automotiveIT 12/2012

Wenn am Abend die Rallyeautos zum Service zurückkehren und sich vom Stress des Tages erholen, geht der Stress für Cameron Jackson erst los. Der Animationsexperte lässt dann die entscheidenden Szenen des Tages noch einmal Revue passieren – und zwar rein virtuell (automotiveIT 12/2012).

Es begann mit endlosem Blau. Als Volvo anfing, viel Geld in eine Segelrennserie rund um die Welt zu investieren und Fernsehverträge abzuschließen, gab es ein Problem: Segeln ließ sich einfach schwer übertragen. Die Boote lagen häufig außer Sichtweite zueinander, fuhren auf unterschiedlichsten Kursen bei verschiedenen Windrichtungen. Wie sollte man dem Zuschauer vermitteln, wer eigentlich vorn lag? Wenn es eine Nation gibt, die absolut verrückt nach Segeln ist, dann ist es Neuseeland. 1995 war der America’s Cup an den Inselstaat gegangen – ein Volksfeiertag. 2000 gelang es gar erstmals einer anderen Nation als der amerikanischen, die „Kanne ohne Boden“ zu verteidigen. Jetzt musste das Segeln nur noch attraktiver für den Fernsehzuschauer werden. Und prompt war es eine neuseeländische Firma, deren Entwickler eine Software namens „Virtual Spectator“ programmiert hatten, mit der sich eine Regatta virtuell begleiten ließ. Das Prinzip ist einfach, war aber erst umsetzbar, als die Rechner schnell genug wurden, genug Speicherkapazität hatten und das satellitengestützte Global Positioning System GPS ausreichend genaue und schnelle Daten lieferte. Virtual Spectator stützt sich auf GPS-Daten. Mit ihnen lassen sich die Position jedes Bootes und – mit Hilfe des Faktors Zeit – auch dessen Kurs und Geschwindigkeit nachvollziehen. Wie beim Fußball, wo die TV-Produzenten imaginäre Linien perspektivgetreu ziehen, um beispielsweise eine Abseitsposition zu überprüfen, zogen die Männer des Virtual Spectators ihre Linien über den Ozean. Das dreidimensionale Bild ließ sich aus jedem beliebigen Winkel betrachten, und so konnte der Zuschauer nach Wunsch blitzschnell in die Vogelperspektive versetzt werden und sehen, welches Boot nun wirklich vorn lag. Als das Team New Zealand bei der Titelverteidigung im America’s Cup 2003 gegen die Schweizer Alinghi-Mannschaft antrat, konnten Internetabonnenten die Rennen in voller Länge oder im Schnelldurchlauf anschließend noch einmal sehen. Die Fernsehsender benutzten das Programm als Ergänzung, um rennentscheidende Situationen für den Betrachter nachvollziehbarer zu machen. Der einzige Schönheitsfehler für die Neuseeländer lag darin, dass sie gegen Alinghi 0:5 verloren.

David Richards hat mit dem Alinghi-Syndikat nichts zu tun, war aber einer der Gewinner. Der Besitzer des Subaru-Werksteams hatte zu Beginn des neuen Jahrtausends die Fernsehrechte an der Rallyeweltmeisterschaft übernommen und suchte nun nach Möglichkeiten, auch diese Randsportart fernsehtauglicher zu machen. Inboard-Kameras hielten Einzug, Hubschrauber verfolgten die Autos aus der Luft und ein speziell entwickeltes Trackingsystem zeigte den Teamchefs jederzeit die Position ihrer Autos auf einem Computermonitor. Das Trackingsystem arbeitet GPS-gestützt, und mit der Montage der GPS-Sender auf den Autodächern war auch der Grundstein gelegt, um Virtual Spectator in den Automobilsport zu bringen. Warum aber all der Aufwand? „Unser Sport ist eben ein reiner Wettkampf gegen die Uhr und kein direktes Rennen. Wir machen daraus einen direkten Vergleich“, sagt Cameron Jackson. Der Mann aus Hull in Yorkshire ist beim aktuellen WM-Vermarkter North One die One-Man-Show für die virtuelle Welt. Autos hintereinander in den gleichen Streckenpassagen durchs Bild fahren zu lassen, das sorgte bis Ende der neunziger Jahre nur bei Fahrstilfetischisten für Spannung. „Es geht am Ende darum, eine Geschichte zu erzählen“, sagt Jackson. Der 32-Jährige hockt inmitten von Transportkisten in der Vorhalle eines Straßburger Sportzentrums. North One überträgt am Wochenende die Rallye Frankreich. Der mit Sperrholzwänden abgeteilte TV-Bereich ist schon Luxus, im Normalfall hockt die TV-Truppe in zwei großen Sattelzügen, die von Rallye zu Rallye mitfahren. Motorradkuriere bringen die bespielten Bänder der Kamerateams zurück zum Sendezentrum im Service-Park. Wenn die Topautos von den Prüfungen zurückkehren und an der Zeitkontrolle am Service-Eingang parken, versenken sich noch vor den Mechanikern die TV-Leute in den Fahrgastraum, um den Rekorder der Inboard-Kameras zu plündern.

Die Zeit drängt, denn um 21 Uhr muss eine halbstündige Tageszusammenfassung stehen, die in über 60 Ländern der Welt gezeigt wird. Bei jeder Highlight-Show ist mindestens eine virtuelle Sequenz vorgesehen. Die Producer entscheiden, welche Rallyesituation sich am besten eignet, und dann wird es hektisch für den Meister der Polygone. Wenn er Glück hat, wollen die Herren der Sendung lediglich eine einfache Sequenz mit Zwischenzeiten. Dazu reichen ein paar hundert Meter Strecke, eine Linie an einem bestimmten Punkt, eine eingeblendete Stoppuhr. Es folgen die unerlässlichen Werbebanner der Sponsoren. Schließlich setzt Cameron Jackson die Autos ins Bild, so dass der Zuschauer nicht nur einen abstrakten Zahlenwert erkennt, sondern die tatsächlichen Abstände der Teilnehmer in Metern, so als wären sie nicht im Zweiminuten-Abstand gestartet, sondern gleichzeitig.

Eine Rallyestrecke ist allerdings ein bisschen komplexer als der glatte, blaue Teppich eines Ozeans. Jackson schaut sich im Normalfall die realen Fernsehbilder der betreffenden Passage an. Gab es dort keine Bodenkamera, gibt es die Inboard-Bilder. Sind die nicht aussagekräftig genug, gibt es vielleicht Hubschrauberbilder. Um sich Landschaft und Geländeprofile anzusehen, verwendet der Animateur Google Earth. Dann öffnet er den Strecken-Editor des „WRC Stage Simulator“, wie die Software seit letztem Jahr heißt. Weil es mit Virtual Spectator Lizenzschwierigkeiten gab und die Rallyevermarkter zudem ein speziell zugeschnittenes Werkzeug für ihre Zwecke haben wollten, haben sie nun ihr eigenes Programm. Die Datenbank des Strecken-Editors stammt allerdings noch aus den früheren Zeiten. Hier kann sich Jackson blitzschnell bedienen und in Minuten entlang bunter Dreiecke und Linien eine asphaltierte, vereiste oder geschotterte Piste über das Gitternetz eines Höhenprofils legen. Eine kahle Hügellandschaft bepflanzt er ebenfalls in Minuten mit tausenden von Bäumen. Befindet sich an der betreffenden Stelle ein Telegrafenmast oder eine Holzhütte, hat er auch die im Fundus.

Der Stage Simulator funktioniert bisher nahezu wie ein banales Computerspiel, nur dass hier in kürzester Zeit etwasabgebildet wird, das möglichst genau der Realität entsprechen soll. Eine kurze Split-Time-Sequenz kann Jackson in einer Stunde zusammenbauen. Komplizierter wird es, wenn sich die Autos über eine Teilstrecke bewegen sollen. Wie hat sich einsetzender Regen auf den Verlauf einer vorher trockenen Strecke ausgewirkt? Ab wann genau hat Weltmeister Sébastien Loeb viel Zeit verloren, als die vor ihm gestarteten Fahrer in Sardinien die Luft so eingestaubt hatten, dass der Citroën-Superstar fast anhalten musste, weil die Sicht gleich null war. Der Wunsch von North One ist, künftig Prüfungen mit dem Hubschrauber abzufliegen und dessen Kamerabilder gleich in ein virtuelles Modell umzusetzen, aber das ist noch Zukunftsmusik. Die neueste Generation des Programms produziert als Garnitur hinter den Autos auch eine hübsche Staubwolke. Verglichen mit der ursprünglichen Version gibt es nun deutlich detailliertere Texturen und mehr Untergrundvarianten. Der nächste Schritt sind Spezialeffekte. „Wir arbeiten im Moment an wegfliegenden Steinen auf der Straße, hochgewirbelten Blättern und spritzenden Fontänen an Wasserdurchfahrten“, sagt Jackson. In Zukunft wird auch das Auto am Ziel einer Prüfung schmutziger sein als am Start. Das ist insofern schade, als dann die liebevoll gestalteten Lackierungen mitsamt Sponsoraufklebern nicht mehr zu sehen sind. Jedes Jahr vor Saisonbeginn muss Jackson alle wichtigen Fabrikate am Rechner nachbauen. Da seit 2011 ein neues Reglement gilt und die Werksteams mit neuen Modellen an den Start gehen, war der Januar besonders hektisch. Das Problem verschärft sich noch, da viele Teams erst kurz vor dem ersten Einsatz ihre fertig beklebten Autos präsentieren. Fotos von allen Seiten sind Mangelware. „Oft haben wir die Lackierungen noch während der Rallye fertig gemacht“, verrät Jackson. Die wenigsten Zuschauer bemerkten, dass mancher Aufkleber am Ende an anderer Stelle klebte als am Beginn der Rallye.

Seit dieser Saison muss Jackson zudem die Top Zwölf in einer Reihe antreten lassen, wie eine Startaufstellung in der Formel 1. Fahren plötzlich seltene Gaststarter nach vorn, muss Jackson auch deren Lackierung in Windeseile herzaubern. Wenn das Ford-Werksteam zudem im Elsass entscheidet, spaßeshalber plötzlich mit komplett mattschwarzen Fiestas anzutreten, erhöht sich die Schlagzahl abermals. Verständlicherweise liebt es Jackson, wenn er die Dinge ausnahmsweise in Ruhe anfertigen kann. Und so dreht er stolz ein durchsichtiges 3D-Modell am Bildschirm, in das er eine Servolenkung mit Hydraulikleitungen eingebaut hat. Überhaupt arbeitet er gern am Design der Autos, nur muss er sich dabei beschränken. Virtual Spectator kam früher zuweilen ins Stocken, wenn Landschaft und Fahrzeuge zu komplex wurden. Das neue System ist schneller, aber trotzdem darf ein Auto aus nicht mehr als 12 000 Polygonen bestehen. Eine fertige Sequenz, die als Quicktime-Video abgespeichert wird, sollte nicht mehr als ein Gigabyte aufweisen. Bisher wird noch nicht in HD, sondern im Standardformat zwischen 720 und 1920 Pixeln Breite gesendet. Die längste Einspielung, die Jackson in den fünf Jahren bei North One bauen musste, dauerte 40 Sekunden, ein kompletter Überflug über eine Superspecial-Prüfung in Australien. Felder und Wälder sind ein Klacks für den Pixelzauberer, aber im Elsass gibt es eine größere Anzahl von Ortsdurchfahrten. Jackson hat Glück, dass es dort am Wochenende nicht zu einer entscheidenden Szene kommt. „Sonst muss ich ein komplettes Dorf nachbauen, Haus für Haus, wenn es sein muss auch mit Marktplatz und Kirche. In solchen Fällen fahndet er für die Detailgenauigkeit auch noch mit Google Street View. Dabei ist Jackson nicht einfach nur ein virtueller Landschaftsbauer, er ist auch Regisseur und Kameramann. Bei jeder Sequenz muss er entscheiden, welche Perspektive und welcher Winkel den besten Eindruck liefern. Während sich in den ersten Versionen des Virtual Spectators die Autos lediglich steif an der per GPS übertragenen Fahrlinie entlanghangelten, können die Fahrzeuge mittlerweile auch in der Simulation driften. Stabil auf der Linie muss nur die Vorderachse bleiben, das Heck kann beliebig hinterherbaumeln. Eine von Jacksons Lieblingsdisziplinen, aber am schwierigsten umzusetzen, sind Überschläge. Zwar liefert der GPS-Sender pro Sekunde zehn Positionswerte und deren Genauigkeit liegt mittlerweile bei weniger als einem halben Meter, aber in welcher Lage sich das Auto im virtuellen Raum befindet, ist nicht auszumachen. Im dümmsten Fall ruckelt das Auto auf dem Bildschirm dann einfach nur ein bisschen hin und her. Der absolute Ernstfall tritt ein, wenn es von einer wichtigen Szene gar keine Fernsehbilder gibt, zum Beispiel, weil die Inboard-Kamera bei einem heftigen Unfall schon beim ersten Einschlag den Geist aufgegeben hat. So musste Jackson etwa bei der Deutschland- Rallye nachstellen, wie Ford-Werksfahrer Jari-Matti Latvala an einer Schikane aus Strohballen hängen blieb und sich in eine Wiese drehte. An solchen Tagen kommt der Producer zu Jackson und sagt wieder einmal: „Du hast die Daten, du bist die einzigen Augen, die wir haben.“

Autor: Markus Stier

Fotos: Werk

 

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