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(Bild: BMW, Sabina Vogel)

In immer mehr BMW-Niederlassungen trifft der Kunde auf eine neue Spezies Mitarbeiter: den Product Genius. Dieser soll Interessierten vor allem eines vermitteln: die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten neuer Technologien, und zwar „ganz ohne Zeit- und Kaufdruck“, wie es bei BMW heißt. Der Product Genius ist nämlich kein Verkäufer, sondern ein Berater. BMW will mit dieser neuen Rolle im Showroom den potenziellen Kunden die kaum noch zu überschauende Vielfalt an Funktionen im Fahrzeug besser vermitteln. Das Unternehmen reagiert damit auf ein Problem, das die Branche schon seit dem Autoradio kennt, das aber durch das Connected Car nochmals deutlich an Dramatik gewonnen hat: Viele Fahrer kennen gar nicht alle technische Funktionen ihres Autos – und deshalb bleiben viele Features schlichtweg ungenutzt. Das ist auch gut daran zu sehen, dass nach dem Kauf auslaufende Abos für Mehrwertdienste häufig nicht mehr verlängert werden. Das Marktforschungsunternehmen J. D. Power hat das Feature-Problem vor wenigen Monaten in einer Studie für den US-amerikanischen Automarkt belegt. So gaben 43 Prozent der 4200 Befragten an, dass sie Concierge-Systeme – zum Beispiel Restaurantempfehlungen – noch nie genutzt haben. 38 Prozent ignorieren laut der Studie den ins Fahrzeug integrierten WLAN-Hotspot, 35 Prozent die Einparkhilfe und 32 Prozent vorinstallierte Apps. Laut J. D. Power gab es unter den bewerteten Technologie-Features 14 Stück, die mindestens ein Fünftel der Autobesitzer in ihrem nächsten Fahrzeug explizit nicht mehr haben wollte – darunter Apples CarPlay, Googles Android Auto und Concierge-Systeme. „Häufig bevorzugen die Besitzer einfach ihr Smartphone oder Tablet, weil es ihre Bedürfnisse erfüllt und sie mit diesen Geräten vertraut sind“, liefert Kristin Kolodge, Executive Director of Driver Interaction und HMI Research bei J. D. Power, eine mögliche Erklärung. Jan Burgard, Partner beim Beratungsunternehmen Berylls, hat das Problem der ungenutzten Features auch schon selbst erlebt: „Da stößt man Monate nach dem Kauf auf eine Funktion, von der man gar nicht mehr wusste, dass man sie bestellt hatte.“ Das zeige, dass der Kundenkontakt im Autohaus heute zu kurz sei, um dem Käufer dort alles Wissenswerte zu vermitteln. „Vor zehn Jahren kam es vor dem Kauf im Schnitt sieben Mal zu einem Kontakt zwischen Kunde und Verkäufer, heute ist es nur noch 1,7 Mal, weil der Kunde sich bereits vorab online umfassend informiert hat.“ Typischerweise dauere ein Verkaufsgespräch nur noch eine halbe Stunde, „da bleiben dem Verkäufer kaum mehr als fünf Minuten Zeit, um auf neue Hightech-Features hinzuweisen“. Eine in Burgards Augen „fast schon surreale Situation“. Den Product Genius hält Burgard daher für einen guten Ansatz, um Informations- und Verkaufsgespräch zu trennen. „Apple praktiziert dieses Rollenkonzept ja schon einige Jahre erfolgreich in seinen Stores.“ Auch Apples detaillierte, im Internet abrufbare Erklärvideos für sämtliche Funktionen der iWatch hält Burgard für eine gute Idee, um den potenziellen Käufern eine anschauliche Vorstellung von den Möglichkeiten neuer Technologien zu geben. Schwieriger werde es natürlich, wenn der Kunde nicht sonderlich Hightech-affin sei. „Dann muss der Verkäufer den Kunden klassifizieren, um auf dieser Grundlage erkennen zu können, welche wenigen Features er ihm sinnvoller Weise in der knapp bemessenen Zeit nahebringen kann.“

, Vice President Global Automotive Sector beim Beratungsunternehmen Capgemini, haben alle deutschen Automobilhersteller bereits erkannt, welche Bedeutung dem Point of Sales bei der künftigen Nutzung von HightechFeatures durch die Autobesitzer zukommt, und entsprechende Projekte aufgesetzt. „In diesen Projekten geht es um die Frage, wie der Verkäufer Zugriff auf die bisherige ‚Kunden-Journey‘ bekommt, bevor er den Kunden berät“, stellt Hein fest. Welche Konfigurationen hat der Kunde bereits durchgespielt? Für was hat er dabei besonderes Interesse gezeigt? Solche Informationen fallen etwa bei den Konfiguratoren auf den Websites der Hersteller an, sind aber für den Verkäufer bislang noch nicht abrufbar, zumindest nicht im Detail. „Bei diesen Projekten geht es zudem ganz konkret um die Frage, welche technische Ausstattung der Händler benötigt“, konstatiert Hein, „etwa ein Tablet, um dem Kunden im Fahrzeug sitzend Funktionen erklären zu können.“ Hierbei werde künftig Augmented Reality eine wichtige Rolle spielen. Trotzdem wird es auch dann noch so sein, dass nur ein Teil der Features für den Kunden bis zum Kauf gezielt zu vermitteln sein wird. Dafür sorgt schon allein die Menge an Funktionen, die ja noch weiter steigen dürfte. In den Augen von Berylls-Berater Burgard kommt daher situationsorientierten Softwareassistenten, wie sie im Consumerbereich zum Beispiel durch Google Now verwirklicht wurden, künftig eine große Bedeutung zu: „Man sagt dem Auto einfach, was man will, ohne dass man sich zuvor in die vom Hersteller vorgesehene Vorgehensweise eindenken muss.“ Auf diese Weise lassen sich Funktionen, die tief in Menüs versteckt liegen, in dem Moment an die Oberfläche bringen, in dem sie nützlich sein könnten, ohne dass der Fahrer danach suchen muss. „Alles läuft darauf hinaus, die Daten, die der Kunde im Auto durch sein Verhalten produziert, viel besser auszunutzen“, sagt Burgard. Beispiel Einparken. In einer vielleicht nicht mehr so fernen Zukunft könnte das Auto dann den Fahrer fragen, ob der Parkassistent übernehmen soll – noch bevor dieser überhaupt nur mit dem Einparken beginnt, aber eben auch erst dann, wenn er vor der Parklücke steht. Der Parkassistent wäre dann keine Funktion mehr, an die der Fahrer vorab denken müsste, sondern eine gezielte Unterstützung in der aktuellen Fahrsituation – und würde dann vermutlich auch häufiger genutzt werden. „Ein solcher Ansatz wirkt sich natürlich schon auf frühe Stadien des Entwicklungsprozesses aus“, sagt Burgard.

Bevor er greift, müssen sich die Hersteller und Zulieferer also organisatorisch anders aufstellen, um beim Entwickeln bereits in solchen Verknüpfungen denken zu können und sie dann entsprechend technologisch umzusetzen. Und da gibt es durchaus Fallstricke, wie Burgard am Beispiel Spotify verdeutlicht: „Wer Spotify so ins Auto integriert, dass es nichts mit dem Soundsystem an Bord zu tun hat, muss sich nicht wundern, wenn der Kunde keinen Mehrwert im Entertainmentpaket sieht und schon mit seinem Smartphone als Multimediazentrale zufrieden ist.“ Capgemini-Berater Hein sieht noch eine weitere Stellschraube, um des Problems der ungenutzten Features Herr zu werden: die Lokalisierung. „Die deutschen Premiumhersteller praktizieren das ja bereits“, sagt er. „Deren Entwicklungskapazitäten zum Beispiel in China zielen ja nicht ‚auf Blech‘ ab, sondern gerade auf Hightech-Features.“ Schließlich sei der typische chinesische Käufer eines Premiumfahrzeugs 20 Jahre jünger als in Europa – „der erwartet die Funktionen im Auto, die er von seinem Smartphone kennt“. Den typischen Käufern in Europa dagegen seien aufgrund ihres höheren Alters die Features des Connected Cars weniger wichtig. „Dass man einen Fahrzeugtyp für die ganze Welt produzieren kann, mag bei der Karosserie noch angehen“, sagt Hein, „bei den Hightech-Funktionen klappt das definitiv nicht mehr.“

Dieser Artikel erschien erstmals in carIT 04/2015

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