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automotiveIT: Herr Bentele, Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, aus einem historisch gewachsenen IT-Versorger einen globalen Unterstützer für die Digitalisierung zu machen. Wo steht die Transformation der Mahle-IT?

Diese Frage lässt sich nicht eindimensional beantworten. Wir forcieren viele Themen parallel, die teilweise direkt in die Digitalisierung einzahlen und teilweise unabhängig davon sind. Das macht den Wandel der Unternehmens-IT ja gerade so spannend. Die Digitalisierung erleben wir als sehr agilen, schnelllebigen Prozess, der auch die Unternehmensstrategie, die Geschäftsfeldentwicklung und die Geschäftsprozesse bei Mahle beeinflusst. In Kombination mit neuen Mobilitätsformen sehen wir uns einem komplett neuen Aufgabenspektrum gegenüber und müssen uns dementsprechend ausrichten. Betroffen sind Technologien, Infrastruktur, Ressourcen, Qualifikation und Prozesse sowie nicht zuletzt die Unternehmenskultur.

Das klingt fast so, als würden Sie einen Resetknopf drücken …

Nein, diese Formulierung trifft nicht zu. Der Wandel, den wir durchlaufen, basiert auf unserem internen Expertenwissen sowie auf der erfolgreichen Zusammenarbeit mit unseren Kunden und Partnern, die wir in der Vergangenheit aufgebaut haben. Wir entwickeln die IT-Welt weiter, erfinden sie aber nicht von Grund auf neu. Diese iterativen Prozesse hat es schon immer gegeben, nur eben in einer anderen Geschwindigkeit.

Aber der Zeitdruck ist heute doch ein anderer, oder?

Das stimmt natürlich. Die Zeitfenster, in denen wir agieren, sind deutlich kürzer geworden, und alle spüren den Druck, den Wandel schnell hinzubekommen. Manche mögen das als Störfaktor empfinden. Früher hatten wir tatsächlich mehr Zeit für Veränderungen und konnten uns evolutorisch nach vorne entwickeln. Die Kunst scheint mir nun, die richtige Balance zu finden zwischen Evolution und Revolution.

An welchen Stellen haben sich Organisation, Arbeitsabläufe, Aufgaben und Führungskultur verändert?

Das Business und die IT sprechen wieder intensiv miteinander, weil sie vor den gleichen disruptiven Aufgaben stehen. Die jüngsten Ereignisse in der Automobilbranche haben gezeigt, dass beide Seiten dazu in der Lage sein müssen, sich schnell an völlig neue Szenarien anzupassen. Das Zusammenspiel von Fachbereichen und Unternehmens-IT hat einen anderen Stellenwert bekommen. Konsequenterweise hat das Mahle-Management Mitte dieses Jahres entschieden, dass die IT nicht länger eine bloße Servicefunktion ausübt, sondern eine Governance-Aufgabe wahrnimmt.

Konkret: Wir tragen konzernweit und im Einklang mit den Unternehmenszielen die Verantwortung für eine standardisierte IT-Versorgung und gewährleisten zudem die Stabilität und Robustheit der Prozesse. Der Dialog, den wir derzeit führen, macht allen Beteiligten deutlich, dass wir an vielen Punkten eine starke Kollaboration brauchen. Künftige Businessmodelle und die Entwicklung neuer Produkte fordern die IT. Die duale Unternehmensstrategie von Mahle zahlt auf eine Zukunft ein, in der nicht nur das bestehende Produktportfolio eine Rolle spielt, sondern auch zusätzliche Felder wie die E-Mobilität, Software und Services. Damit ist die IT Teil des Business.

Ein harter Schnitt für Mahle?

Ein notwendiger Schnitt, der – das sage ich ganz offen – für die IT nicht ganz einfach ist, da wir uns aus vielen Komfortzonen verabschieden müssen. Wir heben wirklich jeden Baustein im Portfolio hoch und betrachten ihn unter dem Aspekt der neuen Anforderungen. Ist er geeignet, legen wir ihn zurück. Wenn dem nicht so ist, wird er entsprechend weiterentwickelt.

Sie berichten an Finanzvorstand Michael Frick. Ist Ihr Geschäftsauftrag tatsächlich in die Zukunft gerichtet oder verwalten Sie am Ende doch nur eine Kostengröße in der Gegenwart?

Das kann ich ganz klar verneinen. Unser CFO Michael Frick hat mich Anfang 2017 bewusst zu Mahle geholt, um die duale Strategie und damit auch den digitalen Wandel des Unternehmens zu begleiten und zu unterstützen. Ich habe damit keinen reinen Kostenauftrag übernommen, sondern ich habe den Auftrag, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die uns die Standardisierung und Automatisierung von IT-Services bieten. Es geht darum, global zu skalieren und regional verteilte Ressourcen optimal einzusetzen.

Dass wir dadurch auch am Ende einen deutlichen Kostenbeitrag leisten werden, ist selbstverständlich. Der inhaltliche Fokus ist aber deutlich weiter gefasst. Das zeigt sich auch im IT-Budget: Mittel, die wir bislang auf der operativen Ebene aufgewendet haben, um Individualität und Komplexität zu finanzieren, schichten wir in neue Technologien und Innovationen um. Am Ende werden wir die IT-Kosten nicht mehr als monolithischen Ausgabenblock begreifen, sondern differenziert als Produktentwicklungskosten oder als zweckgebundenen Aufwand auf der Businessseite sehen.

Können Sie ein greifbares Beispiel geben?

Nehmen Sie die Kosten, die mit dem Aufbau und der Inbetriebnahme eines Digital Automatization Office verbunden sind. Diese neue Kompetenzeinheit soll digitalisierte Automatisierung in den Fachbereichen unterstützen – angefangen bei der Identifizierung von Ineffizienzen im Prozess durch Process Mining über Robotic Process Automation bis hin zu Risk Based Maintenance. Das alles sind Leistungen, die das IT-Budget zunächst belasten, bei denen der Mehrwert aber eindeutig im Business liegen wird. Die Umschichtung in der Kostenplanung ist inzwischen weitgehend akzeptiert. Diskutiert wird aber noch die Frage, ob und in welcher Form die Fachbereiche auf den konkreten Businessnutzen verpflichtet werden können.

Dann kommt die digitale Transformation doch eigentlich einem riesigen Changeprojekt gleich …

Ja. Unter den mehr als 800 Mitarbeitern in der Mahle-IT weltweit fällt es einigen leicht, diesen neuen Weg zu gehen, andere wiederum tun sich schwer. Es ist völlig normal, da unterschiedliche Emotionen im Spiel sind, die von Euphorie und Aufbruchstimmung bis hin zu Bedenken und Angst reichen. Schließlich haben wir es mit Menschen zu tun, die aus verschiedenen Regionen der Welt kommen und einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund haben. Wenn ich möchte, dass am Ende alle an einem Strang ziehen, darf ich nicht mit der Faust auf den Tisch hauen oder die neuen Direktiven kommentarlos an die Türen nageln. Veränderungen brauchen geistigen Spielraum und Luft zum Atmen – und ich muss akzeptieren, dass es zu Aussprachen kommt, die nicht immer angenehm sind. Man darf sich dennoch auf dem Weg ans Ziel nicht beirren lassen. Aber das Team und das Verfolgen eines gemeinsamen Ziels werden immer der Schlüssel zum Erfolg sein.

In der Vergangenheit war die Mahle-IT dezentral aufgestellt und regional orientiert. Ein weltweit einheitlicher Servicekatalog fehlte. Ist das noch immer so?

Ja, aber die Betonung liegt auf „noch“. Im ersten Quartal 2018 haben wir dedizierte Service Owner benannt, die bis Ende dieses Jahres einen weltweit einheitlichen Servicekatalog spezifizieren werden. Das kommt einem großen Schritt gleich, weil unsere Teams aus einer lokalen Versorgungsfunktion in eine globale Verantwortung wechseln. Strukturen, Prozesse, Funktionen und Tools müssen dem gerecht werden. Mit einer ITIL-Foundation-Schulung sowie einer Lean-Admin-Initiative, die alle IT-Mitarbeiter absolvieren, legen wir die Basis für ein gemeinsames Verständnis und eine abgestimmte Vorgehensweise. Nur dadurch wird es uns gelingen, globale Systeme als globale Einheit zu betreuen. Wir nutzen unsere Diversity, Skalierung und regionale Ressourcenallokation, um globale Plattformen und 24/7-Servicemodelle zu ermöglichen.

Sie wollen Fachwissen in sogenannten Centers of Expertise bündeln. Wie kommt diese neue Struktur in den IT-Teams an und wie in den Fachbereichen?

Das ist für alle Beteiligten eine neue Situation und da gibt es sicher noch viel zu lernen. Aber auch hier zeigt sich, dass Digitalisierung nicht nur technologischen Fortschritt mit sich bringt, sondern zu allererst einen kulturellen Umschwung erfordert. Darüber haben wir bereits gesprochen. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Mahle-IT in der neuen Aufstellung mit fünf Centern of Expertise die Anforderungen aus den Fachbereichen perfekt bedienen wird. Die Verantwortung ist weltweit klar geregelt und der Zugriff auf Expertenwissen gewährleistet.

Das Produktspektrum von Mahle wandert Schritt für Schritt in Felder, die von Elektrik/Elektronik, Software und digitaler Vernetzung geprägt sind. Welche Aufgaben leiten sich daraus für die Group-IT ab?

Wir treiben die Digitalisierung in Kooperation und Kollaboration mit anderen Fachabteilungen massiv voran. Allerdings ohne eine IT innerhalb der IT zu schaffen, die sich speziell dieses Themas annimmt. Zwei getrennte Bereiche – die womöglich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sind – machen überhaupt keinen Sinn. Mein Ziel ist es, die Mahle-IT als Enabler für die Digitalisierung zu wandeln. Wir müssen einerseits unsere traditionellen Kernaufgaben erfüllen, andererseits in einem agilen Umfeld kreativ sein. Die Symbiose aus beidem macht den Unterschied. So wie unsere Enterprise-Architekten Veränderungen bei den Infrastrukturservices anstoßen, sollen Digitalisierungsarchitekten Neuerungen bei Technologien und Innovationen befeuern. Dazu brauchen wir zusätzliche Qualifikationen in der IT und müssen einen aktiven Dialog mit dem Business führen.

Ganz konkret: Mahle hat ein großes Projekt mit dem Namen More aufgelegt, um die SAP-Landschaft konzernweit zu konsolidieren. Wo stehen Sie damit aktuell?

Wir werden in den nächsten Jahren mit einem hohen Millionen-Euro-Budget tatsächlich die gesamte ERP-Systemwelt umbauen und werden technologisch auf SAP/S4 Hana wechseln. Wir trennen uns aktuell von 102 Produktivsystemen und nehmen diese Konsolidierung zum Anlass, unsere Prozesse zu standardisieren – über Geschäftseinheiten und Regionen hinweg. So betrachtet, ist More kein reines IT-Vorhaben, sondern ein Transformationsprojekt auf Konzernebene. Der digitale Backbone, der uns vorschwebt, umfasst zudem weltweit einheitliche Systeme für HR, Product Lifecycle Management, MES, Reporting und Einkauf. Sie sehen: Die IT selbst macht keine Digitalisierung, aber sie gibt dem Unternehmen das erforderliche technische Rüstzeug an die Hand.

Mahle ist ein Stiftungsunternehmen, was gemeinhin nicht für Risikofreudigkeit spricht. Hemmt Sie dieser Umstand beim Experimentieren und Vorausdenken?

In meiner Wahrnehmung sind Stiftungsunternehmen nicht risikoavers, sondern sie operieren aus einer Nachhaltigkeits­perspektive heraus. Es geht nicht wie bei börsennotierten Unternehmen darum, Analysteneinschätzungen oder die kurzfristigen Gewinnbedürfnisse von Anlegern zu bedienen, sondern langfristig das Richtige zu tun. Das wird oft verwechselt.

Nur weil wir als Stiftungsunternehmen überstürzte Ad-hoc-Entscheidungen vermeiden, scheuen wir noch lange nicht das Risiko. Im Gegenteil: Wir kalkulieren es genau und richten unser Handeln darauf aus, unseren Kunden langfristig einen Mehrwert zu bieten und für unsere Mitarbeiter eine lebenslange berufliche Perspektive sicherzustellen. Um Ihre Frage zu beantworten: Wir haben die Möglichkeit, neue Dinge auszuprobieren – und davon machen wir redlich Gebrauch.

Bilder: Claus Dick

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