Wie will sich Elektro-OEM Nio fern der chinesischen Heimat mit seinen High-Tech-Fahrzeugen gegenüber der etablierten Konkurrenz durchsetzen? Welche Strategie verfolgt der junge Autobauer bei Fahrzeugsoftware, autonomes Fahren und Services rund um die Elektromobilität? Die Antworten auf diese und weitere Fragen liefert das vollständige Interview mit Hui Zhang in der aktuellen automotiveIT 03/04 2021.
Herr Zhang, viele Experten sehen in Nio die „chinesische Antwort auf Tesla“. Würden Sie das selbst als Kompliment oder eher als Bürde auffassen?
(Lacht) Das ist eine spannende Frage. Nein, im Ernst, zunächst einmal will ich betonen, dass wir einen sehr großen Respekt vor Tesla und den Errungenschaften von Elon Musk haben. Sein Unternehmen ist ohne jeden Zweifel der Pionier der Elektromobilität. Wir verfolgen allerdings einen etwas anderen Ansatz: Nio als Marke wird von seinen Nutzern und Kunden geprägt, kein anderes Automotive-Unternehmen bietet unserer Meinung nach eine derartige User Experience. Nio ist ein Kind des digitalen Zeitalters und das spiegelt sich in den Produkten und Geschäftsmodellen wider.
Das müssen Sie uns bitte etwas genauer erklären ...
Lassen Sie mich unser Geschäftsmodell mit dem Bild eines Hauses beschreiben: Das Dach beschreibt Nios Vision eines nutzerorientierten und -getriebenen Unternehmens. Darunter finden sich im Prinzip fünf Säulen, auf denen diese Vision fußt. Die erste Säule ist unser Kernprodukt, das Smart EV, das sich über Dinge wie eine hochperformante Rechnerarchitektur fürs autonome Fahren, Softwareupdates over the Air oder intelligente UX-Assistenten wie Nomi definiert. Die zweite Säule umfasst ein umfangreiches Paket an Ladelösungen, die wir unseren Kunden flexibel anbieten können. Dazu gehören beispielsweise unsere Supercharger, Battery-as-a-Service-Modelle und natürlich unsere Batteriewechselsysteme, mit denen wir am Markt über ein Alleinstellungsmerkmal verfügen. Drittens wollen wir im Bereich Aftersales die gute Reputation Nios weiter ausbauen. Denn: Jeder zweite Verkauf eines Neuwagens von Nio in China basiert auf persönlicher Empfehlung. Daher haben wir beispielsweise ein mobiles Servicekonzept aufgesetzt, bei dem der Kunde unter anderem unterwegs einen Reparaturdienst in Anspruch nehmen kann. Die vierte Säule umfasst direktere Vertriebskonzepte, eigenständige Points of Sale wie Nio House oder Nio Space, die mehr bieten als das klassische Autohaus. Last, but not least ist schließlich die fünfte Säule unsere Community, die uns aktiv dabei helfen soll, die Marke weiterzuentwickeln. Das Fundament dieses Hauses wiederum ist unsere technologische Basis, die Nio-App und die dahinter liegende Cloudinfrastruktur.
Mit der Vorstellung des neuen ET7 haben Sie Anfang des Jahres für Furore gesorgt. Technologisch spielt die Elektrolimousine in der gleichen Liga wie Tesla oder Porsche mit dem Taycan. Werden Sie die hohen Erwartungen erfüllen können, wenn der ET7 2022 auf den Markt kommt?
Der ET7 unterstreicht ganz klar den Premiumanspruch von Nio. In der Presse wird die Limousine aktuell als ernstzunehmender Konkurrent beispielsweise des Mercedes EQS gehandelt. Das Modell setzt Maßstäbe in Sachen Design, autonomes Fahren und bei der elektrischen Reichweite. Dazu trägt unter anderem der Supercomputer Nio Adam bei, der auf Nvidias Drive-Orin-Plattform für automatisierte Fahrfunktionen basiert. Beim Thema Reichweite wird uns die Feststoffbatterientechnologie weiterhelfen, die wir Ende 2022 auf dem chinesischen Markt erstmals zum Einsatz bringen wollen.
Wann werden die Kunden in Europa in den Genuss von Reichweiten von über 1.000 Kilometern kommen?
Aktuell gehen wir davon aus, dass die Kommerzialisierung von Feststoffbatterien außerhalb Chinas später beginnt, etwa im Jahr 2025. Von daher müssen sich Kunden in Europa noch etwas gedulden.
Auch die Performancewerte der Softwarearchitektur im ET7 können sich sehen lassen. Welche Strategie verfolgen Sie beim Thema automatisiertes Fahren?
Unsere Roadmap beim autonomen Fahren verdeutlicht sich eigentlich schon über unser Modellportfolio. Alle drei aktuellen Serienmodelle ES8, ES6 und EC6 laufen noch auf der Technologieplattform NP 1.0, die autonomes Fahren auf Level 2+ ermöglicht. Der ET7 wird das erste Modell sein, das auf der zweiten Plattformgeneration basiert und automatisierte Fahrfunktionen auf Level 4 anbieten kann. Damit überspringen wir Level 3, um bei dem Thema technologisch zu den Vorreitern zu gehören.
Ähnlich wie der US-amerikanische Hersteller Tesla setzen Sie bei der Aktualisierung der Software und Freischaltung zusätzlicher Funktionen auf Over-the-Air-Updates. Glauben Sie, dass Sie mit diesem Weg einen wichtigen Vorteil gegenüber den „alten“ Automobilherstellern haben, die teilweise erst jetzt mit diesem Thema starten?
Es ist schlichtweg eine Notwendigkeit, wenn wir unser Produktversprechen eines Smart EV gegenüber unseren Usern einlösen wollen. Um technologische Features wie hochautomatisierte Fahrfunktionen oder das Digital Cockpit auf dem neuesten Stand zu halten, setzen wir auf Softwareupdates over the Air und auf Firmwareupdates over the Air. Neben dem elektrifizierten Antriebsstrang war das ein Kernbereich unserer Investitionen vom Start weg. Als Newcomer in der Branche hatten wir gegenüber etablierten OEMs natürlich den Vorteil, keinen Legacy-Rucksack mit uns herumschleppen zu müssen, also keine historisch gewachsenen Strukturen und Architekturen. Nio konnte sprichwörtlich ein eigenes Betriebssystem auf dem weißen Blatt Papier entwickeln.
Schauen wir nach Europa: Sie haben angekündigt, noch in diesem Jahr auf dem europäischen Markt mit eigenen Modellen durchstarten zu wollen. Bleibt es bei diesem Plan?
Als Premiummarke führt kein Weg daran vorbei, auf dem europäischen Markt präsent zu sein. 85 Prozent der Premiummarken werden in China, Europa und den USA verkauft. Ich kann Ihnen an dieser Stelle versichern, dass Nio noch in diesem Jahr nach Norwegen kommen wird. Abgesehen von unseren Modellen ist Nio übrigens schon länger auch in Deutschland präsent: Im Jahr 2015 haben wir in München das Global Design Headquarter eröffnet und waren damit der erste chinesische OEM mit einem Designzentrum in Deutschland. Die Designs der Modelle ES8, ES6, EC6 und ET7 sind durch die Arbeit der Münchener Kollegen inspiriert.
Wo sehen Sie aktuell Unterschiede zwischen den Märkten, was zum Beispiel die Kundenansprüche betrifft? Ein Fahrzeug zu entwickeln, das in Design und Bedienung den asiatischen und europäischen Geschmack gleichermaßen bedient, ist sicher nicht trivial …
Ich hatte es ja bereits angesprochen, dass wir schon früh hier in Deutschland UX-Kompetenz aufgebaut haben. Parallel dazu haben wir natürlich auch an unserem Hauptquartier in Schanghai ein Designteam etabliert, das mit dem internationalen Team in München eng zusammenarbeitet. Daraus ist für die erste Nio-Modellgeneration schon eine Designsprache entstanden, die internationalen Ansprüchen gerecht wird. In Bezug auf die User Interaction und die User Experience ist es meiner Meinung nach fast egal, auf welchen Märkten wir uns bewegen. Warum? Die Antwort darauf kann uns ein Blick in die Consumer-Electronics-Branche liefern: Weltweit ist das Design von Smartphones sehr ähnlich, da gibt es kaum oder gar keine marktspezifischen Unterschiede. Das Gleiche gilt auch für die Digital Experience im Fahrzeug, die auf der ganzen Welt nach ähnlichen Maßstäben funktioniert. Differenzieren können wir uns in erster Linie beim Content, den der Fahrer über das HMI abrufen kann.
Zur Person
Nach dem Studium an Hochschulen in Peking, Pforzheim und Utah startete Hui Zhang seine Karriere im Jahr 2002 bei der Voith AG im Einkauf und Supply Chain Management in China und Deutschland. Nach Stationen bei der Kiekert AG und Lotus zeichnete er ab 2014 als Vorstandsmitglied bei Leoni Cable China für den Bereich Business Group Industry und Healthcare China verantwortlich. Aktuell leitet Zhang als Vice President Nio Europe mit Niederlassungen in München und Oxford, wo neben dem Design die Schwerpunkte Supply Chain Management und Advanced Engineering liegen.