Hendrik Kramer Fernride Portrait

Hendrik Kramer, Co-Founder und CEO bei Fernride, erläutert die Chancen der Teleoperationstechnologie. (Bild: Fernride)

Herr Kramer, wie genau funktioniert eigentlich Teleoperation?

Vereinfacht gesagt kombiniert Teleoperation die Vorteile autonomer Technologie mit den Fähigkeiten menschlicher Fahrer. Durch unsere skalierbare Plattform können fahrerlose Trucks von einem Bildschirmarbeitsplatz aus überwacht werden. In Situationen, in denen die fahrerlose Maschine an ihre Grenzen kommt und ohne menschliche Hilfe nicht mehr weiter weiß, kann der sogenannte Teleoperator dann aus der Ferne eingreifen und die Kontrolle über das Fahrzeug übernehmen. Im Detail funktioniert das so: Wir bauen unser Teleoperations-Hardware-Kit sowie diverse Kameras und Sensoren in drive-by-wire-fähige, elektrische Trucks ein. Die Bilder erreichen den Bildschirmarbeitsplatz eines Fahrzeugführers außerhalb des Fahrzeugs, der einem Fahrzeugcockpit nachempfunden ist. Dieser Teleoperator sieht auf seinem Bildschirm in Echtzeit und in 360 Grad die Umgebung des Fahrzeugs und kann mittels Gaspedal, Bremse, Lenkrad und Joystick gezielte Befehle an das Fahrzeug senden. Durch die verwendete Kamera- und Sensor-Technik sowie die uRLLC-Datentransfers ist die Technologie sicher und hochpräzise. Unsere Fahrzeuge sind sechsfach redundant über das Mobilfunknetz mit dem Leitstand verbunden, Steuersignale des Teleoperators erreichen das Fahrzeug in weniger als 100 Millisekunden. Zum Vergleich: Für einmal Blinzeln braucht der Mensch circa 300 Millisekunden. Sichere fahrerlose Logistikprozesse werden durch unsere Technologie so schon heute möglich – und nicht erst 2030.

Welche konkreten Probleme kann Teleoperation im Bereich Transport und Logistik lösen?

Tatsächlich können wir eine ganze Reihe an Problemen lösen, allen voran den gravierenden Fahrermangel in der Logistikbranche. Bereits jetzt fehlen der Branche laut Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) bis zu 80.000 Fahrer, Tendenz steigend. Es ist einfach ein unattraktiver Beruf – lange Arbeitszeiten, viel Zeit getrennt von der Familie, schlechte Bezahlung. Kein Wunder, dass laut BGL jährlich nur 17.000 Berufseinsteiger diesen Job wählen, während 30.000 in Rente gehen. Wir gehen dieses Problem gleich über zwei Seiten an. Zum einen steigern wir die Attraktivität des Jobprofils deutlich. Ein Teleoperator arbeitet am Bildschirm und kann bei seiner Familie übernachten – wir machen LKW-Fahren quasi zum Bürojob. Zum anderen machen wir den Job auch deutlich effizienter. Zum Job eines Lkw-Fahrers gehören auch lange Wartezeiten während der Be- und Entladung. Das ist komplett vergeudete Zeit, die der Fahrer aber bei seinem Truck bleiben muss. Wo soll er sonst auch hin. Ein Teleoperator kann in der Zeit, in der sein erster Truck beladen wird, einen zweiten Truck überwachen. Perspektivisch gehen wir davon aus, dass einer unserer Teleoperatoren bis zu 50 Trucks überwachen kann. Hierbei ist wichtig zu betonen, dass ein einzelner zwar mehrere Trucks überwachen, jedoch niemals zwei Trucks gleichzeitig steuern wird. Das ist ein absoluter Grundsatz, allein schon aus Sicherheitsgründen.

Gibt es noch andere geplante Einsatzbereiche für diese Technologie?

Die Effizienzthematik spricht natürlich auch für den Einsatz unserer Technologie in anderen Anwendungsbereichen. Momentan konzentrieren wir uns hauptsächlich auf Logistik-Yards, haben aber auch schon hub2hub-Szenarien im Blick, in dessen Rahmen wir bis Mitte des Jahrzehnts autonome Lkw auf die Straße bringen wollen. Natürlich können perspektivisch aber auch Flurförderfahrzeuge wie Gabel- oder Hubstapler von unserer Plattform profitieren. Das ist das Schöne an unserer Technologie: Sie ist komplett vehikel-agnostisch. Wir sind in der Lage, fahrerlose Prozesse für alles zu ermöglichen, was Räder und eine Drive-by-Wire-Schnittstelle hat.

Sie führen ja auch Tests am Volkswagen Standort Wolfsburg durch – warum wurde der OEM als Kooperationspartner beziehungsweise Testumfeld gewählt?

Wir freuen uns natürlich riesig über die Zusammenarbeit mit der Volkswagen Werklogistik Wolfsburg. Bei einem Kunden wie VW ist es besonders wichtig, Anforderungen an Datenschutz, Cybersecurity und Sicherheit zu erfüllen. Ein Werksgelände mit mehreren zehntausend Mitarbeitern und vielen verschiedenen Verkehrsteilnehmern gehört zu den schwierigsten Szenarien für autonome Fahrzeuge. Wenn wir die Ansprüche von VW erfüllen, werden wir auch mit jedem anderen Kunden kompatibel sein, vorrangig natürlich auch für die über 100 Werke der VW Group und ihre Marken.

Für dieses Jahr haben Sie die Überführung Ihrer Technologie in den Regelbetrieb, eine Zertifizierung für Logistikfahrzeuge sowie ein Wachstum auf über 60 Mitarbeiter angekündigt. Inwiefern trifft diese Prognose zu und welche nächsten Schritte stehen zur Umsetzung dieser Pläne noch an?

Diese Prognose haben wir jetzt schon übertroffen, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Wir sind mittlerweile 64 Mitarbeiter in München und haben bereits jetzt Projekte mit den größten Namen in der Transportbranche vorzuweisen, darunter VW, MAN, Terberg und DB Schenker. Zudem haben wir das erste Teleoperationscenter Europas in Betrieb genommen und diverse hochkarätige Manager von MAN, Argo AI und BMW eingestellt. Wir sind Vorreiter in der Ausbildung und Zertifizierung von Teleoperatoren und als einziges Startup an ATLAS-L4 beteiligt, einem gemeinsamen Projekt mit MAN, Knorr-Bremse, Fraunhofer AISEC, Bosch, TÜV Süd, der Autobahn GmbH und anderen. Wir stellen dort die technische Aufsicht für autonome Fahrzeuge sicher, damit autonome Trucks schon in wenigen Jahren auf deutschen Autobahnen fahren können. Wir erfüllen also die Anforderungen des neuen Gesetzes zum autonomen Fahren. Das ist ein wirklich großer Schritt, nicht nur für die deutsche Automobilbranche, sondern für die Transportbranche weltweit.

Zur Person:

Hendrik Kramer Fernride

Hendrik Kramer ist Mitgründer und CEO von Fernride, dem Anbieter für automatisierte Logistik. Fernride gründete er 2019 gemeinsam mit Maximilian Fisser und Jean-Michael Georg in München. Er hat einen Bachelor in Wirtschaftsingenieurwesen der Universität Bremen. Zudem führten ihn Stipendien an die DTU in Kopenhagen und die Stanford University in Kalifornien. In München war Kramer Stipendiat des Manage&More-Programms der UnternehmerTUM.

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