Marcus Keith, Leiter Digital Business bei Audi

Marcus Keith, Leiter Digital Business bei Audi. (Bild: Claus Dick)

_Herr Keith, Audi-Chef Rupert Stadler möchte, dass die digitalen Geschäfte bis 2020 rund 50 Prozent des Umsatzes ausmachen. Wo stehen Sie heute und wird die Rechnung am Ende wirklich aufgehen?

Vor 15 Jahren war Audi ein reines Hardware-Unternehmen. Inzwischen ist Software ein bestimmender Faktor und wir beschäftigen uns zunehmend mit der Entwicklung von Services. Digitalisierung ist heute ein Teil der Identität von Audi.

_Können Sie uns das verdeutlichen?

Drei Themengebiete stehen im Rahmen unserer Strategie im Vordergrund: die Digitalisierung des Kernprodukts Fahrzeug, die Digitalisierung der Handelsprozesse, und der dritte Schwerpunkt ist die neue Mobilität – das sind die grundlegenden Stellgrößen. Im Fahrzeug nimmt beispielsweise der Anteil von Software und Elektronik stetig zu. Vor ein paar Jahren waren die Ausstattungs- und Einbauraten noch sehr überschaubar. Doch das hat sich inzwischen grundlegend geändert – ein Beispiel: Wir haben beim Audi Virtual Cockpit mit sehr kleinen Stückzahlen begonnen. Heute ist die Ausstattungsrate extrem hoch, weil Kunden begeistert sind und die Vorteile dieser Technologie erkennen. Glauben Sie mir: Wir waren anfänglich selbst überrascht. Ähnlich verhält es sich bei Fahrerassistenzsystemen oder der neuen Car-to-Infrastructure-Technologie, die wir 2016 gelauncht haben. Audi ist digital

_Heißt, die Aussage von Herrn Stadler hat Bestand?

Wenn man die drei Stellgrößen, die ich gerade skizziert habe, zugrunde legt, stimmt die Aussage.

_In der Vergangenheit hat sich der Erfolg eines Automobilherstellers immer daran festmachen lassen, wie viele Einheiten pro Jahr verkauft worden sind. Ein überholtes Denkmodell?

In den nächsten 20 Jahren bleibt diese Messgröße auf jeden Fall bestehen. Daran führt erst einmal kein Weg vorbei.

_Mobilität ist, wie Sie sagen, ein Kernthema. Audi hat den hart umkämpften Markt der Mobilitätsdienste spät für sich entdeckt. Welche Strategie verfolgen Sie heute?

Kunden haben das Bedürfnis – und das gilt vor allem für Megacitys und Metropolen –, ein Auto nicht mehr selbst zu besitzen, sondern Mobilität nach Bedarf zu ordern. Anfänglich war aber nicht wirklich klar, an welchen Standorten, sogenannten Hubs, und in welchem Umkreis wirklich ein Mobilitätbedürfnis vorhanden ist und wie dazu passende Konzepte aussehen könnten. Deswegen hat der Audi-Vorstand 2014 entschieden, Pilotprojekte aufzusetzen, aus denen man erst einmal lernen und am Ende des Tages auch die notwendigen Schlüsse ziehen kann. Ein Resultat ist unter anderem unser Mobility Service Audi on Demand. Per Smartphone können Kunden Fahrzeuge mieten und mobil bezahlen. 2015 haben wir in San Francisco mit einem kleinen Hub angefangen. Lessons learned: Viele Menschen nutzen das Auto verstärkt am Wochenende, dann benötigen sie entweder ein großes Fahrzeug oder bevorzugen auch mal einen Sportwagen für Ausflüge.

Im Stadtzentrum benötigen die meisten Leute eben kein Auto – und wollen es auch gar nicht. Darauf haben wir uns eingestellt und sind mit unseren Hubs in Randgebiete gegangen. Am Münchner Flughafen betreiben wir im Rahmen von MyAudi Sphere einen weiteren Hub. Er basiert darauf, dass Kunden intermodal unterwegs sind und sich am Airport ein Auto nehmen, um die Reise schnell und komfortabel fortzusetzen. Sie buchen sich dann beispielsweise vielleicht ein sportliches Modell oder kommen von einer anderen Marke und nutzen das Angebot für eine Probefahrt unter realen Bedingungen. Letztlich bleiben sie flexibel und benötigen keinen Mietwagen.

_Das wird den Vermieter Sixt freuen. Sie setzen mit Audi on Demand primär auf das Premiumsegment. Macht das Sinn?

Das ist eine Konzernentscheidung. Die VW-Mobilitätstochter Moia bedient Mobilität on Demand im Allgemeinen, Audi wiederum exklusive Premiummobilität mit Fahrzeugen on Demand. Es macht ja auch keinen Sinn, wenn wir alle in dieselbe Richtung zielen. Im Endeffekt aber üben wir auch den Schulterschluss, denn die Kunden werden ja in den meisten Fällen die Services übergreifend nutzen – am besten sogar über dieselbe ID. Abschottung macht meiner Auffassung nach keinen Sinn. Ich bin überzeugt: Wir brauchen eine gewisse Vernetzung mit anderen Angeboten, um das eigene Ökosystem interessant zu machen. Wir wollen unsere Kunden nicht einschränken, sondern ihnen flexible Möglichkeiten bieten.

_Wo stehen Sie nach der Pilotphase?

2016 hatten wir bereits rund 2500 registrierte Kunden, ein Jahr später 12 000 – wohlgemerkt in der Pilotphase. 2018 planen wir im sechsstelligen Bereich und bis 2020 peilen wir eine Million registrierte Kunden an. Beim derzeitigen Rollout schauen wir genau, wo die Hubs gesetzt werden: am Stadtrand, an Flughäfen, bei Händlern. Die haben ja auch einen Fuhrpark, der oftmals nicht rund um die Uhr genutzt wird. Auch das eröffnet Chancen. Es verhält sich ein wenig wie beim Community-Marktplatz Airbnb: Der Audi-Handelsbetrieb kann sich bequem auf einer zentralen Buchungsplattform, die übrigens von der Audi Business Innovation GmbH entwickelt wurde, anmelden und seine Fahrzeuge hochladen. Kunden wiederum finden auf der Plattform den für sie passenden Standort, ihre bevorzugten Fahrzeugmodelle und buchen sie dann einfach. Die Abwicklung ist simpel, da sie in den meisten Fällen bereits eine eigene Audi-ID besitzen. Mit wenigen Klicks kommen sie zu ihrem Auto. Zudem hilft ein beteiligter Concierge-Service bei der Übergabe oder liefert das Auto sogar an einen bestimmten Punkt. Bei Tests kam dieser Service sehr gut an. So stellen wir uns moderne Mobilität und positive Customer Experience vor. Fest steht: Mit den Hubs am Stadtrand, den Handelsbetrieben und Flughäfen bekommen wir eine gute Abdeckung hin.

_Mit Audi on Demand sind sie bereits in Peking, San Francisco, München und Hongkong tätig. Wie sehen die nächsten Schritte aus?

Wir expandieren, wo es Sinn macht. In Singapur sind wir im Januar mit dem ersten Händler live gegangen. Das Vereinigte Königreich und Tokio folgen im Lauf des Jahres. Wie gesagt: Der Footprint muss passen, wir wollen ja schließlich ein funktionierendes Geschäftsmodell aufbauen.

_Wie erfolgt die Auswahl?

Ein Beispiel: Mit Standorten an den Top Ten der Airports deckt man in den USA rund 80 Prozent des Flugverkehrs ab. Damit bekommen Sie den nötigen Traffic und eine gute Buchungsquote. Das war ja auch ursprünglich die Grundidee von Silvercar, einem Startup, das auf die App-basierte Buchung und Nutzung von Mietwagen spezialisiert ist. Denn klar ist: Erst ab einer Auslastung von rund 60 Prozent und mit einer schnell steigenden Registrierungsrate rechnet sich ein solches System.

_Kommen wir kurz zur Digitalisierung des Handels. Welche Möglichkeiten sehen Sie dort?

Unser neues Konzept heißt Customer Private Lounge. In dieser Lounge kann ein Kunde zusammen mit dem Verkäufer auf teilweise riesigen Powerwalls sein Wunschauto zusammenstellen und in Aktion betrachten. Wir arbeiten dabei mit 3D-Animationen, auf denen man Exterieur und Interieur sowie Ausstattungsdetails in Ruhe betrachten kann. 2016 haben wir das Konzept bei den ersten Handelsbetrieben eingeführt, ein Jahr später haben wir die VR-Brille ins Programm aufgenommen. Der Erfolg gibt uns Recht.

_Sind die Händler bereit, in diese Technologien zu investieren?

Durchaus – wobei sich natürlich nicht jeder Handelsbetrieb für das große Paket entscheidet. Wir haben darauf geachtet, dass es Abstufungen gibt, die sich auch mit geringeren Investitionen umsetzen lassen.

_Sie haben das Thema Ökosysteme schon angesprochen. Laut einer Studie bieten digitale Geschäftsmodelle bis 2030 ein Umsatzvolumen von rund 576 Milliarden Euro pro Jahr. Was will sich Audi von diesem Kuchen abschneiden?

Ich möchte etwas vorwegschicken: Wir sind zutiefst davon überzeugt, dass mit MyAudi das richtige Kommunikationsmedium zwischen dem Kunden, dem Handelsbetrieb und uns als Hersteller geschaffen wurde. Es eröffnet die Möglichkeit, täglich, stündlich, sekündlich auf die Kunden zuzugehen. Das war vor fünf Jahren nicht einmal im Ansatz denkbar. Heute trägt jeder von uns sein Smartphone mit sich herum und hat einen schnellen Zugriff auf die Plattform. Die Zahlen bestätigen unser Konzept: Wir haben aktuell in MyAudi bereits rund 1,3 Millionen Kunden und bauen das Ökosystem zügig aus.

Unter anderem lassen sich künftig nachladbare Funktionen buchen – ob das jetzt ein Matrixscheinwerfer ist, der am Anfang nur wie ein LED-Scheinwerfer funktioniert, oder weitere Fahrzeugfunktionen. Das Spektrum ist groß. Oder denken Sie nur an den Aftersales-Bereich: MyAudi bietet diesbezüglich ein enormes Potenzial und viele Chancen. Wir ziehen damit auch einen neuen Verkaufskanal hoch: mit digitalen Produkten, Gebrauchtwagen, Parts, Accessoires, Events und mehr. Stand heute betreiben wir noch zwei Portale MyAudi und Audi on Demand, werden sie jetzt aber zusammenführen. 2025 dürften rund zehn Millionen User auf der konsolidierten Plattform sein – und damit verbunden die entsprechenden Umsatzpotenziale.

_Die wie genau aussehen?

(Lacht) Netter Versuch. Lassen Sie sich überraschen. Wir laden unser Ökosystem nach und nach auf.

_Wer hat den Hut für die Entwicklung und Weiterentwicklung der Systeme auf? Liegt die Verantwortung im Fachbereich und ist dann die Informationstechnik der erste Ansprechpartner, um das Vorgegebene zu entwickeln?

Wir agieren nicht mehr nach der alten Schule, in der ein Fachbereich seine Anforderungen beschrieben und die IT sie umgesetzt hat. Das ist Schnee von gestern. Fachbereiche und IT agieren heute eng zusammen. Wir bilden dauerhafte Einheiten und koppeln sie bei Bedarf mit der Audi Business Innovation in München oder auch mit Fremdfirmen. Nur so können wir erfolgreich Tempo aufnehmen. Beispiel E-Commerce-Plattform: Gestartet ist das Projekt im Oktober 2016, die Markteinführung in Deutschland war bereits im September 2017. Mit der klassischen Wasserfallmethodik wäre das nicht möglich gewesen.

_Automobilhersteller wollen, wie Sie gerade auch ausgeführt haben, eine stärkere Fokussierung auf Kundenbedürfnisse realisieren. Ein Produkt aus Ihrem Haus heißt PIA. Der persönliche Assistent, der auf KI- Technologien aufbaut, soll die Customer Experience verbessern. Wann geht das System im vollen Umfang in Serie und was wird mit Hilfe dieser Technologie möglich sein?

Ich habe PIA vor zwei Jahren zum ersten Mal in einem Vorentwicklungsprojekt erlebt, damals in einem Spracherkenner. Das Erlebnis „Machine Learning“ war frappierend. Die Trefferquote war hoch, gepaart mit einer exzellenten Anbindung des Contents. Man konnte PIA fragen, was man wollte – das System wusste immer eine Antwort. Wir werden PIA jetzt nach und nach in die Fahrzeuge integrieren und an das Audi-Ökosystem anbinden. Damit realisieren wir eine völlig neue Art der Personalisierung. Der aktive Assistent gestaltet über die Machine-Learning-Algorithmen individualisierte Erlebnisse – das reicht über persönliche Fahrzeugeinstellungen, letzte Anrufe und mehr. PIA wird Ihr ständiger Begleiter.

_Also Amazons Alexa im Auto?

Ja, wir wollen PIA mit Alexa verheiraten. Wir sehen Amazon nicht als Konkurrenten. Im Gegenteil: Wir sind mit den Kollegen in den USA im regen Austausch und mit manchen gemeinsamen Ideen sogar schon in der Beta-Phase.

Ihre Einschätzung: Ist KI der Schlüssel für die Mobilität von morgen?

Auf jeden Fall. Was ich in den vergangenen Jahren in den Entwicklungsabteilungen gesehen habe, bestätigt mich darin. Ohne Machine Learning geht nichts mehr. Nehmen Sie nur mal die Möglichkeiten im Bereich Fahrerassistenz. Welche Potenziale stecken künftig in den Systemen, wenn sie selbstlernend sind? Stellen Sie sich vor, sie rüsten diese Assistenten noch mit einer Onlineanbindung aus und nutzen KI im Backend. Vieles läuft dann automatisch, gekoppelt mit extrem schnellen Lernkurven.

_Ist das Auto der Zukunft also „lediglich“ ein Smart Device, das in ein Ökosystem eingebunden wird?

Das Fahrzeug an sich bleibt aus meiner Sicht elementar und entscheidend für ein Premiumerlebnis. Design und Qualität bestimmen unter anderem das Gefühl, in einem geschützten Raum unterwegs zu sein. Dafür werden viele Menschen auch noch 2030 gerne Geld ausgeben. Sie werden aber nicht mehr so oft das Bedürfnis haben, ein Auto tatsächlich zu besitzen. Sie wollen lieber ein für sie passendes Mobilitätsangebot nutzen. Darauf müssen wir reagieren.

_Abschließend. Nennen Sie uns bitte die Top-3-Punkte auf Ihrer Digital-Business-Agenda im Jahr 2018.

Gerne. Eine Skalierung unserer Mobilitätangebote, eine nahtlose Customer Experience im Retailbereich sowie weitere Onlinefunktionen im Fahrzeug.

Dieser Artikel erschien erstmals in carIT 01/2018

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