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Disruptive Angriffe durch Technologiekonzerne erschüttern die Automobilindustrie derzeit in ihren Grundfesten. Selbstfahrende Autos von Google oder blitzschnelle SoftwareRollouts von Unternehmen wie Amazon demonstrieren die tiefgreifende Agilitätskrise, in der die Automobilindustrie innerhalb der digitalen Transformation augenblicklich steckt. Sie erlebt den Albtraum, der auch schon andere Branchen erzittern ließ – und der letztlich prominente Opfer forderte. Zum Beispiel Fotoausrüster Kodak. Die Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen: Laut einer Capgemini-Studie kann sich bereits ein Drittel der Deutschen vorstellen, ein Auto von Google oder Apple zu kaufen. Ein Wert, der aufhorchen lassen sollte, noch bevor der Zusatz geäußert wird, dass der entsprechende Prozentsatz unter indischen Autokäufern schon bei 81 liegt. Ein Schlag ins Gesicht einer Branche, die bis dato keine Gegner fürchten musste. Die Bedrohungslage ist real, selbst wenn weder Google noch Apple bislang überhaupt eigene Fahrzeuge anbieten und dies teilweise nicht einmal planen. Vor allem im Bereich der Kundenansprache, in dem E-Commerce-Anbieter durch geschickte Big-Data-Mechanismen deutlich vorausfahren, und auch hinsichtlich des Connected Cars, das pure Commodity für ITK-Unternehmen zu werden droht, hinkt die Automobilbranche hinterher. „Beim Aufbau neuer datenbasierter Dienste ist der ingenieursgetriebene Ansatz der OEMs ein gro- ßer Nachteil, denn die Digitalwirtschaft ist hier viel agiler. Sie denkt Innovation nicht vom Produkt her, sondern vom Nutzen für den Verbraucher“, erläutert Axel Schmidt, Leiter Automotive Europa, Afrika, Naher Osten und Lateinamerika beim Beratungsunternehmen Accenture, das zentrale Problem der Autobauer. Eine Verschiebung des Weltbildes, die langsam auch im Bewusstsein der Branche ankommt. „Die Googles, Ubers und Startups, die Amazons treten nicht mehr nur als Geschäftspartner auf. Das sind Wettbewerber“, erklärt etwa Volkswagen-CIO Martin Hofmann. Auf entsprechende Entwicklungen müsse seitens der IT der Autobauer mit Kreativität, Innovation und Schnelligkeit reagiert werden. Mit Hilfe von ausgegründeten Data Labs und Agile Communities entstehen im Wolfsburger Konzern derzeit zwei IT-Welten – eine auf Stabilität angelegte IT 1.0 in geschäftskritischen Bereichen, die keine Ausfälle dulden, und eine innovative, schnelle IT 2.0 an der Schnittstelle zum Kunden. „Wir nehmen nicht nur eine reine Servicefunktion wahr, sondern tragen durch die Digitalisierung zunehmend inhaltliche Verantwortung – selbst wenn die Fachbereiche das nicht wollen. Die IT muss das gesamte Unternehmen voranbringen“, umreißt auch BMW-CIO Klaus Straub die neue Rolle der IT in Autounternehmen. Das Zauberwort dabei laute Agilität. Das eigene Topmanagement sei auf den Trend zur Digitalisierung durchaus gut vorbereitet, so Straub – eine Aussage, die wohl nicht durchweg für jedes Unternehmen gilt. Schließlich ist der durchschnittliche Vorstandsvorsitzende eines OEM, so eine Analyse der Personalberatung Russell Reynolds Associates, 60,6 Jahre alt, 57 Prozent besitzen keinerlei Berufserfahrung außerhalb der Autobranche. „Die Zeit der homogenen und geschlossenen Führungskultur in der Automobilindustrie ist vorbei“, erklärt Walter Friederichs, bei Russell Reynolds Associates verantwortlich für die Global Automotive Practice. „Spätestens seit Akteure wie Tesla, Apple und Google massiv den Druck erhöhen, muss sich auch die bisher primär an sich selbst orientierte Gruppe der ,Car Guys‘ öffnen und neue Impulse sowie Talente von außen aufnehmen.“ Dass der CIO im Unternehmen ohne eigenen Vorstandssitz zum zahnlosen Tiger zu verkommen droht, will eine Studie des Technologiekonzerns Ricoh belegen. Zentrales Ergebnis: In vier von fünf europäischen Unternehmen herrscht zwar die Ansicht, der CIO verfüge über alle nötigen Ressourcen, um den digitalen Wandel voranzutreiben. Doch nur jeder elfte IT-Chef verfügt über Vollmachten, um Veränderungen in wichtigen Geschäftsbereichen voranzutreiben. Ein Armutszeugnis für die Zukunftsfähigkeit vieler Unternehmen, egal, aus welcher Branche sie kommen.

Autobauer stehen zudem Hindernisse gegenüber, die nicht nur mit fehlendem Managementbewusstsein gegenüber IT-Themen zu begründen sind. Auch dringend nötige Zukäufe von und Kooperationen mit Startup-Unternehmen, die frische Ideen in die oftmals starren Strukturen der OEMs einbringen könnten, gestalten sich besonders in Deutschland schwierig. So zeigt eine aktuelle Studie des Beratungsunternehmens A.T. Kearney, dass die Bundesrepublik in Sachen Gründerfreundlichkeit weltweit auf Rang 93 rangiert, viele Founder hierzulande bemängeln zudem bürokratische Hürden. In Sachen Übernahmen haben die Top-20-Zulieferer Deutschlands derweil, so eine JDA-Untersuchung, seit 2013 lediglich fünf Digitalunternehmen akquiriert. Zum Vergleich: Google kommt in demselben Zeitraum auf 61 Übernahmen – keine davon betrifft einen deutschen Betrieb. Eine Studie von Capgemini und Altimeter liefert ein weiteres Indiz: 76 der 200 führenden Unternehmen haben weltweit physische Innovationszentren in technischen Ballungsräumen gegründet, um den Herausforderungen der digitalen Transformation besser begegnen zu können. Unterdurchschnittlich repräsentiert ist die Autoindustrie – sie verharrt bewegungslos in ihren tradierten Strukturen.

Ein weiteres Problem besteht im Mangel an qualifizierten Experten in Deutschland: Mit rund 83000 Stellengesuchen sei die Autoindustrie – laut einer Analyse des Personaldienstleisters Adecco – in den letzten zwölf Monaten um elf Prozent stärker an Fachkräften interessiert als noch im Vorjahr. Die 82900 gesuchten Mitarbeiter setzen sich aus 22900 Technikspezialisten – größtenteils Ingenieuren – sowie 16500 ITKExperten und 11650 Entwicklern zusammen. Gerade solche Fachleute fehlen auf breiter Front. Hinzu kommt: Die Differenzierung der einzelnen Bereiche fällt zunehmend schwer, da die notwendigen Kompetenzen der Mitarbeiter vielfältiger werden. „Da der Mix der spezifischen Kompetenz bei den Mitarbeitern häufig nicht vorhanden ist, müssen interdisziplinäre Berater von außen die Organisationen unterstützen und in diesem Zuge mittelfristig interne Mitarbeiter ausbilden“, kommentiert Dirk Seifert, Mitglied der Geschäftsleitung und Partner beim Beratungsunternehmen Kienbaum. Diesen Herausforderungen wirkt etwa Daimler mit der Neustrukturierung von Kompetenzen entgegen. So bündelt Sajjad Khan, Vice President Digital Vehicle and Mobility, seit Mitte des Jahres die Bereiche Infotainment, User Interaction and Security, Backend and Apps sowie Mercedes-Benz Research and Development North America. Ziel dieser Maßnahme ist es, im Connected Car möglichst schnelle und effiziente Neuentwicklungen ins Fahrzeug zu bringen. „Vier bis sechs Monate zwischen einzelnen Software-Updates ist das Ziel. Wir sind gerade in den meisten Fällen bei einem Jahr Entwicklungszeit, in manchen Fällen auch schon bei acht Monaten“, erklärt Khan. Um dies zu erreichen, setzt der Stuttgarter OEM unter anderem auf eine globale Entwicklungsstrategie an Standorten in Deutschland, Indien, den USA, China und Südkorea. Zusätzliche Bewerbertage oder ein entsprechender Dialog über digitale Kanäle wie den Messaging-Dienst WhatsApp sollen das Profil als moderner Technologiekonzern schärfen. Auch Premiumkonkurrent BMW stellt sich entsprechend auf: „Ein eigenes Team mit über 150 Mitarbeitern kümmert sich parallel zur Fahrzeugentwicklung ausschließlich um die Entwicklung und den Betrieb neuer digitaler Dienste“, erklärt etwa BMWs Aftersales-Vorstand Peter Schwarzenbauer. „Die neuen Kollegen stammen nicht aus der Automobilbranche, sondern aus Internetfirmen, der Mobilkommunikations- und Softwarebranche. Sie bringen andere Kompetenzen, neue Denk- und Herangehensweisen mit.“ Auch bei den Münchnern geht der Innovationstrend deutlich zur Internationalisierung: Technology Offices in den USA, China und Japan sollen neue technologische Entwicklungen erkennen, während man mit verschiedenen Startup- und Recruiting-Initiativen junge Talente ins eigene Unternehmen ziehen möchte.

Ob insbesondere den Führungsriegen der OEMs bewusst ist, welche Manpower wirklich für die digitale Transformation eigener Produkte und Prozesse nötig ist, bleibt eine offene Frage. Brancheninsider sprechen von einer notwendigen Vergrößerung der IT-Workforce um etwa zwei Drittel, um zukunftsfähig zu bleiben. Ob die Autoindustrie die agile Revolution in der eigenen IT anstoßen kann, bleibt fraglich. Erste Initiativen zeigen zwar, dass ein Problembewusstsein vorliegt. Aber die deutlichen Vorsprünge, die ITK-Unternehmen etwa bei Kundenansprache und Softwarekompetenz an den Tag legen, sind nicht von heute auf morgen einzuholen. Was die Autoindustrie dringend braucht, sind vor allem zwei Dinge: mehr Manpower für eine strategisch als wichtig erkannte IT und frische Ideen, Organisationsformen und Strukturen, um die eigenen Mitarbeiter auf die digitalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einzuschwören. Mit tradiertem Handeln ist es nicht mehr getan, will man die Branchenführerschaft nicht neuen, agilen Playern überlassen. Kodak sollte warnendes Beispiel sein.

Autor: Werner Beutnagel

Fotos: Daimler

 

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