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Das Startup NuTonomy hat bereits mehrere Renault Zoe auf Singapurs Straßen im Einsatz. (Bild: NuTonomy)

Der große Raum ist halb Büro, halb Garage: Vier kleine Elektroautos stehen nebeneinander aufgereiht. Aus den Computern in den offenen Kofferräumen führen Kabel zu Computern auf den Schreibtischen. Die Bereiche sind nicht abgetrennt, einzig der winzige Konferenzraum mit Whiteboard und Videowand hat eine Tür. An den Schreibtischen sitzen junge IT-Experten im T-Shirt. Willkommen bei NuTonomy, einem Startup für autonome Mobilität. Sein Ziel ist „Punkt-zu-Punkt-Mobilität mithilfe großer Flotten selbstfahrender Autos“.

Technologischer Kern ist die neuartige Software NuCore für autonome Navigation. Sie basiert auf formaler Logik mit hierarchisch angelegten Regeln – anstatt dem üblichen maschinellen Lernen. Das System entwickelten die Gründer des kürzlich vom Autozulieferer Delphi übernommenen Startups: Karl Iagnemma und Emilio Frazzoli, zwei Experten für Robotik und intelligente Fahrzeugtechnik am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Singapur ist neben Boston die erste Testbasis des Unternehmens mit mehreren Fahrzeugen. In Singapur kooperiert NuTonomy bereits mit Asiens größtem Fahrtenbuchungsdienst Grab, um das gezielte Rufen autonomer Taxis mit einer App zu testen. „Singapur ist der ideale Ort, um autonome Autos zu entwickeln“, schwärmt Doug Parker, Chief Operating Officer von NuTonomy und Leiter des Standorts Singapur. „Es gibt tolle Straßen ohne Schlaglöcher, Schnee oder zu hohe Berge. Die Verkehrsteilnehmer halten sich an die Regeln und niemand ist dauernd am Smartphone.“ Auch habe Singapur eine klare Strategie und wolle unbedingt autonome Taxis voranbringen.

In der Tat ist der tropische Stadtstaat einer der Vorreiter weltweit beim Thema selbstfahrende Autos. „Die Regierung hat autonomes Fahren als Schlüsseltechnologie für einen effizienteren, sicheren und verlässlichen Transport von Menschen und Gütern identifiziert“, betont Tan Kong Hwee, Director Transport Engineering am Singapore Economic Development Board. Ein zentraler Punkt ist die autonome Mobilität auf Nachfrage. Pendler sollen autonome Shuttles oder Pods mit dem Smartphone buchen können, um zum Beispiel von der U-Bahn nach Hause zu fahren.

Ab 2022 werde es Pilotprojekte für autonomen Transport auf dem sogenannten letzten Kilometer in drei Vorortvierteln geben, sagt Singapurs Verkehrsminister Khaw. Interesse an diesem Programm hat unter anderem Volkswagen mit seinem autonomen Fahrzeugkonzept Sedric bekundet. „Singapur ist sehr fortgeschritten bei diesem Thema“, sagt Johann Jungwirth, Chief Digital Officer von VW. „Wir schauen uns die Pläne in den neuen Vierteln sehr ernsthaft an und werden definitiv ein Angebot abgeben.“

Autonome Fahrzeuge sollen Singapur helfen, eine Lösung für zwei drängende Probleme zu finden: In dem nur 719 Quadratkilometer großen Stadtstaat mit 5,6 Millionen Einwohnern sind Land und Personal knapp. „Zwölf Prozent der Fläche werden schon jetzt für Straßen und ihre Infrastruktur genutzt – mit 14 Prozent kaum mehr für Wohnungen. Mehr Straßen können wir nicht bauen“, sagt Lam Wee Shann, Direktor für Technologie und Industrieentwicklung bei der zuständigen Behörde Land Transport Authority.

Es gebe in Singapur zudem nicht genug Bus- und Lastwagenfahrer, so Lam. Daher plant die Stadt je zwei Testprojekte für Zwölf-Meter-Busse sowie Laster-Platooning. Auf seinem Bildschirm zeigt Lam die Grafik einer Grünanlage zwischen modernen Häusern, darunter mehrere Ebenen für den Verkehr. Es ist die Vision der Stadt für die Zukunft: „Wir hoffen, dass autonome Fahrzeuge die Oberfläche künftig zurückgeben können an Grünflächen, Spielplätze und mobile Geschäfte.“

Das wichtigste Testgebiet der Stadt sind 55 Kilometer öffentlicher Straßen im neuen Hightech-Viertel One-North sowie dem angrenzenden Stadtteil Buona Vista. Dort testen mehrere Startups und Forschungsgruppen autonome elektrische Kleinwagen mitten im Verkehr. Ihre Vehikel müssen zwischen Fußgängern, Lieferwagen und Motorradfahrern navigieren, an Ampeln stoppen und richtig abbiegen. „Reale Bedingungen beschleunigen die Fortschritte“, ist Lam überzeugt. Erste fahrerlose Shuttles wurden bereits mit realen Passagieren getestet – etwa an der Nanyang Technological University (NTU) und in der Parkanlage Gardens by the Bay.

Die Ergebnisse werden derzeit ausgewertet, weitere Testprojekte sind in der Pipeline. Solche Tests sind wichtig, um die Reaktion der Menschen zu verstehen. Generell seien vor allem junge Menschen aufgeschlossen, sagt Niels de Boer, Direktor für Future Mobility Solutions an der NTU. „Interessant ist es, wie ältere Menschen auf die Technik reagieren.“ Dazu will de Boer im 2017 gemeinsam mit der Stadtregierung eröffneten Testzentrum für autonome Fahrzeuge Cetran Tests für Wohnviertel entwickeln. Cetran ergänzt zudem die Straßentests. „Hier können wir die Testfahrzeuge mit Situationen konfrontieren, die auf der Straße zu gefährlich wären“, sagt de Boer. So rennen etwa Dummys plötzlich auf die Fahrbahn, eine Regenteststrecke simuliert Wolkenbrüche oder Aquaplaning.

Außerdem entwickelt Cetran Standards für die Fahrzeugtests und ihre Auswertung, etwa in den Bereichen Coding, funktionale Sicherheit oder Vernetzung. Globale Standards für Tests vollautomatischer Autos im Stadtverkehr gebe es bisher nicht, sagt de Boer. „Daher entwickeln wir solche Standards lokal hier.“ Am Cetran werden die Fahrzeuge für die Straßentests zertifiziert. Ohne Sicherheitsfahrer darf bisher niemand auf der Straße testen. „Unser Ziel ist es, Standards auch für Tests ganz ohne Fahrer zu entwickeln“, sagt de Boer. Eine Besonderheit in Singapur ist, dass der Stadtstaat mit sehr wenig Infrastruktur auskommen will. Danach müssen sich die Entwickler richten, sagt Lam: „Autonome Fahrzeuge müssen in unserem Konzept selbst wissen, wo sie sich befinden, und mit wenig Hilfe operieren.“

Die NuTonomy-Vehikel brauchen keine Infrastruktur, sagt Doug Parker. Die Kleinwagen – derzeit mehrere Renault Zoe, demnächst gemäß einer neuen strategischen Partnerschaft mit PSA zudem einige Peugeot 3008 – sind rundum mit Kameras, Radar und Lidar ausgestattet. NuCore programmiert die Autos auf ein System hierarchisch angeordneter Regeln, ähnlich den berühmten „Drei Regeln der Robotik“ des Sciencefiction-Autors Isaac Asimov.

Regel eins schreibt vor, dass der Roboter keinen Menschen verletzen darf, weder absichtlich noch fahrlässig. Nach Regel zwei muss er alle Befehle eines Menschen befolgen – es sei denn, diese Befehle verletzen Regel eins. Regel drei wiederum verlangt, dass der Roboter sich selbst schützen muss – es sei denn, er verstößt dabei gegen die Regeln eins oder zwei. Bei NuTonomy gilt als oberste Regel für die Fahrzeuge, keine weichen Objekte – also Menschen oder Tiere – zu treffen. Theoretisch will das Fahrzeug alle Regeln einhalten. Doch manchmal muss es eben nachrangige Regeln verletzen, um die wichtigsten einhalten zu können.

Auf Ethik oder Recht basierende Regeln haben generell Vorrang vor Dingen wie Gewohnheitsregeln. Ein Beispiel: Ein Laster parkt auf der Fahrbahn. Das Auto muss also ausweichen. Denn es hält die Regel ein, keine Objekte zu treffen. Dafür verstößt es gegen Regeln, die verlangen, mit konstantem Tempo zu fahren oder die Spur zu halten. Die Software nutzt einen Planungsalgorithmus namens RRT, eine Variante sogenannter „rapidly exploring random trees“, die einen Raum mit zufällig ausgewählten, verzweigenden Pfaden anlegen.

Ein System, das auch für autonome Roboterbewegungen eingesetzt wird. Wie viele Regeln es gibt, verrät Doug Parker nicht. „Es sind mehr, als man denkt.“ Das Nahziel von NuTonomy ist es, demnächst mit Grab eine erste Flotte Robotaxis auf die Straße zu bringen. Das Fernziel der Partnerschaft mit PSA ist ambitionierter: „Der Einsatz tausender vollautonomer Autos in Städten weltweit.“ Singapur soll dafür der Startpunkt sein.

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