten zu profitieren?

BMW nutzt Nvidia Omniverse zur Produktionsplanung

Chiphersteller Nvidia und BMW loten derweil das Machbare aus, indem sie ganze Fabriken mit Maschinen und Menschen fotorealistisch in eine virtuelle Welt übersetzen, um hier Prozesse in der Autoproduktion durchzuspielen, sodass später der Hochlauf einer echten Produktionsstraße möglichst fehlerfrei erfolgt. Es geht nicht mehr um schnöde Simulationen am Rechner, sondern um das Eintauchen der Fertigungstechniker in einen digitalen Raum, der bei BMW durch das Omniverse geschaffen wird.

Das Nvidia-Werkzeug führt Daten aus diversen Design- und Planungstools unterschiedlicher Hersteller zusammen (etwa Siemens Process Simulate, Autodesk Revit oder Bentley Systems MicroStation) und formt daraus realistische Echtzeitsimulationen in einer einzigen kollaborativen Umgebung. „Mit Omniverse erhöhen wir die Präzision, die Geschwindigkeit und somit die Effizienz unserer Planungsprozesse“, so Produktionsvorstand Milan Nedeljković über das Tool zur virtuellen, digitalen Fabrikplanung. Unter anderem soll das Omniverse ein Pfeiler bei der Planung des neuen Werks im ungarischen Debrecen werden, das 2025 den Betrieb aufnehmen wird.

Auch Audi erprobt virtuelle Montageabläufe und Logistikprozesse, bevor diese in die Tat umgesetzt werden. Während bisher etliche Stunden mit Simulationen am Computer und mit Kartonschiebereien in der Fabrikhalle verbracht worden sind, setzen die Planer nun VR-Brillen auf und tauchen in das ein, was erst in Zukunft sein wird – und dann dank der Vorarbeit ergonomisch optimiert und logistisch reibungslos funktioniert.

Ein industrielles Metaverse soll auch Renault dabei helfen, die nächste Etappe der digitalen Transformation zu erklimmen. Seinen virtuellen Raum gliedert der Konzern dabei in vier unterschiedliche Dimensionen: Massendatenerfassung, digitale Zwillinge von Prozessen, Vernetzung des Ökosystems Lieferkette sowie weitere Technologien. Um die Daten aller Fertigungsstätten zu bündeln, hat der OEM eine eigene Plattform zur Datenerfassung und -standardisierung entwickelt. Diese speist das industrielle Metaverse und liefert so die Grundlage für die Interaktion mit den Produktionsprozessen in Echtzeit. Die Lösung wird gemeinsam mit dem Partner ATOS unter dem Namen ID@Scale auch anderen industriellen Akteuren angeboten. Der Umstieg auf digitale Technologien mache sich inzwischen massiv bezahlt, so der Autobauer: Zwischen 2016 und 2022 habe man mit Hilfe von Industrie 4.0-Technologien rund 780 Millionen Euro einsparen können.

Metaverse erobert Vertrieb und Entwicklung

Bei Ford war es die Pandemie, die beschleunigt hat, dass Designer und Entwickler sogar vom heimischen Wohnzimmer aus als Avatare mit Kollegen überall in der Welt an der Form und Konstruktion neuer Modelle arbeiten lässt. Ursprünglich sollten sich die Teams über ein Virtual Design Studio punktuell auf kürzestem Wege abstimmen und nicht immer ins Flugzeug steigen. Doch das System wurde immer ausgefeilter, sodass es mittlerweile auch für weitreichende Entwicklungstätigkeiten im Homeoffice genutzt werden kann. Dabei lässt sich am Design fast so gut feilen wie physisch am Tonmodell, sodass wichtige formale Entscheidungen auch remote getroffen werden – was bis vor kurzem undenkbar erschien.

Skoda und Nissan hingegen nutzen Metaverse-Anwendungen zur besseren Kundenansprache: Mit einer eigenen Anwendung auf der Nemesis-Plattform will Skoda Informationen zur eigenen Elektromobilitätsstrategie vermitteln. Neben einem informativen Ausstellungsraum und virtuellen Probefahrten im neuen Enyaq Coupé RS iV bietet das Škodaverse zudem unterschiedliche Skins für die Avatare der Besucher sowie eine eigene NFT-Galerie. Für zusätzliche Unterhaltung sollen Veranstaltungen und digitale Konferenzen sorgen, künftig plant der OEM die eigenen Metaverse-Anwendung auch für Live-Events wie Pressetage oder Produktpräsentationen nutzen.

Nissan präsentiert sich hingegen selbst auf der dezentralisierten 3D-Plattform Decentraland. Bereits im Mai 2022 enthüllte Nissan den Sakura – ein auf den japanischen Markt ausgerichtetes, vollelektrisches Minifahrzeug – parallel zur Markteinführung in der realen Welt auch im Metaversum. Im Rahmen dieser Erfahrung konnten VR-Chat-Nutzer auf der ganzen Welt die Nissan Sakura Driving Island erkunden, wo sie das Auto virtuell Probe fahren konnten. Zu Beginn dieses Jahres startet der OEM erneut eine Kampagne im Metaverse: Der neue Ariya wird virtuell vor unterschiedlichen Hintergründen, die von lokalen Künstlern aus Großbritannien erstellt wurden, vorgestellt. Auch die BMW-Marke Mini hat den Weg ins Metaverse angetreten, um Kunden einen möglichst spielerischen Zugang zur Marke zu eröffnen.

Wann kommt das Metaverse im Auto an?

Auch wenn es das Metaverse als solches noch nicht gibt, die technischen Voraussetzungen dafür sind jetzt geschaffen worden, betont PTC-Experte Heun: Binnen Minuten lassen sich ganze Gebäude räumlich mit dem Smartphone als 3D-Scan – bekannt als Volumetric Video – erfassen. Über die hochleistungsfähige Cloud kann man via Augmented (AR) und Virtual Reality (VR) vernetzt mit vorhandenen Tools zusammenarbeiten und in Arbeitsabläufe eintauchen. „All diese Entwicklungen bilden den technologischen Durchbruch für das Metaverse“, unterstreicht er, „in dem es künftig durchaus denkbar sein wird, dass ganze Fabriken remote bedient werden.“

Auch die Analysten von GlobalData sehen riesige Chancen für die Autoindustrie im Metaversum, vor allem wenn es darum geht, virtuell zugängliche digitale 3D-Zwillinge ihrer Fabriken zu erstellen. „Auf diese Weise können die Mitarbeiter Änderungen und Anpassungen an Produktionslinien in den frühen Planungsphasen gemeinsam bewerten“, sagt Emilio Campa, Thematic Analyst bei GlobalData.

Aber auch das Infotainment könnte vor einer Disruption stehen, wenn Fahrzeuge vollautonom unterwegs sein werden: „AR wird dann zukünftige Unterhaltungserlebnisse verbessern, indem es Inhalte und Videospiele über die Außenwelt legt oder Autofenster umfunktioniert, um eine völlig andere Welt anzuzeigen“, so Campa, „Es ist sehr gut möglich, dass diese Welten Teil des Metaversums werden und es Avataren von Familienmitgliedern und Freunden ermöglichen, ihnen auf langen – und langweiligen – Fahrten Gesellschaft zu leisten.“

Finden Testfahrten künftig virtuell statt?

Wohin die Reise geht, verdeutlicht Chang Song, President und Head of Transportation-as-a-Service bei Hyundai: „Die Idee hinter der Metamobilität ist, dass Raum, Zeit und Entfernung irrelevant werden. Indem wir Roboter mit dem Metaverse verbinden, können wir uns frei zwischen der realen und der virtuellen Welt bewegen.“ Der koreanische Konzern gilt als Vorreiter auf diesem Feld, überzeugt davon, dass das Metaverse bisherige Prozesse und Arbeitsweisen grundlegend umkrempeln wird: „Und wenn wir einen Schritt über die immersive Vor-Ort-Erfahrung per Stellvertreter hinausgehen, die das Metaverse ermöglicht“, so Song, „dann werden Roboter eine Erweiterung unserer Sinne sein.“

Unterdessen zeigte Autozulieferer Hyundai Mobis auf der diesjährigen CES wie sich Testfahrten für Autokäufer künftig ins Metaverse verlagern könnten. Besucher schlüpften entweder auf dem Messestand oder von zuhause aus als Avatar in eines der beiden Konzeptfahrzeuge und fuhren durch eine bonbonfarbene virtuelle Welt, bei der sie unter anderem erfahren konnten, wie wendig die Wagen durch die 90-Grad-Drehung aller vier Räder werden.

Die Koreaner verfolgten damit auch ein pädagogisches Ziel: Es gelte, so ein Sprecher, das Metaverse und seine Möglichkeiten auf „interaktive, praktische und unterhaltsame Weise“ den Menschen näherzubringen. Denn für viele sei es immer noch schwer zu verstehen. Da ist was dran. Aber nicht mehr lange, denn die Autoindustrie hat gute Chancen, schon sehr bald Aufklärungsarbeit in Sachen Metaverse zu leisten. Der Anfang ist gemacht.

Sie möchten gerne weiterlesen?