Autonomes Fahren

Bei der Prognose des Mischverkehrs aus autonomen und manuell gelenkten Fahrzeugen herrscht aktuell viel Unsicherheit. (Bild: Adobe Stock / AA+W)

Mehrere Jahrzehnte lang werden sich autonome Fahrzeuge und Autos mit menschlichen Fahrern gemeinsam auf den Straßen bewegen. Wie sich so ein Mischverkehr auf die Kapazität einer Straße oder die Verkehrssicherheit auswirkt, zu dieser Frage gibt es zahllose Untersuchungen, die den Verkehrsfluss auf Straßen, Kreuzungen oder Stadtvierteln simulieren. Für ziemlich jede These scheint man unter diesen Studien einen Beleg zu finden: Autonome Fahrzeuge machen den Verkehr sicherer. Autonome Fahrzeuge behindern durch ihr hundertprozentig regelkonformes Verhalten den Verkehr. Autonome Fahrzeuge machen den Verkehr flüssiger. Autonome Fahrzeuge veranlassen menschliche Fahrer zu riskanten Manövern. Aussagen wie diese werden dann gerne noch in Abhängigkeit von der Durchdringungsquote der Roboautos getätigt.

Peter Wagner, Wissenschaftler am Berliner Institut für Verkehrssystemtechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), bestätigt: „Es entsteht schnell der Eindruck, dass man aus solchen Studien alles ableiten kann.“ Der Grund ist, dass für jede Simulation vorab ganz konkrete Annahmen zu treffen sind. „Wenn sich die Fahrzeuge in der Realität dann genau so verhalten, wie ich diese Parametrisierung gewählt habe, dann sind meine Ergebnisse auch exakt richtig“, verdeutlicht Wagner.

Szenarien sind nicht die Realität

Nur werden die getroffenen Annahmen nie so ganz zutreffend gewesen sein – weshalb eine Prognose nur eine mögliche Zukunft, aber nicht die Zukunft darstellt. Schließlich können sich im Laufe der Zeit viele Faktoren ändern, die in die Parametrisierung womöglich nur unzureichend Eingang gefunden hatten. Wagner hat beim Thema autonomes Fahren inzwischen aufgehört, Simulationen durchzuführen, weil „alles so spekulativ ist“. Das fängt schon beim selbstlenkenden Fahrzeug selbst an: „Fragen Sie mal die Automobilindustrie, wie sich solche Fahrzeuge verhalten – sie werden keine eindeutige Antwort bekommen.“

Unabhängig von Simulationsergebnissen sieht Wagner zwei Fixpunkte, die in der Debatte um die Folgen des Mischverkehrs unvermeidlich eine Rolle spielen: die Abstände zwischen Roboautos und die stark schwankenden Abstände, die menschliche Fahrer zum vorderen Auto einhalten. In Simulationen dient der zeitliche Minimalabstand zwischen Fahrzeugen als unmittelbares Maß für die Kapazität einer Straße oder Kreuzung. „Auf 0,3 Sekunden ließe sich dieser Abstand zwischen autonomen Fahrzeugen wohl theoretisch verkürzen“, sagt Wagner. Das entspräche der Zeit, die für die Erfassung aller notwendigen Daten und die anschließende Berechnung des Fahrverhaltens anfällt. Die Reaktionszeit der Maschine ist deutlich kürzer als die des Menschen. Hinzu kommt die Zeit für den Bremsweg.

Assistenzsysteme machen Autos defensiv

„Ich habe immer mit 0,5 Sekunden in meinen Simulationen gerechnet – das ergab riesige Kapazitätsgewinne, auch bei Mischverkehr“, erinnert sich Wagner. Doch im Lauf der Zeit seien seine Zweifel gewachsen, ob diese 0,5 Sekunden realistisch sind: „Die zugelassenen Assistenzsysteme halten größere Abstände ein, was dazu führt, dass der Zeitvorteil gegenüber der eineinhalb Sekunden, die im Schnitt für menschliche Fahrer auf Autobahnen gilt, immer geringer wird.“

Sinkt der Zeitvorteil der Roboautos zu stark, schwindet der durch die Autonomie bedingte Kapazitätsvorteil einer Straße. „Auch die eineinhalb Sekunden beim Menschen sind nur ein Mittelwert“, gibt Wagner zudem zu bedenken. „Aus Messungen weiß man, dass der Betrag beim gleichen Fahrer auf der gleichen Fahrt um einen Faktor zwei schwanken kann.“

Wann das Thema Mischverkehr auf öffentlichen Straßen eine nennenswerte praktische Bedeutung bekommt, ist unklar. Je nachdem mit wem man spricht, lautet die Antwort in einem Jahrzehnt oder in mehreren Jahrzehnten. Nur die größten Optimisten sprechen von wenigen Jahren – also eigentlich nur Elon Musk. Daran ändert auch nichts die steigende Zahl von markt- und damit realitätsnahen Projekten in vielen Ländern der Welt.

„Natürlich wird die Einführung autonomer Fahrzeuge nicht über Nacht geschehen, wahrscheinlich nicht einmal über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte, so dass eine reibungslose Interaktion zwischen ihnen und regulären, von Menschen gesteuerten Fahrzeugen entscheidend sein wird“, sagt Johann Jungwirth, Vice President Mobility-as-a-Service bei Mobileye.

Grafik Prognos Markthochlauf autonome Fahrzeuge

Mischbetrieb wird Jahrzehnte dauern

Die lange Mischverkehrsphase erklärt sich neben den vielen Aufgaben, die die Roboauto-Entwickler noch zu lösen haben, auch durch die Lebensdauer von Fahrzeugen. Laut dem europäischen Automobilherstellerverband ACEA beträgt das durchschnittliche Alter der Fahrzeugflotte in der EU 11,8 Jahre bei Pkw, 11,9 Jahre bei Lkw und 12,8 Jahre bei Bussen. Das Kraftfahrtbundesamt nennt für Deutschland 10,1 Jahre bei Pkw, Tendenz steigend. 1,1 Millionen Pkw waren zum 1. Januar 2022 gar älter als 30 Jahre. Eine vollständige Erneuerung des Fahrzeugbestands dauert also ziemlich lange. Ausgehend von solchen Zahlen kommt eine Prognos-Studie im Auftrag des ADAC in einer Szenariorechnung – Achtung Prognose! – zu dem Schluss, dass sich automatisierte Neuwagen, also Level 3 und höher, bei günstigen Voraussetzungen in den 2030er-Jahren stärker verbreiten werden. Erst nach 2040 werde es in größerer Zahl Autos geben, die überall auf Level 5 fahren.

„Autonome Fahrzeuge müssen verstehen, wie sich menschliche Fahrer verhalten“, formuliert Jungwirth den eigenen Anspruch. „Wir wissen, dass sie das Vertrauen der Öffentlichkeit gewinnen müssen, um erfolgreich sein zu können. Ein wichtiger Teil davon wird sein, der Öffentlichkeit zu zeigen, dass sich autonome Fahrzeuge im Verkehr genauso verhalten wie menschliche Fahrer – nur sicherer.“

Funktionierende Technik begünstigt Akzeptanz

Nils Berkemeyer, Vice-President of Corporate Development bei Autobrains, sieht absolut kein Problem im Mischverkehr: „Nicht vollständig ausgereifte Systeme bekämen hierzulande gar keine Zulassung.“ Anfängliche Skepsis in Teilen der Gesellschaft hält Berkemeyer für ganz natürlich: „Wie bei jeder disruptiven Technologie, wird sich die Gesellschaft schnell an solche Fahrzeuge gewöhnen, siehe Smartphone oder Elektroauto.“

Zudem sieht Berkemeyer kein grundsätzliches Problem darin, wenn autonome Fahrzeuge sich strikt an alle Verkehrsregeln halten und dadurch aggressive Verkehrsteilnehmer einbremsen: „Für die Verkehrssicherheit ergeben sich daraus nur Vorteile.“ Im nächsten Jahrzehnt dürften Level-2- und Level-2+-Systeme bereits in gut der Hälfte der Fahrzeuge anzutreffen sein, sagt Berkemeyer unter Berufung auf verschiedene Studien von Managementberatungen. „Vermutlich wird der Mischverkehr dann doch keine so große Herausforderung sein, wie uns heutige Simulationen weismachen wollen.“

Tests im Fahrsimulator überraschen

Wie Menschen auf autonome Autos im Mischverkehr reagieren, hat die TU Braunschweig im Auftrag der Unfallforschung der Versicherer untersucht: im Fahrsimulator. Unter den Probanden waren Berufskraftfahrer, Pendler und Fahranfänger. Sie standen dem automatisierten Fahren mehrheitlich positiv gegenüber und hatten teils auch schon Erfahrungen mit Assistenzsystemen. Die Probanden erlebten im Mischverkehr auf der Autobahn Fahrstreifenwechsel und Geschwindigkeitsbeschränkungen. Das Verhalten der hochautomatisierten Fahrzeuge hatte das Forschungsteam mit Hilfe von Experteninterviews definiert.

Die 2020 veröffentlichte Studie ergab, dass bei häufigem Kontakt, die menschlichen Fahrer hochautomatisierte Fahrzeuge gar nicht mehr als sonderlich anders wahrnahmen. Sie empfanden sie eher als Teil der Bandbreite menschlichen Fahrverhaltens. Beim Spurwechsel und Überholen nahmen die Probanden die hochautomatisierten Fahrzeuge als kooperativ wahr. Doch mit steigender Zahl von hochautomatisierten Fahrzeugen, oberhalb von 25 Prozent Durchdringungsgrad, änderte sich dieses Bild plötzlich: Nun nahmen die menschlichen Fahrer die Situation als gefährlicher und unangenehmer wahr. Die Probanden neigten dazu, die sicherheitsrelevanten Abstände zu verkürzen.

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