Die Erkenntnis der Bedeutung der digitalen Transformation mag in der Autobranche vielleicht etwas spät angekommen sein, man kann allerdings nicht behaupten, dass sie Hersteller und Zulieferer heute nicht voll im Griff oder längst auf links gedreht hätte. „IT wird zum inhärenten Bestandteil von Produkten und Dienstleistungen“, sagt Nils Urbach von der Frankfurt University of Applied Sciences im Rahmen des Roundtable-Formats „Be my Guest“ von automotiveIT.
Zudem nimmt Software einen immer größeren Teil der Wertschöpfung in der Autobranche ein. Die Analysten von Capgemini schätzen, dass der Anteil der softwarebasierten Wertschöpfung eines Autoherstellers von heute acht Prozent auf rund 22 Prozent im Jahr 2031 steigen wird. Zudem wird der Einsatz moderner Technologien wie KI oder Big Data immer erfolgskritischer – und die Entwicklung ist längst nicht am Ende. „Die Digitalisierung wird nicht in fünf Jahren vorbei sein, man darf sich nicht ausruhen“, meint BMWs Ex-CIO Klaus Straub. Den IT-Chef und seine Abteilung rückt das in neues Licht. CIOs sind mehr denn je Innovatoren und Evangelisten, die das Unternehmen über das Digitalisierungsmeer navigieren.
Business-IT: Daten im Mittelpunkt
Doch die neue Rolle und neue Umstände sorgen für neuen Fokus: „Technologie wandert immer stärker in den Mittelpunkt und den Kern des Unternehmens“, sagt Straub. Es gilt, in den erfolgskritischen Technologien Expertise aufzubauen, um sich von der Konkurrenz abzusetzen. „Datennutzung, KI und Prozessautomatisierung sind für uns die wichtigsten Themen, um das Business zu enablen. Dort kann IT wettbewerbsdifferenzierend sein“, nennt Vitesco-CIO Thomas Buck einige Beispiele, die Liste ließe sich beliebig erweitern.
In diesen Themen gilt: Eigenleistung rauf, externe Partner runter. Doch wo sich der Fokus verschiebt, da rücken nicht geschäftskritische IT-Umfänge aus dem Mittelpunkt. „Die Ressourcen sind ja auch endlich: Im Grunde sind doch heute alle Menschen, die IT können, schon in der IT beschäftigt“, bringt es Stephan Fingerling, CEO von Volkswagen Group IT Solutions, auf den Punkt. Um sich also auf Technologiekompetenz stärker zu konzentrieren und vor allem an Geschwindigkeit zuzulegen, muss eine Strategie her, um mit Nichtkernthemen umzugehen.
IT-Infrastruktur rückt aus dem Fokus
Welche das sind, ist schnell identifiziert: Es sind vor allem die klassischen IT-Infrastrukturumfänge, die als wenig wettbewerbsdifferenzierend betrachtet werden können. Partnerschaften wie die zwischen Daimler und Infosys sind ein Beispiel, um mit dem Infrastrukturbetrieb umzugehen und den Fokus auf differenzierende Faktoren zu legen. Und es gibt noch einen Grund: „Letztlich muss auch die IT ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit und zur CO2-Neutralität leisten. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es ratsam, Rechenzentren zu konsolidieren und auszulagern“, sagt Jörg Sommer, CEO und Managing Director von Infosys Automotive and Mobility.
Hinzu kommt: Im Bereich der Standardisierung ist noch Luft nach oben, wie Stephan Fingerling weiß: „Das beste Beispiel sind umgebaute SAP-Systeme: Jedes Unternehmen hat eine eigene angepasste Finanzsoftware – und am Ende machen doch alle das Gleiche damit.“ Letztlich sehen die Topexperten des Roundtables noch ein Puzzleteil: die Automatisierung. „Ich würde behaupten, in fünf Jahren wird das Application Management dramatisch im Aufwand sinken. Denn ich glaube, die Automatisierung in der IT wird massiv zunehmen. Auch darüber kann man einen Fokus auf Kernthemen sicherstellen, ohne Themen direkt rauszugeben“, sagt Klaus Straub.
Lesen Sie, was Topexperten von Herstellern, Zulieferern, Tech-Playern und aus der Wissenschaft über wettbewerbsdifferenzierende IT, Kerneigenleistung und den Umgang mit Nichtkernthemen denken:
Klaus Straub, Exadit
„Bei der Frage ‚Make or buy?‘ muss ein Unternehmen immer schauen, in welchem Feld es überhaupt gut ist und ob es mit vertretbarem Aufwand dieses Niveau am Markt erreichen kann. Es wird zum Beispiel immer schwieriger sein, im Bereich Rechenzentrum die Kompetenz rund um technologische Entwicklungen weiter vorzuhalten"
Klaus Straub ist CEO und Gründer von Exadit. Er hat langjährige Führungserfahrungen als CIO in DAX-Unternehmen gesammelt, unter anderem bei Siemens, Audi und zuletzt BMW.
Martin Köhn, Bosch
„Es geht in erster Linie um Schnelligkeit, Agilität und Flexibilität. Mit Standardisierung und Automatisierung können wir Freiräume schaffen, um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunftstechnologien weiterzuentwickeln"
Martin Köhn ist seit 2021 Vice President Product Excellence & Service Framework / Customer Service bei Bosch. Zuvor war er vier Jahre lang für die IT-Infrastruktur Operations beim Technologiekonzern verantwortlich.
Stephan Fingerling, Volkswagen Group IT Solutions
„Der Legacy-Wildwuchs ist einer der unterschätztesten Punkte in der IT. Es braucht einen viel radikaleren Ansatz als heute. Das muss schnell auf ein Minimum reduziert werden, sonst wird uns die Komplexität erschlagen. Agilität nützt nichts, wenn ich die Zeit, die ich bei der Entwicklung spare, bei der Integration wieder verliere"
Stephan Fingerling ist seit Juni 2021 CEO von Volkswagen Group IT Solutions. Zuvor war Fingerling fast zehn Jahre als IT-Chef des Nutzfahrzeugherstellers MAN beschäftigt.
Thomas Buck, Vitesco
„Für mich ist es wichtig, dass wir eine Expertise in wichtigen Themen haben. Aber in den Peaks wäre es für uns nicht möglich, schnell genug zu skalieren. Dennoch glaube ich, in den wichtigsten Digitalisierungsfeldern sollte man Expertise weiter aufbauen"
Thomas Buck ist seit Beginn 2019 IT-Chef des Continental-Spin-Offs Vitesco Technologies. Vor der Abspaltung von Continentals Antriebssparte war Buck Automotive CIO beim Zulieferer.
Nils Urbach, Frankfurt University of Applied Sciences
„Wenn man rennt, ist es wichtig, dass man in die richtige Richtung rennt. Dafür braucht ein Unternehmen eine entsprechend starke Technologiekompetenz und Personal mit agilem Mindset"
Nils Urbach ist Inhaber der Professur für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Digital Business & Mobilität, und Direktor des Research Lab for Digital Innovation & Transformation (ditlab) an der Frankfurt University of Applied Sciences.
Jörg Sommer, Infosys
„Viele Automobilhersteller beschäftigen sich mit der Frage: Was sind eigentlich zukünftige wettbewerbsdifferenzierende Faktoren? Viele herkömmliche IT-Infrastrukturthemen sind für die Automobilhersteller keine differenzierenden Themen mehr. So wird heute kein Fahrzeug mehr oder weniger verkauft, nur weil ein selbst entwickeltes Rechenzentrum selbst betrieben wird"
Jörg Sommer ist seit Juni 2021 CEO und Managing Director der neu gegründeten Infosys-Tochter Infosys Automotive and Mobility. Zuvor war Sommer Director Digital Foundation bei Daimler.
Christoph Röger, Mercedes-Benz Group
„In einem großen Projekt zwischen einem Autohersteller und einem Technologiepartner, wie unserer Kooperation mit Infosys, muss man natürlich in eine optimale Zusammenarbeit der Mitarbeiter investieren. Geschwindigkeit hängt primär am Mindset. Es ist von zentraler Bedeutung die Menschen im Veränderungsprozess mitzunehmen"
Christoph Röger ist Director Global IT Infrastructure Transition & Transformation bei der Mercedes-Benz Group. Zuvor war Röger Director IT Cross-Functions & Services bei den Stuttgartern und über 15 Jahre bei Daimlers IT-Dienstleistungstochter Daimler TSS.