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Der vollelektrische VW I.D. R Pikes Peak sollte das gleichnamige Bergrennen in Rekordzeit absolvieren – doch aufwendige Test sind auf der Strecke nicht möglich. Der Großteil der Vorbereitung musste im Computer ablaufen.

Wer ein Projekt umsetzen muss, bei dem er erstens Neuland betritt und zweitens keine Zeit hat, der sollte sich die Geschichte von Ikarus vergegenwärtigen. Der baute sich aus Federn und Wachs Flügel, um fliegend der Gefangenschaft auf Kreta zu entkommen. Wir wissen: Die Sache ging schief und die Nachwelt wirft der tragischen Sagenfigur wie einst sein Vater Dädalus bis heute vor, dass er einfach zu hoch geflogen sei, so dass die Hitze der Sonne das Wachs zerschmelzen konnte und ihn abstürzen ließ. Die Wahrheit ist: Es war nicht nur die Flughöhe, die den jungen Griechen das Leben gekostet hat. Das Vater-Sohn-Gespann hätte wohl vor allem mehr Hirnschmalz und Zeit in das Design der Flugkonstruktion stecken sollen. Manch Abergläubige mögen deshalb über einen Standortwechsel nachgedacht haben, als im September 2017 der Plan geboren wurde, mit einem Rennauto gen Himmel zu stürmen. Die Sportabteilung von Volkswagen residiert in Hannover – in der Ikarus-Allee.

Nun sind Technikdirektor François-Xavier Demaison und sein Vorgänger Willy Rampf nicht gerade von der Sorte „Passt scho’“. Als Volkswagen 2013 in die Rallye-Weltmeisterschaft einstieg, entwickelte und testete die Sportabteilung mehr als ein komplettes Jahr, länger als jeder andere Hersteller zuvor. Da hatten sich zwei gefunden: Der französische Extremist, der pausenlos nach jedem Gramm zu viel in seinen Konstruktionen fahndet, und der frühere Formel-1-Ingenieur aus Bayern, der nach ein paar technischen Problemchen auch schon mal eigens zu einem Rallye-Wochenende flog, um Schräubchen auf Schäden zu kontrollieren. Vier Marken-WM-Titel später ist die Rallye-Ära bei VW seit Ende 2016 zu Ende. Willy Rampf war längst im Ruhestand, als das Telefon klingelte. Der 65-Jährige kehrte noch einmal zurück nach Hannover. Erstens wurde angesichts der Eile jeder fähige Mann gebraucht, zweitens war die Aufgabe einfach zu reizvoll, um stattdessen Angeln zu gehen. Zu seinen Sauber-Zeiten in der Formel 1 war Rampf schon Regelwerke mit großen Freiheitsgraden gewöhnt, aber das hier war eine ganz andere Hausnummer. Beim ältesten und berühmtesten Bergrennen der Welt gibt es außer einer Handvoll Sicherheitsbestimmungen in der 1989 eingeführten „Unlimited Class“ keine Regeln. Als Rampf und sein Nachfolger Demaison im vergangenen Herbst über ein neues Siegerauto für das „Race to the Clouds“ nachdachten, hatten sie auf der Habenseite die Daten des Siegerautos von 2017, die Erfahrungen seines Fahrers sowie einen leeren Computerbildschirm. Wo anfangen, wenn praktisch alles erlaubt ist? Es gab nur eine entscheidende Maßgabe – und die betraf den Antrieb: Das neue Siegerauto sollte vollelektrisch bergauf stürmen. Es ging hier nicht nur um Sport oder eine technische Fingerübung, es ging um Politik, viel Geld und ein Stück weit auch um den Ruf eines Unternehmens, das die Sonne lange nicht gesehen hat, weil die Nachbeben von Dieselgate noch immer Aschewolken in den Himmel pusten.

Das Zauberwort heißt Computational Fluid Dynamics (CFD) – wichtige Bauteile wurden am Computer entwickelt, der Rennwagen dann im virtuellen Windkanal erprobt.

Angesichts der Eile ließ Demaison die Rechner anwerfen. Zunächst ermittelte er in diversen Simulationsvarianten das optimale Leistungsgewicht des neuen Rennautos. Theoretisch wären 2000 PS erlaubt und möglich, aber ein durch den massigen Stromspeicher zwei Tonnen schwerer Renner chancenlos. Jedes Kilo ist auf der Rundstrecke ein Feind guter Rundenzeiten. Beim zusätzlichen Kampf gegen die Hangabtriebskraft am Berg sind die Pfunde doppelt hinderlich. Am Ende begnügte man sich mit je einem Elektromotor an Vorder- und Hinterachse, jeder mit einer Leistung von 250 Kilowatt. Um diese umgerechnet 680 PS über die Distanz von 19,99 Kilometern zur Verfügung zu haben, war eine Batterie mit einer Energiemenge von 42 Kilowattstunden nötig. „Das Wichtigste war die Entscheidung für die Batteriegröße. Drumherum konstruierte sich das Auto praktisch selbst“, sagt Willy Rampf. Zur optimalen Platz- und Gewichtsverteilung war ein kleinerer Batterieblock neben dem links sitzenden Fahrer angebracht, ein größerer zweiter Block hinter dem Cockpit. Die nächsten Punkte auf der Liste betrafen Radstand und Fahrwerkskinematik: Im unteren Teil muss ein Pikes-Peak-Renner wendig eine hohe Abfolge mittelschneller Kurven absolvieren, im Mittelsektor agil durch ein halbes Dutzend Spitzkehren lenken und im oberen Abschnitt einige extrem schnelle, langgezogene Kurven meistern. Der dritte Sektor ist der heikelste, nicht nur wegen des Tempos und der fehlenden Leitplanken, sondern vor allem wegen der unzähligen Bodenwellen. Der Berg bewegt sich, und die 1916 auf einem Sandbett über die Granitfelsen gelegte Piste wurde erst Ende 2011 komplett asphaltiert. Ein gutes halbes Jahrzehnt später ist die Fahrbahn alle zehn Meter gerissen. Unerlässlich schon bei den ersten Simulationen war neben Daten wie Lenkwinkel oder Geschwindigkeiten ein digitales Abbild der Rennstrecke. Um ein möglichst präzises Modell der Piste zu erhalten, beauftragte man eine Spezialfirma, die sämtliche 156 Kurven mit hochpräzisen Laserscannern erfasste. „Es gibt weltweit nur eine Handvoll Unternehmen, die so was leisten können“, sagt Benjamin Ahrenholz, Leiter der Abteilung Berechnung und Simulation bei VW Motorsport. Nach Festlegung der Basiswerte für das Chassis gingen die Aerodynamiker ans Werk, verpassten dem Renner ein Cockpit mit Dach, eine Karosserie und einen mächtigen Heckflügel, um trotz dünner Höhenluft genügend Abtrieb zu erzeugen. Windkanalstunden sind kostbar und teuer, Design und Bau diverser Flügelkomponenten erst recht. Den größten Teil der Detailarbeit erledigte mittels Computational Fluid Dynamics (CFD) ein Großrechner der VW-Entwicklungsabteilung. „Wir haben hunderte verschiedener Konfigurationen simuliert“, sagt Simulationsexperte Ahrenholz. Rund 40 Stunden in vier Sitzungen verbrachte ein Modell im Maßstab eins zu zwei im VW-Windkanal. Die vielversprechendsten Teile wurden im 3D-Drucker gefertigt. Nur eine einzige Zwölfstundenschicht bei Porsche in Weissach verbrachte das Rennauto in Originalgröße im Windkanal.

Vor knapp einem Jahrzehnt war der Formel-1-Designer Nick Wirth beim Versuch, einen Grand-Prix-Renner mithilfe von CFD nahezu ausschließlich am Computer zu entwickeln, krachend gescheitert. Aber zum einen ist die Software heute deutlich genauer, und zum anderen „wissen wir ziemlich genau, was eine Simulation leisten kann und was nicht“, sagt Spezialist Ahrenholz. Aber gerade bei einem Unternehmen unter hohem Zeitdruck nahmen die Ingenieure eine gewisse Unschärfe ihrer Resultate zähneknirschend in Kauf. Das Durchrechnen einer Fahrzeugkonfiguration über den gesamten Streckenverlauf dauert gern mal zwölf Stunden, je nach Genauigkeit auch doppelt so lange. Jeder Versuch muss beim VW-Rechenzentrum angemeldet werden, je aufwendiger die Berechnung, umso mehr Prozessoren werden benötigt. Besonders langwierige Operationen schiebt der Rechner in die Warteschleife, damit andere Abteilungen mit weniger komplexen Projekten nicht ewig auf ihre Resultate warten müssen. Um Zeit zu sparen, arbeiten die Designer zuweilen notgedrungen mit gröberen Daten. Die zu berechnenden Körper sind in winzige Würfel eingeteilt, und die lassen sich auf Wunsch einen Zentimeter groß oder einen Millimeter klein gestalten. Wer die Kantenlänge der digitalen Bauklötzchen verdoppelt, verachtfacht den Rechenaufwand. Wochenlang fütterten die schlauen Köpfe in Hannover den Computer vor dem Feierabend, um am nächsten Tag mit der Auswertung beginnen zu können. CFD hilft vor allem beim Lokalisieren heikler Stellen: Wo Druckspitzen auftreten, markiert das Programm die entsprechenden Flächen rot. Im Normalfall biegt der Aerodynamiker die neuralgischen Stellen durch Anheben oder Eindrücken so hin, bis die Software Entwarnung gibt. Beim Ausprobieren von Varianten wie beispielsweise eines Radhauses samt Entlüftung variieren die Ergebnisse selten um mehr als 0,1 bis 0,3 Prozent. Doch die Resultate sind mit Vorsicht zu genießen. Um die Komplexität in Grenzen zu halten, lief die Berechnung im sogenannten Steady-State-Modus, also unter statischen Bedingungen ab.

Nur drei Testtage standen zur Verfügung. Aufgrund des schlechten Wetters in Gipfel- nähe konnte Pilot Romain Dumas im Vorfeld nicht einmal die gesamte Strecke fahren.

Vor dem eigentlichen Rennen Ende Juni 2018 durfte VW exakt an drei Tagen auf der eigentlichen Strecke testen, wobei „Tag“ ein großes Wort ist. Gegen halb drei klingelten die Wecker, der Fahrbetrieb begann bei Hellwerden gegen 5.30 Uhr, drei Stunden später begann das Team wieder einzupacken. Der Pikes Peak ist ein Nationalpark und seit die Zahnradbahn nicht mehr auf den 4302 Meter hohen Gipfel fährt, ist die Straße die lukrativste und wichtigste Attraktion in der Gegend um Colorado Springs. Ab neun Uhr strömen die Touristen auf den Berg. Weil das Wetter im oberen Abschnitt nicht mitspielte, konnte Fahrer Romain Dumas kein einziges Mal vor dem Rennen die gesamten knapp 20 Kilometer absolvieren. Auch die immerhin vier Trainingstage in der Rennwoche waren keine Hilfe, weil die Strecke nur abschnittsweise gefahren werden durfte. Gut, dass der versierte Rallyefahrer, zweimalige Le-Mans-Sieger und dreimalige Pikes-Peak-Bezwinger Dumas die Straße praktisch auswendig kannte. Die Konstruktion stand im Prinzip im Januar, aber bis zur Präsentation und dem ersten Rollout im April blieben nur drei Monate. „Die Zeit war so knapp, dass wir uns Hilfe holen mussten“, sagt Ahrenholz. Denn außer dem Berg selbst betrat man weiteres Neuland: Noch nie hatten die VW-Motorsportler ein Auto mit reinem Elektroantrieb gebaut. Dass die Kollegen der Serienentwicklung schon einige Erfahrung mit E-Modellen haben, half nur bedingt. „Bei Serienautos spielt wegen der Reichweite die Energiedichte eine dominante Rolle, beim I.D. R ging es vor allem um die Leistungsdichte“, sagt Michael Kolb vom VW-Partner Ansys. Das knapp 40 Jahre alte Unternehmen aus Canonsburg in Pennsylvania hat reichlich Erfahrung mit Elektroantrieben und arbeitet neben VW auch mit General Motors oder dem MIT in Boston zusammen.

Das heikle Thema bei der weniger auf Langlebigkeit, aber dafür auf schnelle Leistungsabgabe gedrillten Batterie ist die Betriebstemperatur. Der Powerpack im I.D. R sollte seine 680 PS vom ersten bis zum letzten Kilometer zuverlässig liefern. Dazu mussten die Batteriemodule in einem zehn Grad schmalen Temperaturfenster gehalten werden. Eine Wasserkühlung kam nicht in Frage: „Du weißt doch, wie sehr ich Gewicht hasse“, sagt Chefkonstrukteur Demaison. Der luftgekühlte Prototyp hängt aber ebenso wie die Aerodynamik vom Massenstrom der Luft und zusätzlich von den Außentemperaturen ab, die an einem sonnigen Tag beim Start bis 30 Grad betragen können, bei Wind und Wolken im oberen Abschnitt dagegen bis ins Minus rutschen. Bei Ansys rechnete man mit Parameterstudien diverse Szenarien durch. Das Ergebnis lautete: Die ohnehin zur Sicherheit großzügig dimensionierten Kühlschächte sollten ausreichend sein. Im geparkten Zustand allerdings benötigte das Lithium-Ionen-Kraftwerk zusätzliche Kühlung. Entscheidend war, jede Überhitzung auch nur einer der insgesamt 512 Zellen zu vermeiden. „Sonst kriegt die Batterie einen Knacks, von dem sie sich nie mehr erholt“, sagt der gelernte Ingenieur Kolb. Das Worst-Case-Szenario ist ein Thermal Runaway, bei dem eine einzelne überhitzte Komponente eine Kettenreaktion auslöst, die bis zum Abbrennen der Batterie reichen kann. Sorge, dass die simulierten Werte an der Realität scheitern könnten, hatte man bei den Datenanalysten in den USA keine: „Ziel war eine Abbildungsgenauigkeit von unter drei Prozent. Das entspricht der Fertigungstoleranz der Batterien“, sagt Kolb. Auch bei Ansys hätte man sich mehr Zeit gewünscht, eher sechs als drei Monate. Michael Kolb sagt: „Es gab Situationen, in denen man gesagt hat: Ich brauche einen Schnaps.“

Punktlandung: Die Simulation hatte für den Renntag eine Zielzeit von 7:57 vorausgesagt. Nach 7:57,118 Minuten war Fahrer Dumas tatsächlich auf dem Gipfel.

Wäre der VW-Rekordversuch gescheitert, wäre er in den Sportannalen wohl auch ganz schnell im Fach Schnapsidee einsortiert worden. Runde acht Monate hatte die Mannschaft um Sportchef Sven Smeets geackert, um runde acht Minuten zu unterbieten. Bei 8:13 Minuten lag die Bestmarke von Rallye-Rekordweltmeister Sébastien Loeb in einem Peugeot-Silhouetten-Renner. Aus Furcht, es könnte beim eigenen Projekt etwas schiefgehen, betonten alle Beteiligten in der Öffentlichkeit stets, man wolle lediglich den Rekord für Elektrofahrzeuge brechen. Der lag bei knapp unter neun Minuten und schien auch unter problematischen Bedingungen erreichbar. Doch trotz Panne am Kühlgenerator, trotz Startverzögerung und aufziehender Wolken gelang das Experiment, für das es nur diesen einen Versuch gab. Noch nie war ein Fahrzeug in unter acht Minuten auf den Pikes Peak geflogen. Die Simulation hatte unter optimalen Bedingungen eine Zeit von 7:48 Minuten ausgespuckt, bei ein paar Fahrfehlern 8:13 Minuten, also haarscharf am bestehenden Rekord. Die mittlere Berechnung kam auf 7:57 Minuten. An jenem entscheidenden 24. Juni 2018 blieb die Zeitmessung bei 7:57,118 Minuten stehen. Benjamin Ahrenholz wiegelt sogleich ab: Eine solche Punktlandung ist bei Simulationen ebenso die Ausnahme wie die Niederkunft von Schwangeren zum vorausberechneten Geburtstermin. Und so wird man auch in Zukunft nicht nur simulieren, sondern auch fleißig messen und testen und am Ende zittern, wenn das Vorausberechnete auf die Realität trifft. Ahrenholz schwört: „Wenn du das eines Tages nicht mehr brauchst, dann hast du das Licht gesehen.“

Bilder: VW, Audi, FIA WRX

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