Willkommen im New Normal! Einer Arbeitswelt, die hybride Arbeit und virtuelle Formen der Zusammenarbeit als Notlösung während der Pandemie implementieren musste und inzwischen die Vorteile flexibler Organisationen zu schätzen gelernt hat. Vor der Krise entwickelte sich mobiles Arbeiten bei einigen Akteuren der Automobilindustrie eher vorsichtig als modernes Out Of The Box-Denken. Inzwischen hat sich die Alternative Homeoffice, getrieben durch die Pandemie, in weiten Teilen der Industrie etabliert. Branchenexperten wie Ingo Holstein, Leiter Human Relations bei Vitesco Technologies, konnten bereits zu Beginn der Krise absehen, dass viele Erkenntnisse aus der intensiven Homeoffice-Zeit in den Arbeitsalltag einfließen würden.
Doch wie passen produzierendes Gewerbe und Telearbeit überhaupt zusammen? Dazu muss man sich zunächst vor Augen führen, dass im Fahrzeug der Zukunft das Thema Software eine zentrale Rolle spielt. Die Branche definiert sich neu und Automobilhersteller werden immer mehr zu ganzheitlichen Mobilitätsanbietern, die das Software-Defined Car in den Mittelpunkt stellen. Neben Montagearbeitern an Fließbändern gehören daher immer mehr Beschäftigte aus der IT-Branche zur Automobilindustrie. Während der Fahrzeugbau einen Homeoffice-Anteil von rund 30 Prozent aufweist, liegen die Anteile in den Bereichen IT sowie Forschung und Entwicklung mit mehr als 70 Prozent deutlich höher.
Was sind Vor- und Nachteile von Homeoffice?
Auch wenn sich die Arbeit im Homeoffice je nach subjektiver Präferenz unterschiedlich auf die Beschäftigten auswirkt, konnten während Corona genügend Daten gesammelt werden, um die deutlichsten Vor- und Nachteile der Heimarbeit zu definieren. Laut einer von der DAK-Krankenkasse veröffentlichten Studie sind dies die relevantesten Auswirkungen im ersten Trimester 2021 gewesen:
Positive Auswirkungen von Homeoffice:
- Gesteigerte Technikkompetenz durch Video-und Telefonkonferenzen (81 Prozent)
- Wegfall des Arbeitswegs (76 Prozent)
- Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie (73 Prozent)
- Eigenverantwortliche Einteilung der Arbeitszeit über den Tag (68 Prozent)
Negative Auswirkungen von Homeoffice:
- Mangelnder Kontakt zu Kollegen und Kolleginnen (74 Prozent)
- Fehlende Trennung zwischen Beruf und Privatleben (45 Prozent)
- Erschwerte Absprachen mit Kollegen und Vorgesetzten (39 Prozent)
- Fehlender Zugriff auf Akten oder Dokumente (35 Prozent)
Haben Beschäftigte ein Recht auf Homeoffice?
Einen Rechtsanspruch auf Homeoffice gibt es in Deutschland bislang nicht. Arbeitnehmer können jederzeit den Wunsch nach Remote Work äußern, es liegt jedoch im Ermessen des Arbeitgebers, ob er diesem Wunsch nachkommt. Haben sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertraglich auf mobiles Arbeiten geeinigt, müssen die Arbeitsschutzbestimmungen weiterhin eingehalten werden. Wird von verschiedenen Standorten aus gearbeitet oder liegt der häusliche Arbeitsplatz in einem anderen (Bundes-) Land als der Betriebssitz, gelten für den Arbeitnehmer die Feiertage des tatsächlichen Arbeitsortes.
Wo in der Autobranche Homeoffice-Potenzial entsteht
Parallel zum Anteil der bereits im Homeoffice Beschäftigten innerhalb der Automobilindustrie treiben technologische Innovationen das Potenzial für Tätigkeiten voran, die zukünftig aus dem Homeoffice heraus erledigt werden könnten. Die cloudbasierte Fahrzeugentwicklung bietet beispielsweise mehrere entscheidende Vorteile und hebt die Standortgebundenheit des Engineerings nahezu vollständig auf. Heute arbeiten globale Entwicklungsteams noch getrennt voneinander und gleichen ihre Ergebnisse nur von Zeit zu Zeit ab. Das sei nicht nur langwierig, sondern auch fehleranfällig, betont Frank Möring, Vice President Solutions Consulting in Central Europe (DACH) beim Softwareunternehmen PTC: „Wenn Daten manuell ausgetauscht werden, um sie gemeinsam zu nutzen, sind Fehler vorprogrammiert.“
Allein bei der enormen Variantenvielfalt der Fahrzeuge und den vielen Bearbeitungsständen sei das unvermeidlich. Die Zusammenarbeit über Cloud-Plattformen ermöglicht dagegen einen Datenabgleich in Echtzeit und hilft auch bei der Analyse von Änderungen in der Fahrzeugkonfiguration oder an einzelnen Bauteilen. Zugang und Nutzung solcher Systeme werden immer einfacher und sicherer. „Dazu benötigt man aktuell häufig nur noch einen Browser und kann sogar per Smartphone Entwicklungsprozesse mitverfolgen und mitgestalten“, erklärt Möring. Denn: Die enorme Rechenleistung wird in die Cloud verlagert und ist im großen Maß skalierbar.
Auch der digitale Zwilling stellt einen der zentralen IT-Trends der Automobilindustrie dar und könnte das Fahrzeugengineering im heimischen Büro ermöglichen. Hierbei handelt es sich um die virtuelle Kopie eines realen Systems, Produkts oder Prozesses, die in der Regel durch eine vorangegangene Datenanalyse erstellt wird. Ein digitaler Zwilling kann verwendet werden, um verschiedene Szenarien zu testen, Prozesse zu optimieren und Entscheidungen zu treffen, bevor Änderungen am realen System vorgenommen werden.
Wandert die Fahrzeugarchitektur durch einen digitalen Twin in den virtuellen Raum, kann auch das Engineering standortunabhängig und demnach auch von Zuhause aus stattfinden. Schon heute arbeiten Teams – nicht zuletzt durch die Pandemie befeuert – via VR-Headsets zusammen, um etwa wie bei Ford, nicht am Rechner oder am Tonmodell neue Designs zu entwickeln, sondern in der virtuellen Welt.
Ein Beispiel für Homeoffice-Potenzial im Mobilitätssektor liefert Fernride-Chef Hendrik Kramer im Interview zur Teleoperation: „Durch unsere skalierbare Plattform können fahrerlose Trucks von einem Bildschirmarbeitsplatz aus überwacht werden. In Situationen, in denen die fahrerlose Maschine an ihre Grenzen kommt und ohne menschliche Hilfe nicht mehr weiter weiß, kann der sogenannte Teleoperator dann aus der Ferne eingreifen und die Kontrolle über das Fahrzeug übernehmen.“ So würde Lkw-Fahren quasi zum Bürojob werden und auch andere Fahrzeuge mit Rädern und einer Drive-by-Wire-Schnittstelle könnten von einem Schreibtisch aus überwacht werden, so Kramer. Auch diese Tätigkeit ließe sich folglich in Zukunft aus dem Homeoffice heraus verrichten.
Wie viele Homeoffice-Tage ermöglicht Volkswagen?
An bis zu vier Arbeitstagen pro Woche können Mitarbeiter im Volkswagen-Konzern mobil arbeiten und diese Arbeitstage innerhalb eines Kalendermonats flexibel verteilen. Das regelt eine neue Betriebsvereinbarung, auf die sich Unternehmen und Gesamtbetriebsrat im November 2021 verständigt haben.
„Dank unserer wegweisenden Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2016, die wir nun weiterentwickelt haben, konnten wir nach Ausbruch der Pandemie für alle Beschäftigten, die von zu Hause aus arbeiten können, mobile Arbeit maximal ausweiten. Das war für den Schutz der Belegschaft elementar", so Gunnar Kilian, Volkswagens Konzernvorstand für Personal. Für die erfolgreiche Umsetzung der neuen Regelungen baue er auf die starke Vertrauens- und Führungskultur im Unternehmen. Beides gehe Hand in Hand und sei Grundvoraussetzung für das Gelingen von Hybrid-Konzepten.
Audi und Porsche verankern Homeoffice in Betriebsvereinbarung
An den Audi-Standorten Ingolstadt und Neckarsulm trat im Oktober 2022 eine Betriebsvereinbarung in Kraft, die hybrides Arbeiten begünstigt und als Weiterentwicklung einer ebenfalls seit 2016 bestehenden Homeofficeregelung funktioniert. Demnach dürfen Mitarbeitende ihren Arbeitsort ohne Vorgabe von Präsenztagen zu jeder Zeit frei wählen. Lediglich eine Vereinbarkeit der zu bearbeitenden Aufgaben mit dem Homeoffice und eine Absprache mit der jeweiligen Führungskraft müssen gegeben sein.
Auch Konzernschwester Porsche ermöglicht unter anderem Homeoffice sowie Wahlarbeitszeiten seit 2014. Angelehnt an die coronabedingte Regelung, die bis zu fünf Tage mobiles Arbeiten in den administrativen Bereichen des OEMs erlaubte, hat der Automobilhersteller im November 2021 eine neue Betriebsvereinbarung umgesetzt. Durch sie dürfen Mitarbeitende in den Verwaltungsbereichen ganztägig an bis zu zwölf Tagen im Monat im Homeoffice tätig sein. „Wichtig ist uns allerdings, dass wir weiter ausreichend Präsenzzeiten haben. Der unmittelbare persönliche Austausch ist unabdingbar. Er fördert den Zusammenhalt und stärkt unsere besondere familiäre Unternehmenskultur“, erklärt Andreas Haffner, Vorstand für Personal- und Sozialwesen bei Porsche.
Bosch intensiviert mobiles Arbeiten
Ein Ausbau des mobilen Arbeitens durch positive Erfahrungen während der Pandemie konnte auch bei Bosch beobachtet werden. Der Zulieferer stellte 2021 ein Rahmenwerk namens Smart Work auf die Beine, das Mitarbeitern mehr Gestaltungsfreiheit in der Planung ihres Arbeitsalltages lässt. Bosch definiere ebenfalls keine festen Arbeitstage, sondern überlasse es den Teams und ihren Führungskräften, die passende Mischung für das hybride Arbeiten zu finden, so Nora Lenz-Gaspary, Sprecherin für Personal und Soziales beim süddeutschen Zulieferer.
Weltweit können mehr als 250.000 Beschäftigte ihren Arbeitsort in diesem Sinne wählen. Erweitert wurde die Konzernbetriebsvereinbarung durch das Angebot der Smart Work Abroad, die Beschäftigten an deutschen Standorten erlaubt, bis zu 54 Tagen im Jahr mobil aus einem anderen Land zu arbeiten. Während das Angebot einige Länder auf Grund von Sicherheits- oder Rechtsrisiken ausschließt, werden Spanien, Indien, Frankreich und Italien am häufigsten angefragt. Für über 1.000 Mitarbeitende konnte das Programm laut Lenz-Gaspary bereits genehmigt werden.
BMW ermöglicht Homeoffice seit 2013
Bei BMW begann der Weg neuer Arbeitsmodelle 2013 mit mobilem Arbeiten in Abstimmung mit den jeweiligen Vorgesetzten, um Beschäftigten einen flexibleren Arbeitsalltag zu ermöglichen. „Ideen und Innovationen entstehen vor allem im persönlichen Austausch. Attraktive Arbeitswelten sind für uns daher ein wesentlicher Erfolgsfaktor - ergänzt durch hybride und digitale Zusammenarbeitsmodelle“, erklärt BMWs Personalvorständin Ilka Horstmeier. Während der Pandemie habe sich gezeigt, dass der bayerische OEM mit seinem unternehmensübergreifenden Projekt auf einem guten Weg gewesen sei, weshalb der 2017 angestoßene Prozess weiter vorangetrieben wurde.
Als Leuchtturm für die flexiblere Arbeitskultur der BMW Group dient das Forschungs- und Innovationszentrum in München. Dort fördern offene Teamflächen die Kommunikation sowie interdisziplinäres Arbeiten und werden durch digitale Möglichkeiten zur ortsunabhängigen Zusammenarbeit ergänzt. Mit welcher Mischung aus Präsenz und digitalem Austausch sich gesetzte Ziele am besten erreichen lassen, besprechen die Teams individuell. Damit alle Beteiligten voneinander und miteinander lernen können, lädt BMW auf einer internen Community-Plattform zum Erfahrungsaustausch über Länder hinweg ein und gibt Einblicke in Best-Practice-Ansätze.
Mercedes prägte mobiles Arbeiten
Mit einer ersten Betriebsvereinbarung zum mobilen Arbeiten, die im Jahr 2009 entstand, scheint sich Mercedes-Benz als erster Automobilhersteller der neuen, hybriden Arbeitskultur angenähert zu haben. Seit die Vereinbarung im Jahr 2016 erweitert wurde, haben Mitarbeitende beim OEM grundsätzlich das Recht, bis zu einhundert Prozent mobil zu arbeiten, wenn dies mit der jeweiligen Aufgabe vereinbar ist. Auch hier erarbeiten Führungskräfte die Ausgestaltung des hybriden Arbeitsmodells gemeinsam mit ihrem Team. Hierbei unterstützt das Unternehmen mit entsprechenden digitalen Gestaltungsprozessen, Trainings und Schulungsunterlagen.
Tesla erteilt Homeoffice eine Absage
Während sich die Branche größtenteils für das hybride Arbeiten ausspricht und entsprechende Regelungen einführt, geht Tesla wie üblich einen ganz eigenen Weg. Firmenboss Elon Musk hält nicht viel vom Homeoffice und orderte seine Angestellten nach dem Auslaufen der Corona-Regelungen mit einem Ultimatum zurück in die Büros. Jeder müsse mindestens 40 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz verbringen oder Tesla verlassen, hieß es in einer geleakten E-Mail an die Mitarbeitenden, deren Echtheit der Finanzdienst Bloomberg bestätigen konnte.
Musk selbst teilte auf Twitter mit, Arbeitnehmer, die das Arbeiten im Büro für ein veraltetes Konzept halten „sollen anderswo so tun, als würden sie arbeiten“. Der polarisierende CEO war schon auf dem Höhepunkt der Coronakrise ein Kritiker von Einschränkungen, durch die auch das Stammwerk von Tesla in der Nähe von San Francisco zeitweise zum Stillstand kam und nannte die Schutzmaßnahmen unter anderem „faschistisch".
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