Digitales Fahrzeugmodell

Die Entwicklung von Fahrzeugen findet ohnehin im digitalen Raum statt. Mit dem Cloud Computing erhält die Disziplin einen weiteren Boost. (Bild: Adobe Stock/ Gorodenkoff)

Die Produktlebenszyklen sind kurz, die Entwicklungsaufgabe komplex und die Teams verteilt: Nie war es herausfordernder, ein neues Fahrzeug zu entwickeln. Über Erfolg oder Misserfolg entscheidet auch, wie schnell Innovationen auf den Markt kommen. F&E-Abteilungen rotieren. Parallele Entwicklungsstränge – zeit- und ortsunabhängig – sollen für Geschwindigkeit und sinkende Kosten sorgen. Was dabei hilft: Leistungsstarke Tools in der Cloud, die als Software as a Service (SaaS) angeboten werden. Cloudbasiertes Engineering wird die Entwicklerarbeit deutlich verändern.

Aktuell entwickeln globale Teams meist noch voneinander getrennt und gleichen von Zeit zu Zeit ihre Ergebnisse ab. Das ist nicht nur langwierig, sondern auch fehleranfällig, betont Frank Möring, Vice President Solutions Consulting in Zentraleuropa (DACH) bei dem Softwareunternehmen PTC: „Wenn Daten manuell ausgetauscht werden, um sie zu teilen, sind Fehler vorprogrammiert.“ Allein durch die ungeheure Variantenvielfalt der Fahrzeuge und etliche Bearbeitungsstände sei das unvermeidlich.

Werden Fahrzeuge bald auf dem Smartphone entwickelt?

Wer über moderne Cloud-Plattformen statt lokaler Systemketten kollaboriert, der kann mit den Kollegen am jeweils aktuellen Stand eines Modells arbeiten. Entwicklungspartner sehen sofort, wenn etwas an Fahrzeug-Konfigurationen oder Bauteilständen geändert wurde. Die Software unterstützt bei der Analyse von Auswirkungen auf davon betroffene Komponenten. Zugang und Nutzung solcher Systeme werden immer einfacher und sicherer. „Dazu benötigt man aktuell häufig nur noch einen Browser und kann sogar per Smartphone Entwicklungsprozesse mitverfolgen und mitgestalten“, erklärt Möring. Denn: Die enorme Rechenleistung wird in die Cloud verlagert und ist im großen Maß skalierbar.

Was wiederum neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, etwa für die Bereiche Crash-Simulation, 3D-Engineering oder Generatives Design. „Konstrukteure und Entwickler müssen nicht jede denkbare Variante durchrechnen oder simulieren“, erklärt Möring, Sie müssten den Werkzeugen relevante Randbedingungen und Zielgrößen wie Werkstoff, Gewicht, Lastfälle, Fertigungsverfahren oder Kosten vorgeben – cloudbasierte Entwicklungswerkzeuge nutzten dann verfügbare Rechenleistung, um jeweils das optimale Design in Bezug auf definierte Zielgrößen zu finden. Es landen beispielsweise ein Dutzend praktikable Vorschläge auf den Rechnern der Ingenieure, wie Bauteile konstruiert sein sollten, um möglichst leicht, stabil und ressourcenschonend zu sein.

Cloudbasierte Plattformen senken die Entwicklungszeit

Insgesamt sieht Möring im cloudbasierten Engineering einen entscheidenden Schlüssel dazu, Fahrzeugentwicklungszeiten deutlich zu senken. Die hohe Verfügbarkeit dieser Systeme, gepaart mit einfacher, aber sicherer Nutzung zwischen Herstellern und ihren Zulieferern auf der einen und die Skalierbarkeit auf der anderen Seite, wird diese Einsparungen ermöglichen. Am Rande: Unternehmen, die fertige SaaS-Lösungen in der Cloud nutzen, werden nicht Monate und Jahre mit der Implementierung und Wartung dieser Systeme verschwenden. Stattdessen steht ihnen immer die aktuellste Version einer Software zur Verfügung, was auch die Innovationskraft befördern kann.

Die leidet mitunter, weil Entwickler einen guten Teil ihrer Energie auf den Kampf mit Inkonsistenzen und Inkompatibilitäten verwenden. „Bisherige Plattformen bestehen oft aus einer Aneinanderreihung von Einzelwerkzeugen“, sagt Michael Plankensteiner, Geschäftsführer des Softwarehauses Logi.cals. Auch er stößt immer wieder auf ein buntes Sammelsurium verschiedener Software-Werkzeuge, die meist lokal installiert und untereinander nicht oder kaum kompatibel sind. Besser ist eine Cloud-Lösung aus einem Guss, durch die verschiedene Werkzeuge flexibel integriert werden können – was die Effizienz steigere, denn zeitraubende Korrekturschleifen, Abstimmungsprobleme und Fehler werden vermieden. Nur durch cloudbasiertes Engineering können letztlich alle Entwicklungstools auf einer zentralen Plattform zusammengeführt werden. Das bringe Ordnung in das Engineering, heißt es bei Logi.cals.

Der digital Twin erhöht die Qualität im Engineering

Eine bessere Organisation sorgt nicht nur für mehr Geschwindigkeit beim Konstruieren, sondern auch für höhere Qualität, weil einzelne Entwicklungsschritte kontinuierlich überprüft und auf ihre ganzheitliche Wirkung bewertet werden, betont Nick Weinhold, Fachbereichsleiter Chassis Systems & Engineering Support vom Technologiedienstleister IAV: „Dadurch erlangen Fachleute frühzeitig die Möglichkeit zur Anpassung.“ Beispielsweise ermögliche die Nutzung eines digitalen Zwillings schon in der Vorausentwicklung und Planung neuer Fahrzeugkonzepte erste Aussagen zu Machbarkeit, Entwicklungsumfang und -aufwand mit Blick auf eine Serienentwicklung, so Weinhold.

Die Auswirkungen digitaler Zwillinge auf die Entwicklungsarbeit sind enorm: „Die Anzahl der Prototypen bei der Entwicklung neuer Autos wird erheblich reduziert. Und es wird möglich, die Leistung der Produktionseinheit und der Produkte selbst vorherzusagen“, sagt Bernd Mangler, Senior Vice President und Head of Automotive Vertical bei Siemens. Auf diese Weise ließen sich passgenau auf Kundenbedürfnisse abgestimmte Fahrzeuge produzieren. Automobilhersteller könnten beispielsweise die realen Daten ihrer Fahrzeugflotte nutzen, sie in den digitalen Zwilling einspeisen und ihre Ingenieure nach neuen Möglichkeiten zur Steigerung der Reichweite und Leistung der Fahrzeuge suchen lassen, erklärt Mangler. Effekte: Niedrigere Entwicklungskosten, bis zu 40 Prozent weniger physische Tests und ein verbessertes Fahrerlebnis für den Autobesitzer.

Über den gesamten Lebenszyklus eines Fahrzeuges kann cloudbasierte Datenverarbeitung den Weg für innovative Funktionen bereiten, sagt Weinhold, wenn situative Sensorinformationen um historische und/oder prädiktive Daten ergänzt würden: „Hinzu kommt der schnelle Rückfluss (Over-The-Air) von Informationen aus Entwicklungsflotten und Serienbetreuung in die Entwicklung.“

Cloudbasiertes Engineering braucht neue Datenräume

Für Michael Groeschel, Abteilungsleiter im Fachbereich Connectivity & Analytics bei IAV steht fest: „Cloudbasierte Dienste und Services werden künftig eine immer größere Rolle spielen.“ Dank fortschreitender Digitalisierung eröffneten sich neue Möglichkeiten, die Fahrzeugentwicklung weitgehend virtuell durchzuführen. „Insbesondere im Bereich der Fahrerassistenzsysteme sowie des hochautomatisierten Fahrens befindet sich der gesamte Softwareentwicklungsprozess aufgrund hoher Datenmengen bereits in cloudbasierten Entwicklungsumgebungen." Zudem müsse die Absicherung vernetzter Fahrzeugfunktionen aufgrund der steigenden Komplexität in den Schnittstellen zunehmend virtualisiert werden, um exponentiell steigende Aufwände für die abschließende Verifikation und Validierung im Fahrzeug zu vermeiden. Nötig hierfür ist auch, so Groeschel, dass Daten von allen involvierten Partnern künftig über cloudbasierte Plattformen und entsprechende Datenräume – etwa über Catena-X oder den Mobility Data Space – geteilt und genutzt werden.

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