Praktisch die gesamte Autobranche denkt seit Jahren darüber nach, wie sie den gordischen Elektronikknoten unter den Motorhauben und hinter den Armaturenbrettern entwirren könnte. Klar ist, dass es so nicht weitergehen kann: Wo immer in der Vergangenheit ein Autohersteller eine neue elektronische Funktion zum Wohle von Sicherheit, Komfort oder Unterhaltung der Passagiere ersann, pflanzten die Konstrukteure eine elektronische Steuereinheit (ECU) ins Auto – in aller Regel nahe am Ort der Funktion und immer mit einer speziell kreierten Software. Das chaotische Wachstum dieser ECUs erzeugte einen wahren Dschungel von Steuergeräten und führte zu einer kaum noch zu beherrschenden Komplexität von Hardware und Software.
Entflechtung von Hard- und Software
Die Diskussion über mögliche Lösungswege schließt Ansätze wie Zentralrechner oder Domänenrechner ein. Die Entflechtung des Wirrwarrs vollzieht sich auf mehreren Ebenen: Bei der Software heißen die Wegmarken Autosar Adaptive, Virtualisierung und service-orientierte Architekturen. Ein Etappenziel ist die Trennung von Hardware und Software. Die Virtualisierung verwandelt Silizium-ECUs in Software-Tasks, die ihrerseits auf einem leistungsfähigen Prozessor laufen. Damit lassen sich die bisher an eine dedizierte Hardware gebundenen Steuergerätefunktionen nach Belieben im Fahrzeug hin- und herschieben. Softwareupdates – in dieser virtualisierten Welt sind die früheren Steuergeräte zu einem Stück Softwarecode geworden – können über eine zentrale Instanz automatisiert werden.
Solche Szenarien aber lassen sich in der Microcontroller-zentrierten Welt der Hardware-ECUs nicht realisieren – sie erfordern eine neue IT-Infrastruktur im Auto. Nachdem die OEMs die Richtung vorgegeben haben, hat die Chipindustrie jetzt ihre Lösungsansätze vorgelegt. Im zeitlichen Umfeld der Consumer Electronics Show CES zu Anfang dieses Jahres, teilweise auch auf der Show selbst, stellten sie Plattformen vor, die auf das neue Szenario zugeschnitten sind und mit denen OEMs und Zulieferer ihre Zukunftskonzepte umsetzen können.
Moderne Chips mit ausreichend Rechenkapazität
Waren die Steuergeräte früher aus Kostengründen regelmäßig als Minimalkonfiguration ausgeführt und ihre Rechenkapazität entsprechend begrenzt, lassen die modernen Chips diese Limitierungen weit hinter sich. Sie sind als heterogene Multiprozessorsysteme implementiert – mehrere ganz unterschiedlich strukturierte Prozessoren sind auf einer Siliziumscheibe integriert. Diese teilen sich die Arbeit und sorgen dafür, dass für jede Art der Informationsverarbeitung die adäquaten Ressourcen vorhanden sind. Der amerikanische Chiphersteller Xilinx zum Beispiel stellte auf seiner Entwicklertagung in Den Haag neue Topmodelle seiner Baureihe Zynq UltraScale+ vor. Diese Bauteile enthalten nicht nur einen herkömmlichen 64-Bit-Prozessor in der verbreiteten Arm-Cortex-A53-Architektur, sondern noch viel mehr: Zwei weitere Arm-Prozessoren überwachen sich im sogenannten Lockstep-Modus gegenseitig.
Relevant ist das für Aufgaben, bei denen eine hohe funktionale Sicherheit gefordert ist. Auf dem Chip ist eine große Anzahl programmierbarer Logik (680 000 Logikzellen) integriert, die je nach Aufgabe für die Vorverarbeitung von Sensordaten, Bildverarbeitung oder Inferenzalgorithmen für künstliche Intelligenz genutzt werden können. Ein ganz und gar ungewöhnliches Feature dabei: Die Logikzellen können im Betrieb umkonfiguriert werden – beim Rückwärtsfahren wird daraus beispielsweise ein Schaltkreis für die Verarbeitung der Rückwärtsfahrkamera, beim Vorwärtsfahren rechnen sie Lidar- und Radardaten zu einem 3D-Umgebungsmodell zusammen.
Schaltzentrale für Datenströme im Auto
NXP, Platzhirsch im Markt für Automotive-Halbleiter, zielt mit seiner neuen Chipplattform S32G auf eine Domäne im Auto, die im aufkommenden Zeitalter der Softwareupdates per Luftschnittstelle einen besonderen Stellenwert bekommt: das Kommunikations-Gateway. Diese Instanz fungiert als zentrale Schaltstelle für die Datenströme ins Auto hinein und aus dem Auto heraus. Zudem koordiniert der S32G den Datenverkehr zwischen diversen internen CAN-Bussen und Ethernet-Backbones. Darüber hinaus soll der Chip auch jenen Fahrzeugentwicklern entgegenkommen, die das Gateway nicht nur als Datendrehscheibe sehen, sondern hier auch Anwendungssoftware laufen lassen. Zu diesem Zweck enthält der Multiprozessorchip diverse anwendungsspezifische Hardwarebeschleuniger und Lockstep-Mechanismen – mit ihnen lässt sich die ASIL-Stufe D erreichen, die höchste Stufe für die funktionale Sicherheit.
Eine ebenfalls integrierte Hardware Security Engine nebst vorgeschalteter Firewall sichert die Kommunikationsvorgänge gegen Cyberattacken ab. Für die Datenverschlüsselung unterstützt diese Engine auch Public-Key-Infrastrukturen, ganz wie das in der Business-IT üblich ist. Apropos Business-IT: Der Baustein ist für die Einführung von serviceorientierten Softwarearchitekturen (SOA) konzipiert. Das hilft nicht nur, den Verkehr auf den internen Datenautobahnen drastisch zu reduzieren und mehr Intelligenz im Server zu konzentrieren. Für die Automobilhersteller steht damit auch die Perspektive im Raum, ihren Nutzern über hauseigene App Stores Fahrzeug- und Infotainmentfunktionen zum Nachladen anzubieten.
Plattform als Herzstück der Fahrzeug-IT
Auf der CES drängte mit Qualcomm noch ein weiterer Chiphersteller ins Rampenlicht. Im Automobilsektor ist das Unternehmen nicht unbekannt, machte sich aber bisher hauptsächlich im riesigen Consumermarkt breit – Qualcomm-Prozessoren bevölkern zu Millionen Smartphones und ähnliche Kleingeräte. Damit besitzt das Unternehmen aus San Diego einige Erfahrung im Design platz- und energiesparender Chips, was in der Autobranche sicherlich kein Nachteil ist. Aber nachdem die Kalifornier im Fahrzeug bisher eher Nebenrollen übernommen haben, wollen sie nun mit ihrer neuen Plattform Snapdragon Ride mitten ins Zentrum der Fahrzeug-IT.
Der Hersteller will sämtliche Autonomielevel abdecken – vom einfachen, von der NCAP vorgeschriebenen Fahrerassistenzsystem bis zum vollautonomen „Robotaxi“ und dabei alle Aufgaben abdecken, die mit der Fahrzeugsensorik, der Trajektorienplanung und mit Sicherheitsfunktionen bis hin zum Andocken an Flottenmanagement- und Carsharing-Plattformen im Backend verbunden sind. Je nach Anforderung kann die Plattform aus einem einzelnen oder aus mehreren SoC bestehen, kombiniert mit Hardwarebeschleunigern für KI und Bilderkennung. Auch ein Grafikprozessor zur Visualisierung ist an Bord. Integraler Bestandteil der Plattform ist ein Softwarestack, der Standardalgorithmen für viele der Funktionen enthält, die beim automatisierten Fahren anfallen. Auch die Konkurrenten bieten Softwarebibliotheken und Entwicklungstools für ihre Plattformen an, doch dürfte bei der Qualcomm-Box die mitgelieferte Software besonders umfangreich ausgefallen sein – zumindest verstand es das Unternehmen, bei der Präsentation diesen Eindruck zu erwecken.
Autor: Christoph Hammerschmidt
Bilder: Shuterstock/Vladimir Kramin, Flaticon