Herr Gleichauf, wo liegen die Beweggründe Daimlers, regulatorische beziehungsweise juristische Fragestellungen so früh wie möglich in der Produktentwicklung „mitzudenken“?
Unser gemeinsames Ziel über alle Fachbereiche hinweg lautet: Wir wollen Fahrzeuge weltweit rechtssicher auf die Straße bringen. Dabei müssen unsere Ingenieure bei der Produktentwicklung rechtliche Fragestellungen mitberücksichtigen, das ist nicht immer ganz trivial. Zum einen sind viele juristische Normen sehr abstrakt und für viele nicht auf den ersten Blick verständlich. Zum anderen eilt der technologische Fortschritt oft dem Gesetzgeber voraus, während der Dschungel an Vorschriften immer dichter wird. Um hier die richtigen Entscheidungen treffen zu können, braucht es Orientierung und Unterstützung. Die Plattform dafür wollen wir mit unserem technical Compliance Management System (tCMS) bieten.
War der Dieselskandal vor einigen Jahren dafür eine Art Katalysator?
Grundsätzlich ist das Thema Compliance für uns keine neue Herausforderung. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass der Dieselskandal in der gesamten Automobilbranche noch einmal einiges in Bewegung gebracht hat. Wir versuchen, Risiken frühzeitig zu erfassen und dabei systematisch vorzugehen. Im Zentrum unserer Bemühungen steht dabei, ein möglichst umfassendes Risikomanagementsystem im Dialog insbesondere mit Entwicklern, Zertifizierern, Juristen und den Compliance Managern umzusetzen. Hier sehen wir den entscheidenden Mehrwert, der sich im Kontext des tCMS in den vergangenen Jahren ergeben hat.
Wie sehen die Abläufe des tCMS in der Praxis aus, wo setzen Sie beispielsweise in der Produktentwicklung konkret an?
Wir verfolgen einen systematischen und präventiven Ansatz: Recht und Technik sollen von Anfang an gemeinsam gedacht werden. Diese beiden Welten zusammenzubringen, ist nicht ganz einfach, da Ingenieure und Juristen nicht immer die gleichen Maßstäbe ansetzen. Spannend dabei ist – und das haben wir bei der Weiterentwicklung des tCMS feststellen können – die Tatsache, dass es durchaus Ingenieure mit Interesse an juristischen Fragen und andererseits Juristen mit technischer Neugier gibt. Um beide Parteien zusammenzubringen, haben wir auf der einen Seite unsere Anlaufstellen in der Rechts- und Compliance-Abteilung, auf der anderen Seite positionieren wir unsere Experten direkt in der Entwicklung, um Projekte von vornherein direkt mit zu begleiten. Um hier einen Diskurs zu bestimmten Themen zu erzeugen, setzen wir in den Entwicklungsteams speziell geschulte Multiplikatoren ein, die bestimmte Fragestellungen klären und wenn nötig weitere Experten zurate ziehen.
Das Produkt Auto wird immer komplexer, Themen wie Vernetzung, autonomes Fahren, Nachhaltigkeit oder der Anschluss an Mobilitäts-Ökosysteme erzeugen einen regelrechten „Compliance-Tsunami“. Wie kann man da Schritt halten?
Auch wenn ich nicht von einem Tsunami sprechen würde, ist es ohne Zweifel wahr, dass, während die Technik und damit auch das Auto selbst immer komplexer werden, gleichzeitig die rechtlichen Risiken zunehmen. Dem begegnen wir mit einem Ansatz, den wir „adaptive Compliance“ nennen. Damit wollen wir die Transformation in der Automobilbranche flexibel und mit schnellen Reaktionszeiten begleiten. Unsere Abteilung sucht den Dialog mit unseren Lieferanten, um technische Innovationen auch jenseits der Unternehmensgrenzen frühzeitig mit technischer Compliance zu koppeln. Darüber hinaus sind jedoch auch Veränderungen in der Unternehmenskultur erforderlich: Wir wollen nicht jedem Ingenieur einen „juristischen Aufpasser“ an den Schreibtisch setzen, sondern die Haltung jedes Einzelnen in Bezug auf rechtliche Risiken verändern. Kurzum: Es braucht ein Gespür, was rechtlich, ethisch und gesellschaftlich aktuell relevant ist und wie sich das auf das jeweilige Produkt oder Geschäftsmodell am Ende auswirkt.
Gerade beim Thema autonomes Fahren sind noch viele regulatorische Fragen offen, hier ist der technische Fortschritt dem Gesetzgeber meilenweit voraus. Gibt es überhaupt so etwas wie „Predictive Compliance“?
Die zentrale Frage in allen Bereichen der technischen Entwicklung lautet doch: Wie kann ich heute eine Entscheidung treffen, die auch morgen noch rechtssicher ist – und das Ganze so, dass die technische Innovation nicht schon im Keim erstickt wird. Bei Zukunftsthemen wie dem automatisierten Fahren kommt es in besonderem Maße auf den diskursiven Austausch vieler Fachbereiche – am besten innerhalb von interdisziplinären Teams – an. Aber auch der Diskurs in Verbänden und in der Gesellschaft ist wichtig. Vor acht Jahren wurde das Thema automatisiertes Fahren beispielsweise bei Haftungsfragen noch ganz anders betrachtet als heute.
Wie stellen Sie sicher, dass auch Ihre Lieferanten und Entwicklungsdienstleister in Sachen technischer Compliance dem Daimler-Anforderungskatalog gerecht werden?
Grundlage einer jeden Zusammenarbeit sind zunächst einmal Verträge, in denen wir unsere Grundsätze festlegen. Darüber hinaus beziehen wir unsere Geschäftspartner in unseren Compliance-Dialog aktiv mit ein. Dafür bieten wir regelmäßige Dialogveranstaltungen oder spezifische Online-Module an, geben Leitfäden wie den „Software Compliance Guide“ heraus und versuchen letztlich den von mir schon angesprochen Kommunikations-Spirit, den wir intern pflegen, auch an unsere Lieferanten weiterzugeben. Die Initiative kann jedoch durchaus auch von außen kommen, wenn unsere Partner bestimmte technische oder rechtliche Fragestellungen klären wollen. Auch dafür haben wir natürlich ein offenes Ohr.
Unter anderem Leistungsdruck und eine nicht vorhandene Fehlerkultur in weiten Teilen der Autoindustrie machten so etwas wie den Abgasskandal erst möglich. Daimler-Vorstand Marcus Schäfer sagt, der Erfolg eines tCMS sei auch von einer „lebendigen Speak-Up-Kultur“ in der Belegschaft abhängig. Hand aufs Herz: Hat sich da etwas zum Positiven geändert in den vergangenen fünf Jahren?
Es ist nicht so, dass wir bei Daimler erst seit fünf Jahren hohe Maßstäbe in Sachen Integritätskultur ansetzen. Wir erwarten von unseren Mitarbeitern, dass sie Unsicherheiten, Fragen oder schlichtweg Fehler offen ansprechen. Dennoch müssen wir eine solche Speak-Up-Kultur weiter aktiv fördern, um Schaden frühzeitig vom Unternehmen abzuwenden. Der Anruf bei unserer Whistleblower-Hotline, mit der Mitarbeiter Fehlverhalten anderer Mitarbeiter anonym an uns melden können, ist dabei jedoch immer nur die Ultima Ratio. Viele Mitarbeiter bringen die Vorstellung einer offenen Fehlerkultur schon mit ins Unternehmen und fordern diese auch aktiv ein. Da hat sich in den vergangenen Jahren viel zum Positiven gewandelt.
Zur Person
Dr. Jürgen Gleichauf ist seit November 2017 Leiter des Bereichs "Legal Product und Technical Compliance" bei Daimler. Seine Karriere beim Stuttgarter Autobauer begann er 1998 als Syndikusanwalt bei der Marke Smart, dann war er bei Daimler-Chrysler zuständig für Einkaufsrecht, Logistik und IT. Im Jahr 2003 wechselte er in den Einkauf Pkw und Van. Ab 2010 führte Gleichauf den Einkaufs-Exportbereich für Mercedes-Benz Südafrika. Zwei Jahre später übernahm er die Position des Divisional Compliance Officer für Mercedes-Benz Cars, bevor er 2016 Leiter Legal Processes and Prevention wurde. Vor seiner Tätigkeit bei Daimler arbeitete Gleichauf als Rechtsanwalt.