Zwei Mitarbeiter von Audi arbeiten im Software Development Center am PC.

Eine stabile Verbindung zwischen der Unternehmens-IT und den Fahrzeugsystemen wird künftig unverzichtbar. (Bild: Audi)

In eigener Sache:

Der Technologie- und Strukturwandel, den die Automobilindustrie durchlebt, lässt die Trennlinie zwischen Business-IT und Produkt-IT immer stärker verschwimmen. Im kommenden Jahr stellen wir automotiveIT deshalb breiter auf, indem die Themen des Schwestermagazins carIT integriert werden.

Werfen die CIOs in der Automobilbranche zum Ende des Jahres 2020 einen Blick in den Rückspiegel, erkennen sie zwei große Trendlinien. Zum einen hat der Corona-Shutdown bei Herstellern und Zulieferern gezeigt, wie abhängig das Business von reibungslos funktionierender Informations- und Kommunikationstechnik ist. Das hat die Position der IT als technologischer Enabler für die Digitalisierung gestärkt. Zum anderen zeichnet sich eine neue Erwartungshaltung ab: Die IT-Organisation soll künftig deutlich mehr Business-Verantwortung übernehmen. Dafür braucht es viel Verständnis für die Arbeit in den Fachbereichen, inklusive der dort verankerten Prozesse.

Die Anforderungen werden immer umfangreicher und entwickeln sich äußerst dynamisch. Folge: Der CIO-Fokus schwenkt merklich von der Supply-Seite in Richtung Demand. „Das Niveau unterscheidet sich signifikant von dem, was wir bisher gekannt haben“, bestätigt Christian Ley, CIO beim fränkischen Zulieferer Brose. „Nicht nur die schiere Menge stellt uns vor Herausforderungen, sondern auch die innerhalb unseres Mandats geforderte inhaltliche Fokussierung auf innovative, neue Technologien.“ Wohlgemerkt: Bei Brose wie in anderen Unternehmen der Branche ist nicht IT um der IT willen gewünscht. Vielmehr verfolgen alle Aktivitäten klar definierte Ziele und müssen sich am Ende des Tages in messbaren Ergebnissen widerspiegeln, im besten Falle in einem Beitrag zum Geschäftserfolg.

Seat entwickelt digitalen Kompass

Die Dynamik im technologischen Umfeld ist inzwischen dermaßen groß, dass vielen Teams in den Unternehmen schlicht und ergreifend die Zeit fehlt, um von vorne bis hinten alles theoretisch zu durchdenken, Konzepte mit vielen hundert Seiten zu schreiben, Blaupausen abzuleiten und erst ganz am Ende in die Umsetzung einzusteigen. Wie aus der Softwareentwicklung bekannt, arbeitet nun auch die Corporate-IT mit früh erlebbaren Ergebnissen, agiles Arbeiten ist auf breiter Front angesagt. Noch nie wurden in so vielen klassischen IT-Projekten spezielle Prozesse und Organisationsmethoden aufgesetzt wie dieses Jahr.

Auf dem Weg zu softwaregetriebenen Autoherstellern und Zulieferern verschwimmt zudem die einst scharf gezeichnete Trennlinie zwischen Unternehmens-IT und Produkt-IT. Um die Balance halten zu können, haben zum Beispiel CIO Sebastian Grams und sein Team bei Seat im Rahmen der IT-Strategie eigens einen digitalen Kompass entwickelt: „Im Prinzip ist es ein Achsenkreuz: Die x-Achse visualisiert unsere neuen Geschäftsmodelle, zum Beispiel unser Scooter-Sharing. Die y-Achse bildet unsere Unternehmensprozesse ab, von der Supply Chain bis zum Finanzwesen“, erläutert Grams. Der Kompass hilft nicht nur in internen Abstimmungsrunden dabei, aktive und geplante Vorhaben zu visualisieren. Mit ihm lässt sich auch überprüfen, wie gut sich einzelne Digitalisierungsinitiativen und Projekte in die IT-Strategie von Seat einfügen.

„Die Rolle der IT hat sich in den letzten Monaten und Jahren drastisch geändert“, gibt der IT-Chef der spanischen Volkswagen-Konzernmarke im Gespräch mit automotiveIT zu Protokoll. „Wir versuchen hier, die digitale Transformation unseres Unternehmens zu forcieren und zu begleiten. Ich verstehe die IT als Enabler und Methodenlieferanten für das Unternehmen.“ Folgerichtig hat Seat entschieden, dass das Kompetenzzentrum für Agilität, das den Wandel des spanischen Herstellers begleitet, in der IT angesiedelt ist. Ein Schritt in die richtige Richtung, aber bei Weitem noch nicht genug.

Verbindung zweier IT-Welten

Tatsächlich verfügt die Unternehmens-IT über einen ungeheuren Erfahrungsschatz, den sie über viele Jahrzehnte hinweg stetig angereichert hat. Dieses Knowhow über Softwaresysteme und IT-Architekturen sollte viel intensiver genutzt werden. Eine stabile Verbindung zwischen der Corporate-IT und den Fahrzeugsystemen erscheint in Zeiten wie diesen unverzichtbar. Um diese Konvergenz bestmöglich zu meistern, braucht es frisches Denken und vor allem die Bereitschaft, Hand an bestehende Strukturen zu legen. Allerdings erweisen sich die Beharrungskräfte in großen Konzernen als immens stark, wieder einmal.

„Ob Volkswagen oder Bosch – alle ziehen plötzlich ihre Software-Ressourcen in neuen Organisationseinheiten zusammen, vergessen aber, die Schnittstellen zur Unternehmens-IT zu definieren“, kritisiert Peter Mertens, bis 2018 Entwicklungsvorstand bei Audi in Ingolstadt. Die Folgen sind verheerend: Statt kleiner, autarker und agiler Teams arbeiten plötzlich tausende von Mitarbeitern an Themen, die sich sehr schnell drehen. „Ob das in Zeiten von Rapid Prototyping zielführend ist, bezweifle ich. Ich muss mich heute doch am konkreten Use Case orientieren, daran, was der Kunde am Ende im Fahrzeug erleben soll. Mit großen Softwareschmieden, die als eigenständige Unternehmen organisiert sind und sich an meterdicken Lastenheften abarbeiten, ist das nicht zu schaffen“, mahnt Mertens und drängt auf ein neues Mindset.

„Über 100 Jahre lang haben wir immer aufwendigere Geometrien konstruiert, Clay-Modelle erstellt und dann das Blech entsprechend gebogen. Seit einigen Jahren versuchen wir nun zudem, Hochleistungscomputer und Software zu integrieren, und erkennen langsam, wie fehleranfällig das Planungsprinzip Outside-in ist.“ Wenn man sich nur daran orientiere, was im Produktregal bereits verfügbar sei – ob Systeme auf Chipbasis oder Algorithmen und Datenstrukturen –, entstünde nichts Neues.

Vertikale Integration als Blueprint

Als Newcomer ist tatsächlich nur ein Hersteller sozusagen auf der Gegenspur unterwegs: Tesla. Die US-Ingenieure denken und definieren ihre Fahrzeuge von der Elektronikplattform und der Software her und bauen dann das Blech drumherum. Mit diesem Ansatz fällt es offensichtlich erheblich leichter, softwarebasierte Dienste aufzusetzen und beispielsweise Over-the-Air-Updates für das Infotainmentsystem, andere Dienste und selbst Fahrfunktionen anzubieten. Vielen Experten gilt dieser Ansatz einer vertikalen Integration als vielversprechender Blueprint: Tesla hat von Beginn an verstanden, wie wichtig es ist, zukunftsrelevante Bereiche wie Software und Elektronik inhouse zu halten und durchgängig selbst zu entwickeln.

„Strategische Partnerschaften, wie sie zuletzt Daimler mit Nvidia oder Volkswagen mit Microsoft geschlossen haben, führen meiner Meinung nach in den Untergang“, ist Peter Mertens überzeugt. Sie hätten zur Folge, dass sich die OEMs zurücklehnen und auf ihr Kerngeschäft Autobau konzentrieren. Es käme kein Knowhow- und IP-Transfer in Gang. „Um es ganz klar zu sagen: Die Entwicklung neuer Modelle muss mit der Software starten. Darin sehe ich eine Kernkompetenz für jeden Automobilhersteller.“

 Die Unternehmens-IT ist auf diesem Entwicklungspfad weder ein Bremser, noch das Infrastruktur-Backend ein Flaschenhals. Was es jetzt aber braucht, sind kluge Entscheidungen: Es wäre zum Beispiel hilfreich, die IT-Abteilung von Teilen ihrer aufwendigen Betriebstätigkeit zu entlasten und so Kapazitäten freizuschaufeln, um sich auf das zu konzentrieren, was die Autobranche in Zukunft antreibt: Software und Daten.

Einheitliche Linie fehlt

Drei Mitarbeiter von Audi sitzen auf Sitzsäcken und reichen ein Tablet herum.

Das Gleichgewicht zwischen operativen Standardservices und innovativen Digitalthemen zu halten, stellt noch immer viele IT-Bereiche vor große Herausforderungen. Gerade mittelständischen Zulieferern fehlt es oft an Skalierbarkeit. Ihr Credo lautet: Was wir selbst machen können, setzen wir auch selbst um. Folge: Die IT wirkt wie ein Flaschenhals, viele Businessprojekte stehen im Stau und kommen nur langsam voran. Auch die Frage, ob lieber das klassische Wasserfallmodell oder agile Methoden zum Einsatz kommen sollen, ist noch längst nicht überall entschieden. Viele IT-Leiter passen die Methodik ganz pragmatisch an den Reifegrad der Applikation an. Ist dieser hoch, beispielsweise bei einer Anwendung im Bereich der durch SAP unterstützten Kerngeschäftsprozesse, fühlen sie sich mit dem Wasserfallvorgehen durchaus wohl. Für Neuentwicklungen mit hohem Innovationsgrad, bei denen Minimum Viable Products und Proof of Concepts genutzt werden, sieht die Sache dann schon ganz anders aus.

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