Mit Blick auf die Automobilentwicklung ist sich Christoph Bräuchle, General Manager beim US-Softwareanbieter PTC, sicher: „Das Digitale wird physisch“. Klingt erstmal abstrakt, bringt die Entwicklung aber auf den Punkt: Produkt-Engineering verschmilzt mit Software-Engineering. Und damit wandeln sich die Werkzeuge für Ingenieure. „Wir beobachten eine Weiterentwicklung von Product Lifecycle Management (PLM) und Application Lifecycle Management (ALM) hin zu Digital Life Cycle Management (DLM), welche Produkte von ihrer Idee bis hin zur Außerbetriebnahme begleiten“, erklärt Markus Blonn, Fachbereichsleiter Network Software des Entwicklungsdienstleisters IAV. Durch die kontinuierliche Übermittlung von Daten des Produktes über seine Nutzung und Fehler an das DLM können Ingenieure es fortlaufend verbessern beziehungsweise wichtige Erkenntnisse für Neuentwicklungen gewinnen.
Warum ALM die Entwicklungsaufgabe vereinfacht
Fakt ist: Produkt und Prozesse werden immer komplexer. Angesichts softwaregetriebener Innovationen, Digitalisierung und Elektrifizierung ist die Entwicklung von Autos innerhalb der letzten Dekade drastisch aufwändiger geworden, betont Bräuchle: „Fahrzeuge sind heute variabler, individueller, konnektiver, intuitiver und nachhaltiger, was für Ingenieure eine neue Dimension darstellt.“ Eine, deren Komplexität sich wiederum durch moderne ALM-Tools sehr gut bewältigen lässt. Sie reduzieren die Komplexität der Entwicklungsaufgabe.
Denn dadurch entsteht ein standardisiertes System für die Zusammenarbeit zwischen Software-Entwicklungsteams sowie allen anderen Abteilungen, wie etwa Test und Betrieb. Damit lassen sich zudem Teile der Softwareentwicklung und -Bereitstellung automatisieren. Was wiederum die Zeit von der Produktkonzeption und –entwicklung über die Herstellung bis zur Markteinführung verkürzt und die Kosten senkt. „Der Markt erwartet heute schnelle Innovationszyklen statt mitunter jahrelanger Entwicklung wie bisher“, sagt Bräuchle. „Neue Features und Funktionen erreichen Fahrzeuge Over-the-Air im Monatstakt.“ Sprich: Ausentwickelt ist ein Auto nie.
Die Teamarbeit muss sich wandeln
Was auch neue – und hohe – Anforderungen an die Zusammenarbeit interdisziplinärer Entwicklerteams stellt. „Der Trend geht klar weg von Silos, hin zu crossfunktionalen Teams, bei denen die End-to-End Implementierung kundenerlebbarer Features im Vordergrund steht“, sagt Robert Dietze, Abteilungsleiter Softwareprozesse und -methoden bei der IAV. Worauf es ankommt, ist digitales kollaboratives Arbeiten. „Virtuelle Treffpunkte und Kollaborationsplattformen wie HyHyve, Mural, Miro und Co. für Brainstorming sowie Workshops und Networking in agiler Softwareentwicklung gewinnen enorm an Bedeutung“, berichtet Jonas Rummel, Agile Coach bei der IAV.
Diese neue und durch softwaredefinierte Fahrzeuge notwendigerweise agiler werdende Kollaborationsinfrastruktur aufzubauen, darin sieht Gabriel Seiberth, Managing Director und Automotive-Experte bei Accenture, eine große Herausforderung für OEMs: „Dazu müssen Silos aufgebrochen und vor allem bisherige Entwicklerwerkzeuge harmonisiert werden“, sagt er, „Es wird eine durchgängige Tool-Chain benötigt.“ Zumal OEMs selber zum Softwareentwickler werden möchten. „Das wiederum sorgt für neue Compliance-Anforderungen, die bislang Zulieferer erfüllen mussten“, betont Seiberth. Es braucht gewissermaßen All-in-One-Tools, um international arbeitende Entwicklerteams mit rasanten Innovationszyklen, hohen Sicherheitsstandards und Compliance-Anforderungen zu vereinen. Diese Tools, so der Experte, müssten einen kompletten Einblick in Risikobewertungen und Sicherheitsintegritätsstufen bieten, um in jedem Entwicklungsschritt kontinuierlich die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften zu garantieren und nachvollziehbar zu machen - von der Idee bis zum freigegebenen Fahrzeug.
Ohne Digital Twin geht es nicht
Wobei künftig die Zusammenarbeit zwischen OEM, Tier 1 und Entwicklungsdienstleistern intensiviert und vor allem klarer definiert werden muss: Etwa bei Fragen, wer welche Innovation treiben soll oder welche Rolle OEMs künftig haben. „Wird das Fahrzeug nur noch rollende IT-Plattform für IT-Giganten oder gelingt es OEMs eigene IT-Plattformen aufzubauen“, fragt Markus Blonn. Und: „Was liefern Tier-1: Offene Betriebssysteme und Middleware?“ Unabhängig davon, in welche Richtung das Pendel schlagen wird, braucht es Tools, die von Anbeginn an alle Entwicklungsschritte und Stationen im Leben eines Fahrzeuges nachvollziehbar machen. Es schlägt die Stunde des Digital Twin. Bei Entwicklung, Produktion, Testing, Service und Wartung wird der digitale Zwilling eines Fahrzeuges eine zentrale Rolle spielen. Die virtuelle Simulation über den gesamten Lebenszyklus hinweg wird Konstruktion, Herstellungsprozesse und Zuverlässigkeit verbessern, ist IAV-Mann Dietze überzeugt.
Seiberth sieht in Digital Twins nicht nur das Kernelement künftiger Entwicklungsarbeit, sondern auch „eine Herkulesaufgabe für OEMs“. Denn Sinn mache die digitale Komplettkopie eines Fahrzeuges nur, wenn diese den gesamten Lebenszyklus in all seinen Facetten abbilde. Überdies ermögliche der Digital Twin übergreifendes Arbeiten - künftig auch im Metaverse: „Digitale Zwillinge sind letztlich eine Instanz des Metaverse, da sie als virtuelle Kopie an das physische Auto gebunden sind und Ingenieure anhand von Simulationen daran arbeiten können“, erklärt Seiberth.
Wandert das Engineering ins Metaverse?
Wobei das Entwickeln im virtuellen Raum künftig der Normalzustand sein könnte. Schon heute arbeiten Teams – nicht zuletzt durch die Pandemie befeuert – via VR-Headsets zusammen, um etwa wie bei Ford, nicht am Rechner oder am Tonmodell neue Designs zu entwickeln, sondern in der virtuellen Welt. Wenn es sein muss, auch vom heimischen Wohnzimmer aus. Oberflächen und Formen werden dabei derart detailliert dargestellt, dass die Designer in der Lage sind, wichtige gestalterische Entscheidungen zu treffen, ohne dass es eines physischen Modells bedarf.
Das Metaverse wird künftig wohl auch den Entwicklerhorizont um neue Möglichkeiten erweitern. Das Engineering wird sich dabei in den virtuellen Raum verlagern, indem Teams in digitalen Spaces als Avatare zusammenarbeiten. Chiphersteller Nvidia und BMW schicken bereits ganze Fabriken mit Maschinen und Menschen in die digitale Parallelwelt, um hier Prozesse in der Autoproduktion durchzuspielen, sodass später der Hochlauf einer echten Produktionsstraße möglichst fehlerfrei erfolgt. Es geht nicht mehr um bloße Simulationen am Rechner, sondern um das Eintauchen der Fertigungstechniker in einen digitalen Raum, der bei Nvidia Omniverse genannt wird. Ähnliches wird auch bei Audi und anderen OEMs erprobt.
Keine Frage: Das Engineering wird deutlich digitaler. Das bietet auch die Möglichkeit, eher einfache Aufgaben gleich an Rechner zu delegieren. „Künftig werden Automobilhersteller und Zulieferer einen stärkeren Fokus auf die Automatisierung von Standardtätigkeiten legen“, erklärt Blonn. Etwa bei Tests und Qualitätssicherung, Codegenerierung oder dem Generative Design. „Alles unterstützt durch Machine Learning beziehungsweise KI.“ Mit Blick auf die Zukunft ist für Robert Dietze klar: „Die Fahrzeugentwicklung wird verstärkt KI-basierte virtuelle Techniken nutzen. Denn sie helfen, die Anforderungen der Kunden besser zu verstehen und schneller zu erfüllen.“ Zukünftig würden Ingenieure Ziele und Rahmenbedingungen von Entwicklungsaufgaben festlegen und auf dieser Basis eine 'Mission' definieren, die dann eigenständig durch eine kognitive, künstliche Intelligenz gelöst werden kann.