Geteilte Führung ist doppelte Führung. Und die kann die Autobranche gut gebrauchen. „Die Automobil-Industrie als einer der großen Wirtschaftsmotoren in Deutschland steckt mitten in einer gigantischen Transformation“, sagt Coach Katharina Wiench von bridging people & ideas, „Die Management-Prozesse des 20. Jahrhunderts werden für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht ausreichen.“ Was helfen kann ist geteilte Führung, oder neudeutsch: Joint Leadership.
„Das kann ein kraftvoller Transformationshebel sein, wenn es nicht als ‚Mütter-Förder-Programm‘ der Personalabteilung missverstanden wird“, betont Wiench. Gut gemachte Joint Leadership-Modelle erhöhten die Erfolgsaussichten von komplexen Transformationsprozessen. „Silo-Denken und dysfunktionale Mikropolitik nehmen ab, die Transformations-Disziplin der beteiligten Top-Management-Stakeholder nimmt zu“, so die Expertin. „Kurzum: Innovative Führungsmodelle erleichtern die Entwicklung von innovativen Geschäftsmodellen.“
Auch wenn viele in der Auto- und IT-Branche bislang nur bedingt etwas mit dem Begriff anfangen können, entdeckten hierzulande immer mehr Unternehmen den Trend zum geteilten Führen. Beispiel BMW: In der Betriebsvereinbarung verpflichten sich Arbeitgeber und -nehmer bis 2025 in allen Unternehmensbereichen 50 Chef-Tandems zu etablieren. Von der Verwaltung über die Entwicklung bis zum Vertrieb. „Das Tandem muss nicht aus einem Mann und einer Frau bestehen“, so Elisabeth Altmann-Rackl, stellvertretende BMW-Betriebsratsvorsitzende am Standort München, „Es können auch zwei Frauen oder zwei Männer sein.“
Ein Effekt geteilter Führung ist durchaus, Frauen bessere Karrierechancen zu eröffnen. „Joint Leadership bietet die Möglichkeit, mehr Diversität im Unternehmen abzubilden. Und das in jedweder Hinsicht“, unterstreicht Wiench. Geteilte Führung sei weit mehr als bloß ein weiteres Arbeitsmodell für Teilzeit. Weil die Anforderungen auf allen Ebenen ungeheuer gestiegen seien, sei Joint Leadership ein Modell für Führungskräfte vom Mittelmanagement bis zur Top-Etage.
Das sind die Vorteile von Joint Leadership
„Es handelt sich um ein Arbeits- und Führungsmodell, das in allen Rollen und Positionen denkbar ist“, stellt auch Esther Himmen, Gründerin und Geschäftsführerin von JOYntLEADING, klar. Die Wirtschaftspsychologin und Organisationsberaterin agiert als Joint Leadership Coach – unter anderem für die Autobranche. Sie kennt zeitlich alle erdenklichen Varianten: „Von einer paritätisch geteilten Stelle bis zu zwei Mal Vollzeit für eine Position ist alles machbar.“ Meist locke Mitarbeitende das Jobsharing, weil sie sich mehr Zeit außerhalb der Arbeit wünschten, etwa, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. „Das wirkt als großer Motivator und so wird für viele erstmals denkbar, eine Führungsrolle zu übernehmen, weil das in Teilzeit machbar wird“, berichtet Himmen. Insgesamt, das zeigten auch Studien, würden Jobsharer zufriedener und zugleich produktiver. „In einer Branche, die oft mit hohem Arbeitsdruck und langen Arbeitszeiten verbunden ist, kann Jobsharing dazu beitragen, die Work-Life-Balance aller Mitarbeitenden zu verbessern“, erklärt Himmen.
Vier-Augen-Prinzip erzeugt bessere Entscheidungen
In einer Branche, die stark von technischen Innovationen abhänge, sei es entscheidend, hochqualifizierte Mitarbeitende zu gewinnen und zu halten. „Jobsharing kann ein attraktives Arbeitsmodell für Fach- und Führungskräfte sein, die ihre berufliche Karriere mit anderen Lebensbereichen, vereinen möchten.“ Nicht unwesentlich seien auch die unternehmensseitigen Effekte: „In der Automobilbranche sind spezialisierte Kenntnisse und Erfahrungen unerlässlich. Jobsharing ermöglicht es, Spezialwissen, das vielleicht schwierig nur in einer Person zu finden ist, durch zwei Personen zu kombinieren“, sagt Himmen. „Außerdem kann dadurch kostbares Erfahrungswissen an jüngere weitergegeben werden, was dazu beiträgt, den Know-how-Verlust bei einem Wechsel von Mitarbeitenden zu minimieren und die Qualität der Arbeit auf Dauer aufrechtzuerhalten.“
Unternehmen profitierten von einer „höheren Kompetenzbreite, mehr Erfahrung und gegenseitigem Sparring“, ergänzt Joint Leadership-Expertin Wiench. „Gerade jüngere oder unerfahrene Kräfte können sich im Tandem weiterentwickeln, wenn ihnen ein älterer, erfahrener Partner zur Seite gestellt wird“, erklärt sie. Die Konstellation sei gerade in technischen Berufen ideal: „So lässt sich deutlich die Innovationskraft erhöhen“, betont Wiench, „Außerdem hat sich gezeigt, dass die Entscheidungen und Ergebnisse, die im Tandem gefällt werden, oft reifer sind.“
Jobsharing und Joint Leadership könne in der Automobilbranche dazu beitragen, die Innovationskraft, Agilität, Fachkompetenz und Vielfalt der Belegschaft zu erhöhen, bilanziert Himmen: „Was entscheidend ist, um in einem sich ständig wandelnden und wettbewerbsintensiven Markt auf Dauer erfolgreich zu sein.“ Für sie stellt Joint Leadership geradezu einen „Innovationsbooster“ dar: „Wenn zwei Führungskräfte eine Position teilen und gemeinsam verantwortlich sind, dann leben sie Kollaboration vor“, sagt sie. „Und das wird von den Mitarbeitenden mit Zusammenarbeit beantwortet, die der Schlüssel zu Kreativität und Innovation ist.“
Wer sich für geteilte Führung eignet
Vorausgesetzt, dass sich das Tandem gut ergänzt und gut miteinander interagiert: „In Frage kommen dafür Persönlichkeiten, die gern im Team arbeiten, reflektiert sind, kooperativ und konfliktfähig“, erklärt Himmen. Typen, die in Konkurrenz zueinander gehen, taugen dafür eher nicht. Schwierig kann allerdings auch ein Typus sein, der in technischen Berufen häufiger anzutreffen ist: extrem Gewissenhafte. „Ihnen fällt es eher schwer, loszulassen, was sie daran hindert, flexibel zu reagieren“, weiß Himmen, „Dabei ist es extrem wichtig, der Partnerin oder dem Partner auch Entscheidungen zu überlassen.“ Ein wesentlicher Punkt, wenn aus geteilter Führung nicht geteiltes Leid werden soll. „Ein Tandem ist das kleinstmögliche Team. Also gelten hier auch die gleichen Regeln wie für ein gelungenes Teambuilding“, sagt Wiench: Unterschiede und Diversität sind gut, sollten aber nicht zu extrem ausfallen. Im technischen Umfeld könne es aber durchaus fruchtbar sein, wenn im Tandem zwei Fachrichtungen vertreten seien, etwa Produktion und IT.
Diese Fehler sollte man beim Jobsharing vermeiden
Was man tunlichst lassen sollte, ist, Tandems am grünen Tisch zusammenzuwürfeln, so dass sich das Duo erst nach Vertragsunterzeichnung kennenlernt: „Das ist wie Russisch Roulette – das kann gut gehen, muss aber nicht“, weiß Himmen. Ihr dringender Rat: „Ob die Chemie stimmt, ist derart wichtig, dass dies unbedingt im Recruitingprozess abgeklopft werden muss.“
Ähnlich sieht das Wiench: „Ein Kardinalfehler ist, unüberlegt Tandems zu bilden und das unbegleitet zu tun.“ Es müsse festgelegt werden, wer das Joint Leadership-Projekt verantworte und betreue. „Es braucht einen Verantwortlichen, der dafür geeignet ist und die Zeit hat.“ Daher sei es besonders im Top-Management sinnvoll, hierfür externe Mitarbeiter zu engagieren.
Nicht zuletzt könne Joint Leadership auch dem Fach- und Führungskräftemangel entgegenwirken, unter dem die Autobranche verstärkt leidet. Tandem-Coach Wiench registriert nämlich gerade bei jüngeren Kräften die Nachfrage nach solchen Angeboten: „Junge Familien, die nicht in Vollzeit arbeiten möchten, kommt das sehr entgegen, womit sich ein neuer, größerer Pool an Kräften für Führungspositionen erschließt, der vorher abgewunken hätte.“
Viele gute Effekte. Sollte also jeder in der Branche darüber nachdenken? „Es gibt Grenzen“, sagt Wiench, „Die Unternehmenskultur muss stimmen, Vorgesetzte müssen hinter dem Modell stehen, es unterstützen. Und: Joint Leadership ist auch nicht die Lösung für alle Probleme“, warnt die Expertin.