Ein Verkäufer und ein Kunde sitzen im Mercedes-Autohaus an einem Tisch und blicken auf einen Bildschirm.

Der digitale Verkaufsassistent „One Touch Retail“-Plattform (OTR) kommt in allen deutschen Pkw-Verkaufsstandorten von Mercedes-Benz Cars zum Einsatz. (Bild: Daimler)

Schon im Jahr 2013 legte Daimler mit dem Programm „Best Customer Experience“ den Grundstein für einen generalüberholten Vertrieb, der den Kundenansprüchen des digitalen Zeitalters gerecht werden sollte. Unterfüttert mit Millionen-investitionen, entstand seitdem unter anderem die Servicemarke Mercedes Me, die dem Kunden ein möglichst nahtloses Service- und Produkterlebnis über so viele Kanäle wie möglich liefern sollte. Im vergangenen Jahr fügte der OEM seiner Vertriebsstrategie noch ein „4.0“ hinzu, um zu betonen, dass man das Kundenerlebnis immer weiter in Richtung „digitales Rundum-sorglos-Paket“ verwandelt habe. Neben einem Vertrieb, der sich auch bei Daimler sukzessive ins Internet verlagert, soll auch der physische Retail, also der Händler vor Ort, eine digitale Metamorphose durchmachen – nicht ganz einfach angesichts eines Netzes von 6.500 Partnern weltweit.

Flexible Reaktion auf Mehrwertsteuersenkung

Hierfür wurden in den vergangenen Jahren am Point of Sale nicht nur der Markenauftritt aufgefrischt und neue digitale Endgeräte und Tools implementiert, sondern man gab auch den Verkäufern zeitgemäße digitale Unterstützung an die Hand. Dazu gehört auch die neue „One Touch Retail“-Plattform (OTR), ein digitaler Verkaufsassistent, der seit Mitte 2019 an allen deutschen Pkw-Verkaufsstandorten von Mercedes-Benz Cars zum Einsatz kommt. Ein vergleichbares System wurde auch für den chinesischen Markt entwickelt. „Wir möchten alle Online- und Offlinekontaktpunkte nahtlos miteinander verbinden, um unseren Kunden ein einheitliches und bequemes Luxuserlebnis zu bieten“, erklärt Nico Ackermann, Senior Project Manager bei Daimler, die Beweggründe für das Aufsetzen der neuen Verkaufsplattform.

„Zukunftsfähige Systeme mit moderner Architektur helfen uns, zuverlässig und schnell auf Entwicklungen im Autohandel zu reagieren.“ So habe man beispielsweise mithilfe der OTR-Plattform innerhalb nur weniger Tage auf die im Zuge der Coronakrise veränderte Mehrwertsteuerregelung reagieren können. „Da OTR onlinebasiert ist, sind wir flexibler geworden und können die Kunden beraten, wo immer sie es wünschen“, so Ackermann. Mithilfe einer neuartigen Visualisierung und eines E-Books als personalisierter Katalog sollen sich die Verkäufer stärker auf die individuellen Wünsche des Kunden fokussieren können. Darüber hinaus ist der digitale Assistent direkt mit Mercedes Me und dessen service-basierter Architektur vernetzt.

Abkehr vom Wasserfallmodell

Das neue Verkaufs-Tool an sich ist jedoch derweil nicht das einzige, bei dem man im Rahmen des Projekts OTR-Plattform neue Wege gegangen ist. Die Entwicklungsprozesse folgten der neuen Prämisse der Daimler-IT, in Sachen Arbeitskultur schneller und vor allem agiler zu werden. Unter dem Strategiemotto #TwiceAsFast sollte auch die neue Verkaufsplattform mithilfe von Design Thinking, DevOps, cross-funktionalen Teams und Open-Source-Software entstehen – kurzum: mit den Mitteln der agilen Organisation. Ein völlig neuer Ansatz in einer Welt, die bis dato vom Wasserfallmodell geprägt war.

Für dieses radikale Vorgehen holte sich der schwäbische OEM die Softwareberater von ThoughtWorks mit ins Boot, die bereits einiges an Erfahrung im Bereich der agilen Entwicklung mitbringen. „Ein wichtiger Faktor für das Gelingen einer digitalen Transformation ist die Bereitschaft, Arbeitsweisen zu ändern, Modelle zur Zusammenarbeit neu zu überdenken und Paradigmenwechsel zu akzeptieren und anzugehen“, sagt Martin Kramer, Client Principal beim Berliner Unternehmen. Ein Ansatz, der bei Daimler offenkundig auf fruchtbaren Boden gefallen ist. „Immer wieder haben wir den Satz ‚trust the process‘ gehört. Zu dieser Form der Zusammenarbeit gehört aber auch, dass wir immer wieder gegenseitig Feedback geben: Was passt, aber auch wo wir besser werden müssen.“

Weiterentwicklung der neuen Retail-Plattform

Daimlers One-Touch-Retail-Plattform entstand innerhalb von cross-funktionalen Teams, die aus Businessanalysten, Entwicklern, Designern und Qualitätsexperten beider Unternehmen bestanden und fast täglich eng am neuen Softwareprodukt zusammenarbeiteten. Die neue Arbeitsweise habe eine Verkürzung der Feedbackschleifen ermöglicht und man sei gemeinsam schneller zu handfesten Ergebnissen gekommen, berichtet Kramer. So gelang es den Teams beispielsweise, die Frequenz von neuen Softwarereleases für die OTR-Plattform von einem Deployment pro Monat zu mehreren pro Tag und damit zu einer Continuous Delivery hochzufahren.

Darüber hinaus wurde die IT-Architektur auf Microservices umgestellt und von einer lokalen Installation in ein cloudbasiertes Modell überführt. „So lassen sich einzelne Teile der Anwendung unabhängig voneinander ändern und damit können Änderungen schneller vorangebracht werden“, erklärt der ThoughtWorks-Experte. Dies stellte zusammen mit der Nutzung von Free- and Open-Source-Software (FOSS) nicht zuletzt die technologische Basis dar, agile Softwareentwicklung mithilfe von DevOps-Methoden zur vollen Entfaltung zu bringen. Das agile Vorgehen wirkte sich auch ganz konkret auf den Einsatzort des neuen digitalen Verkaufsassistenten aus. „Natürlich stößt die Neueinführung einer Applikation, welche ein bekanntes, über viele Jahre optimiertes System ablöst, auch auf Vorbehalte“, weiß Kramer.

Geholfen habe letztlich die Geschwindigkeit, mit der auf Feedback der Nutzer reagiert werden konnte. „Für uns ist wichtig, dass wir gemeinsam mit den Kollegen, die die Systeme nutzen, Anwendungen entwickeln, die den tatsächlichen Bedarfen entsprechen“, betont auch Daimler-Projektleiter Nico Ackermann. Die neue Retail-Plattform soll daher iterativ weiterentwickelt werden. „Wir schauen uns genau an, was wie genutzt wird, und treffen dann Entscheidungen, die in die Iterationen einfließen und gewährleisten, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, betont Ackermann. Ein nicht unkluger Schachzug, die Händler beim Thema digitaler Customer Experience nicht auf dem Weg zu verlieren.

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