Magnus Östberg, Chief Software Officer von Mercedes-Benz, im Interview mit automotiveIT.

Mit dem neuen Betriebssystem MB.OS will Mercedes-Benz die Taktzahl der Over-the-Air-Updates erhöhen. (Bild: Claus Dick)

Herr Östberg, seit Ihrem Amtsantritt im September berichten Sie direkt an Technikvorstand Markus Schäfer sowie Konzernchef Ola Källenius. Unterstreicht dies die Ambition, Fahrzeuge künftig nur noch von der Software her zu denken?

Ja, dass ich an beide Stellen berichte, ist selbstverständlich ein strategisches Setup. Auf der einen Seite hat Ola Källenius natürlich ein gewaltiges Interesse am Bereich der Softwareentwicklung und der Transformation von Mercedes zu einem softwaregetriebenen Unternehmen. Der andere Aspekt ist, dass unsere Entwicklung und der Einkauf übergreifender zusammenarbeiten müssen und das können wir natürlich nur in enger Abstimmung mit Markus Schäfer und der gesamten R&D im Unternehmen. Das Gesamtfahrzeug muss als System funktionieren.

Wie ist der derzeitige Entwicklungsstand beim MB.OS und auf welche Weise sollen die Funktionen konkret von dem neuen Betriebssystem profitieren?

Das MB.OS ist unsere Chip-to-Cloud-Gesamtarchitektur für vier zentrale Domänen: Infotainment, Automated Driving, Body & Comfort und Driving & Charging. Unser Entwicklungsziel für alle vier Bereiche ist eine standardisierte Architektur mit entsprechender Soft- und Hardware, APIs und der Gesamtintegration. Am Ende brauchen wir einen Chip-to-Cloud-Stack, der mit dem Kunden direkt kommuniziert, und dafür benötigen wir standardisierte Schnittstellen, so dass wir über die Mercedes Intelligent Cloud direkt in Verbindung treten können. Die Integration der Systeme wird künftig im Electric Software Hub in Sindelfingen realisiert.

Auch das derzeitige MBUX setzt auf eine eigene Kundenschnittstelle. Andere Hersteller machen es sich mit Google-Lösungen deutlich einfacher. Warum ist dies für Mercedes-Benz keine Alternative? 

MBUX bildet unsere eigene Infotainmentdomäne. Unser Kundeninterface bildet genau das ab, was unserem Anspruch an Software und Luxus im Fahrzeug entspricht. Wir würden hier keine andere Farbe, Gestaltung oder Schnittstelle haben wollen. Das Fahrzeug muss sich wie ein Mercedes-Benz anfühlen und nicht wie eine andere Marke. Andere haben es sich da natürlich einfacher und vielleicht auch schneller gemacht, aber dafür mussten sie ein anderes Kundenerlebnis in Kauf nehmen.

Bis 2025 möchte Mercedes laut Ola Källenius rund eine Milliarde Euro Gewinn mit digitalen Diensten erzielen. Welche Services sollen auf diese ambitionierten Ziele einzahlen?

Wir haben bereits heute Services im Feld, die über die Mercedes Intelligent Cloud verfügbar sind. Gute Beispiele hierfür sind etwa Charging-Dienste oder der Urban Guard. Mit dem Serienstart von MB.OS im Jahr 2024 planen wir, die ganze Bandbreite der möglichen Dienste in allen vier Domänen abzubilden und über unsere Cloud zu steuern. Das bedeutet, wir haben eine Vielfalt an Möglichkeiten, etwa ADAS- oder Infotainment-, aber auch Body-Funktionen an- und auszuschalten. Die Bandbreite wird damit viel größer als heute. Die Infrastruktur ist schon vorhanden, aber im Moment können wir noch nicht so in die einzelnen Domänen eingreifen, wie es uns MB.OS ermöglichen wird.

Die digitalen Ökosysteme, in denen sich Kunden tagtäglich bewegen, verfügen nicht zwingend über einen Automotive-Fokus. Wo sind die Grenzen der Eigenleistung erreicht?

Unser Fokus ist natürlich, das Erlebnis im Auto mit unserem Ökosystem abzudecken, aber wir arbeiten selbstverständlich auch mit Partnern zusammen. Unter anderem geht es in diesem Zusammenhang darum, dass Kunden die Apps aus ihrem Zuhause oder ihrem Smartphone mit ins Fahrzeug bringen können. Ein gutes Beispiel hierfür sind etwa Streaming-Apps wie Spotify. Der Kunde kauft natürlich keine Musik von uns.

Ein softwaredefiniertes Fahrzeug entwickelt sich über den gesamten Lebenszyklus. Wird es für kleinere Modellreihen und ältere MBUX-Generationen künftig Updates geben?

Was wir in Zukunft mit MB.OS realisieren möchten, ist eine höhere Taktzahl beim Rollout von Neuerungen per Over-the-Air-Updates als Folge des hohen Maßes an Standardisierungen. Unterstützt wird dies durch unsere Invests in die Iterations- und Testautomatisierung, die man unter anderem im Electric Software Hub erleben wird. So werden wir unsere Systeme schneller in den Markt und zum Kunden bringen können – so bleibt das Fahrzeug auch nach Kauf aktuell.

Mercedes-Benz verfolgt die Strategie „Electric First“. Welchen Beitrag kann die Software-Organisation dazu leisten?

Nehmen Sie als Beispiel den Vision EQXX, der seine Reichweite von 1.000 Kilometern zum Großteil dank der Software-Optimierungen in allen Facetten erreichen kann. Unter anderem geht es um eine hohe Effizienz der Steuergeräte, die das Beste aus dem Antrieb abgewinnt, indem zum Beispiel die Klimaanlage oder Funktionen oder Elemente intelligent aktiviert oder deaktiviert werden. Im EQS etwa können Kunden solche Funktionen auch schon nutzen. Im Eco-Modus können Nutzer genau auswählen, welche Funktionen sie während der Fahrt nutzen möchten und welche nicht. Die Wahl zwischen mehr Komfortfunktionen oder mehr Reichweite kann jeder Mercedes-Besitzer selbst treffen. Beim EQXX ist zudem die Berechnung der Route ein immens wichtiges Element. Wenn man genau weiß, wie die Gegebenheiten sind, kann man unter anderem gezielter Rekuperation einsetzen. Hier spielt die Software eine gewaltige Rolle.

Fließen die Erfahrungen aus der Entwicklung des EQXX auch in die aktuellen Modelle ein?

Unsere gesamte Strategie mit MB.OS ist auf kontinuierliches Lernen und permanentes Feedback ausgerichtet. Die Konzeptfahrzeuge sind da natürlich keine Ausnahme. Wir werden aus diesen Fahrzeugen auch wichtige Erkenntnisse ziehen.

Das System Electric Intelligence, das bei der Planung von Ladepausen helfen soll, ist bereits im Markt. Kann der Algorithmus die stetig im Wandel begriffene Infrastruktur adäquat abbilden?

Ein wichtiger Punkt, den wir mit dem MB.OS adressieren, ist die Möglichkeit, über die Cloudanbindung schnell auf Änderungen zu reagieren und den Kunden mit unserem aktuellen und intelligenten Backend zu unterstützen. Wir bieten im Moment Zugang zu rund 300.000 Ladesäulen unterschiedlichster Anbieter an, da ändern sich natürlich häufig die Verhältnisse, nicht nur in der Zahl der Charging Points sondern auch etwa bei der Ladeleistung. Unser Anspruch ist es, Kunden diese Informationen korrekt, komfortabel und aktuell anzubieten.

Im Vergleich zu anderen Herstellern pflegt Mercedes-Benz beim autonomen Fahren verhältnismäßig wenige Partnerschaften. Kooperationen mit BMW und Bosch wurden aufgelöst. Was sind die Gründe für diese Strategie? 

Da kann ich ehrlich sagen: Ich war nicht dabei (lacht). In Zukunft ist es aber eines unserer Ziele, starke Partner für uns zu gewinnen. Wir wissen, dass wir unser Ziel, Marktführer rund um die digitale Mobilität zu werden, nicht allein erreichen können. Nur durch das Machine Learning bewegt sich das ganze Feld der IT im Fahrzeug so schnell, dass man weder den Invest noch das nötige Knowhow komplett allein in der benötigten Geschwindigkeit bereitstellen kann. In diesem Zusammenhang funktioniert unter anderem unsere Partnerschaft mit Nvidia ausgezeichnet, weil wir voneinander lernen können und uns gemeinsam weiterentwickeln.

Die Kooperation mit Nvidia ist ein interessantes Stichwort. Stimmt es, dass der Tech-Player mit mehr als 40 Prozent am Umsatz autonomer Fahrfunktionen beteiligt wird? Lassen Sie sich die Butter vom Brot nehmen?

Über finanzielle Details zu den Verträgen mit unseren Partnern sprechen wir generell nicht öffentlich. Generell bezahlen wir aber natürlich für externe Dienste und intellektuelles Eigentum, das wir nutzen. Vor allem in hochvolatilen Feldern, wo es bisher kaum Standards oder einen etablierten Stand der Technik gibt, brauchen wir verlässliche Partner, die uns begleiten. Dabei kommt es auf eine gewisse Flexibilität an, die wir auch in den Partnerschaften abbilden müssen. Dafür braucht es dann eine andere Art von Verträgen, weil wir in diesen Feldern nicht die Anforderungen für die kommenden fünf Jahre in ein Lastenheft schreiben können.

Also hat die Tech-Branche alle Druckmittel in der Hand?

Wir sind gemeinsam die Herausforderung angegangen, da wir nicht wissen, wie die digitale Welt in wenigen Jahren genau aussehen wird. Den optimalen Weg durch diese agile Welt können wir nur gemeinsam finden. Um die genauen Machtverhältnisse geht es dabei weniger.

Unabhängig vom Marktstart entsprechender Services: Häufig nutzen entsprechende Player autonome Fahrdienste, um Daten für die weitere Entwicklung zu gewinnen. Wo generiert Mercedes-Benz derartige Informationen?

Überall eigentlich. Wir simulieren unter anderem im Electric Software Hub unheimlich viel, darüber hinaus können wir in Immendingen aber auch Daten aus dem Fahrbetrieb nutzen. Wir können eine unglaubliche Vielzahl an Anwendungsfällen abbilden, bis hin zum virtuellen Nachbau von japanischen oder amerikanischen Straßenzügen mit entsprechender Beschilderung. Dazu kommen Informationen aus einer großen Fahrzeugflotte auf der ganzen Welt, was aber natürlich im Vergleich zur Simulation Zeit kostet.

Da Sie den Electric Software Hub bereits angesprochen haben: Wo genau liegen die Schwerpunkte des neuen Standorts in Sindelfingen?

Auf Integration und Geschwindigkeit. Die Software wird von unseren weltweit über 10.000 Entwicklern vorgetestet und zugeliefert. Im ESH werden in den oberen Etagen Software- und Hardware-in-the-Loop-Tests und Simulationen durchgeführt und dann wird Schritt für Schritt, Subsystem zu Subsystem integriert. Auf der untersten Ebene kommen die Systeme dann so schnell es geht auf die Straße. Nur so können wir sicherstellen, dass alle Mitarbeiter weltweit auf einer stabilen Version des Systems arbeiten. Dem Kunden ist es letztendlich ja egal, woher die Software genau stammt, sie muss funktionieren.

In Sindelfingen sollen 19 funktionsübergreifende Abteilungen zusammenarbeiten. Wie können traditionelle Prozesse der E/E-Entwicklung mit agiler Softwareentwicklung vereint und Silodenken verhindert werden?

Das ist ein zentraler Punkt unserer Anstrengungen. Die Abteilungen, die in Zukunft das ESH ausmachen, waren vorher alle in verschiedenen Gebäuden verteilt. Auf jedem Stockwerk haben wir in Zukunft verschiedene Abteilungen: Wir haben traditionelle Softwareentwickler zusammen mit IT- und System-Mitarbeitern, der Qualitätssicherung oder Mitarbeitern aus mechanisch geprägten Abteilungen, die alle direkt zusammenarbeiten werden. Möglich wird dies unter anderem durch gemeinsame IT-Systeme und einen einheitlichen Datenpool als Basis der Entwicklung. Neben den neuen Räumlichkeiten geht es natürlich auch um neue Arbeitsmodelle, einen zeitgemäßen Führungsstil und entsprechende Trainings, um Silos zu verhindern.

Beim Thema Software hat Mercedes-Benz einen hohen Bedarf an Fachkräften. Wie positionieren Sie sich im Re­cruiting, um entsprechende Experten zu finden? 

Zum einen ist der komplexe Aufgabenbereich, den wir für viele Experten anbieten, die eine entsprechende Herausforderung suchen, sehr interessant. Die Automobilbranche im Allgemeinen und besonders Mercedes im Speziellen bieten hier viele spannende Anwendungsfälle. Ein Beispiel ist etwa der Bereich Machine Learning, für den ein hohes Interesse besteht. Schauen Sie sich im Vergleich Social-Media-Firmen an, die das Thema voranbringen: Hier wird in sehr begrenzten Lösungen gedacht, in der Autobranche ist die System- und Datenkomplexität eine andere. Zum anderen, und das habe ich in den letzten acht Monaten erlebt, haben wir einfach geile Produkte wie den EQS (lacht). Das hat natürlich eine emotionale Wirkung auf potenzielle Mitarbeiter.

Zur Person:

Portätfoto von Magnus Östberg, Chief Software Officer von Mercedes-Benz, am Steuer eines EQS.

Magnus Östberg ist seit September 2021 als Chief Software Officer bei Mercedes-Benz tätig. In dieser Funktion hält er die Gesamtverantwortung für das Fahrzeug-Betriebssystem MB.OS. Nach Abschluss seines Masterstudiums in Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Chalmers im Jahr 1992, erlangte er 2006 berufsbegleitend den Executive Master of Business Administration an der Universität Göteborg. Seine Karriere startete Östberg beim Software- und Beratungsunternehmen Mecel. Anschließend übernahm er in Deutschland und den USA verschiedene Leitungsfunktionen bei Delphi. Zuletzt war Östberg als Vice President Software Platform & Systems beim Automobilzulieferer Aptiv in den USA tätig. Dort verantwortete er die Entwicklung und den Launch der ADAS Satellite Architecture bei mehreren Autoherstellern.

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