Tokenisierung der Mobilität
Wenn der Wagen selber zahlt
Tokenisierung bringt neue Geschäftsmodelle in die Automobilindustrie. Deutsche OEMs testen Blockchain für Zahlungssysteme, Lieferketten und digitale Fahrzeugidentitäten.
Mercedes ermöglicht seit 2023 mit Pay+ das Bezahlen von Parktickets oder Tankvorgängen direkt im Auto per Fingerabdruck. DAhinter steckt das Prinzip Delegated Authentication und die Cloud-Token-Framework-Technologie von Finanzdienstleister Visa.
© Mercedes-Benz Mobility AG
An einem dieser kalten, klaren Herbsttage rollt eine
elektrische Luxuslimousine auf eine Ladesäule zu. Der Fahrer bleibt gelassen im
Sitz; kein Griff zur Brieftasche, kein hektisches Tippen auf dem Display. Ein
Fingerabdruck reicht und das Auto übernimmt.
Während der Strom in die Batterie fließt, beginnen im
Hintergrund digitale Räder zu rotieren: Kryptografische Signaturen werden
ausgestellt, eindeutige, fälschungssichere digitale Einheiten – sogenannte
Token – verschickt, Identitäten überprüft. Was nach Zukunftsprosa klingt, ist
längst Gegenwart. Die Mobilität beginnt, sich neu zu erfinden und sie tut es
leise, aber radikal.
Was bedeutet Tokenisierung für OEMs?
Die Autoindustrie steht an einem technologischen
Wendepunkt, der so unscheinbar wirkt wie dieser Ladevorgang und doch das
Potenzial hat, die Branche ebenso tiefgreifend zu verändern wie einst die
Elektrifizierung. Denn Fahrzeuge werden zu digitalen Akteuren. Sie handeln,
zahlen, prüfen, verwalten – autonom und abgesichert durch Blockchains. Die 2020
noch ambitionierte Vision eines dezentralen Mobilitätssystems, geboren in
Forschungslaboren und auf Innovationsbühnen, ist erwachsen geworden. Allerdings
anders, als ihre frühen Vordenker es sich ausgemalt hatten.
Damals träumten Initiativen wie das Fraunhofer-Projekt
Omos von einem offenen, herstellerübergreifenden Ökosystem, in dem alle
Verkehrsträger – vom Scooter bis zum Lastwagen – über eine gemeinsame
Blockchain-Infrastruktur miteinander interagieren. Eine Mobilität ohne
Gatekeeper, ohne zentrale Abrechnungsstellen, ohne institutionelle
Abhängigkeiten. Geblieben sind die Grundprinzipien: dezentrale Identitäten,
sichere Abrechnung, interoperable Datenräume. Doch umgesetzt werden sie heute
dort, wo sie ein konkretes Problem lösen: im Fahrzeug, in der Lieferkette, in
der Serviceabwicklung. Die große Vision ist im Kleinteiligen aufgegangen. Und
genau das macht sie greifbar.
Wie verändert In-Car-Payment das
Servicegeschäft?
Besonders sichtbar wird dieser Wandel im Zahlungsverkehr.
Deutsche Hersteller haben ihre Fahrzeuge längst zu Zahlungseinheiten
aufgerüstet. Mercedes etwa ermöglicht seit 2023 mit Pay+ das Bezahlen von
Parktickets oder Tankvorgängen direkt im Auto. Die Kartendaten? Tokenisiert.
Die Autorisierung? Per Fingerabdruck. Noch einen Schritt weiter geht Daimler
Truck: Mit Truck-ID und Truck-Wallet werden Lkw zu selbstständigen
Wirtschaftssubjekten, die Maut, Laden oder Frachtdokumente eigenständig
abwickeln können. Vodafone wiederum verleiht Fahrzeugen über die SIM-Karte eine
digitale Identität, mit der sie Micropayments tätigen. Das Auto als Akteur – in
dieser Rolle scheint sich die einst abstrakte Blockchain-Technologie zum ersten
Mal wirklich zu Hause zu fühlen.
Doch das Ökosystem wächst über den Zahlungsverkehr
hinaus. Längst werden nicht nur Dienstleistungen, sondern auch physische Güter
tokenisiert. BMW dokumentiert in seiner PartChain die Herkunft von Teilen und
Rohstoffen fälschungssicher bis zum Ursprung. Ein Token wird zum digitalen
Zwilling eines Kobaltbrockens und sorgt dafür, dass dieser nicht unterwegs
seine Identität verliert. Start-ups wie Eloop wiederum experimentieren mit
einer teilweisen Tokenisierung ganzer Fahrzeugflotten. Der Wagen wird zum
Investitionsgut, das sich digital in Anteile aufsplitten lässt.
Welche Rolle spielt Blockchain in der
europäischen Lieferkette?
Besonders weit entwickelt zeigt sich die Tokenisierung
jedoch in den Lieferketten. Die Automobilindustrie, eine ihrer komplexesten
überhaupt, kämpft seit Jahren mit dem Bedarf nach Transparenz,
Nachhaltigkeitsnachweisen und revisionssicheren Prozessen. Token ersetzen dabei
zunehmend die Papierakte. Smart Contracts beschleunigen Bestellprozesse, CO2-Werte
lassen sich lückenlos nachverfolgen, Herkunftsnachweise werden unveränderlich
dokumentiert. Ein Ökosystem entsteht, das weniger Verwaltung, weniger
Streitfälle und mehr Kontrolle ermöglicht.
Eine weitere Säule dieser neuen Mobilitätslogik liegt in
digitalen Fahrzeugidentitäten. Projekte wie das Car-Wallet des österreichischen
Unternehmens Riddle & Code oder die Truck-ID von Daimler zeigen, wie
Fahrzeuge eindeutig und sicher auf der Blockchain repräsentiert werden können.
Damit werden sie anschlussfähig für Serviceketten, für Sharing-Modelle, für
autonome Services. Die Vision einer selbstständig handelnden Mobilität erhält
hier ihre technologische Grundlage.
Warum aber existiert die viel zitierte offene
Mobilitäts-Blockchain aus dem Jahr 2020 bis heute nicht? Die Antwort ist
ernüchternd und lehrreich zugleich. Es mangelte weniger an der Technologie als
an der Bereitschaft, die dafür nötigen Daten tatsächlich zu teilen. Hersteller
fürchteten den Verlust wertvoller Informationen und Einflussmöglichkeiten.
Standardisierungen scheiterten im Kleingedruckten wirtschaftlicher Interessen.
Und so wich die große Utopie der praktischen Realität: Viele ihrer Bestandteile
wurden übernommen, aber in Form einzelner, klar definierter Anwendungen.
So hat sich die Tokenisierung still, aber bestimmt vom
holistischen Traum zum pragmatischen Werkzeug entwickelt. Sie greift dort ein,
wo sie Effizienz schafft – und nicht dort, wo sie ganze Systeme umstülpen
müsste. Die Revolution kommt somit nicht als Donnerschlag, sondern als Summe
vieler kleiner Veränderungen. Und vielleicht ist genau das die Art Wandel, die
eine traditionsreiche Industrie besser verträgt: nicht disruptiv, sondern
Schritt für Schritt, bis eines Tages der Fingerabdruck reicht – und das Auto
den Rest übernimmt.
FAQ zu Tokenisierung & Blockchain
Was ist Tokenisierung in der
Automobilindustrie?
Tokenisierung bildet Fahrzeuge, Komponenten oder Daten als digitale,
fälschungssichere Assets ab. Dadurch lassen sich Zahlungen, Services und
Lieferketten automatisieren.
Welche Use Cases sind in Deutschland bereits
produktiv?
In-Car-Payments, Truck-Wallets, Lieferketten-Tracking, CO₂-Nachweise und
digitale Fahrzeugidentitäten.
Welche Vorteile bringt Tokenisierung OEMs und
Zulieferern?
Weniger Administration, höhere Datenintegrität, neue Geschäftsmodelle und
automatisierte Prozesse.