Viele Wege führen zur Vision

Um die Sicherheit autonomer Fahrzeuge zu erhöhen, setzen Entwickler bisher vor allem auf Praxistests in der realen Welt. (Bild: Bosch)

Es gibt wohl kaum jemanden, der in ein vollautonomes Fahrzeug einsteigen wird, das nicht absolut sicher ist. Dabei geht es nicht nur um den Schutz vor Angriffen von Cyber-Kriminellen oder die Ausfallsicherheit der elektronischen Systeme an Bord. In erster Linie wünscht sich der Insasse eines smarten, selbstlenkenden Vehikels, das es ihn sicher und komfortabel durch den Straßenverkehr lenkt. Das erklärte Ziel der Industrie: Die sogenannte Vision Zero zu realisieren, also eine Zukunft, in der es keine von Fahrzeugen verursachten Unfälle mehr gibt.

Doch was gerade diese Verheißung anbelangt, scheint unter anderem bei den deutschen Autofahrern noch gehörige Skepsis zu herrschen: Einer Studie des Beratungsgunternehmens Deloitte haben 72 Prozent der Deutschen große Bedenken, was das Thema Sicherheit betrifft. Gleichzeitig räumen die Befragten den etablierten Fahrzeugherstellern einen deutlichen Vertrauensvorschuss ein, wenn es darum geht, ein sicheres vollautonomes Fahrzeug auf den Markt zu bringen.

Um dieses Vertrauen nicht zu verspielen, setzten Hersteller, Zulieferer und auch neue Player aus dem Automotive-Sektor momentan alles daran, ihre selbstfahrenden Probanden so viele Testkilometer wie möglich fahren zu lassen. Die während der Fahrten gesammelten Unmengen an Daten sollen die Software-Algorithmen des Fahrzeugs auf bestimmte Verkehrssituationen hin „trainieren“. Für die Entwicklungsabteilungen der Hersteller ein sehr aufwändiges Unterfangen: Waymo beispielsweise hat schon mehr als 16 Millionen Kilometer auf öffentlichen Straßen mit seinen Testwagen zurückgelegt.

Praxistests in der realen Welt stoßen an Grenzen

Um ein solchen logistischen und zeitlichen Aufwand in Zukunft zu reduzieren, tüfteln die Entwickler an Alternativen zu Tests in der physischen Welt. Dabei spielen virtuelle Simulation und künstliche Intelligenz eine entscheidende Rolle: Nvidia beispielsweise koppelt eine Simulation mit einem selbstlernenden System für autonomes Fahren, sodass Tests komplett im virtuellen Raum durchgeführt werden können. „SimCity für autonome Fahrzeuge“, nannte Nvidia-Experte Serkan Arslan dieses Konzept scherzhaft im vergangenen Jahr auf einer VDI-Veranstaltung.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das deutsche Startup Automotive Artificial Intelligence, das kürzlich eine Kooperation mit Continental eingegangen ist. AAI soll beim Zulieferer Fachkenntnisse zur virtuellen Umgebung auf Grundlage von HD-Karten und KI-betriebenen Verkehrsteilnehmern einbringen. AAIs Software kann Wetterlage, Infrastruktur, Straßenmarkierungen oder Straßenschileder simulieren und verwendet künstliche Intelligenz, um virtuelle Verkehrsteilnehmer in die Simulation zu integrieren. „Unser Ziel ist stets absolute Sicherheit. Das gilt ganz besonders für das automatisierte Fahren“, sagt Karl Haupt, Leiter des Geschäftsbereichs Fahrerassistenzsysteme von Continental. Während ein reales Fahrzeug im physischen Test rund 10.000 Kilometer pro Monat zurücklegen könne, seien derzeit in virtuellen Simulationen bereits 8.000 Kilometer in einer Stunde möglich, so Haupt.

„Das Vorgehen der Virtualisierung bietet die Möglichkeit bewusst Grenzsituation darüber zu erzeugen und durch mathematische Modelle belastbare Aussagen zu erhalten“, erklärt Prof. Eric Sax, Direktor des Karlsruher Forschungszentrums Informatik (FZI). „Bei dem Variantenreichtum von Verkehrssituation und Umgebungsbedingungen ist dieses Vorgehen sogar der einzig denkbare Weg, denn die Aussagekraft von gefahrenen, statistischen Kilometern über den Reifegrad einer Funktion ist sehr beschränkt.“ Dennoch, so ist sich Experte Sax sicher, werde man um eine reale Erprobung in abgesicherten Testgeländen, wo die reale Physik wirkt, nie ganz umhinkommen.

Autonome Fahrzeuge mit menschlicher Intuition

Ein anderer Ansatz für mehr Sicherheit beim autonomen Fahren entfernt sich eher von der Notwendigkeit realer oder virtueller Testszenarien. Das von dem israelischen Tech-Unternehmen Mobileye entwickelte „Resonsibility-Sensitive Safety (RSS)“-Modell ist konzipiert, um menschliche Urteile mit Blick auf alle möglichen Fahrsituationen zu formalisieren und zu kontextualisieren und diese wiederum in ein nachprüfbares Modell mit logisch nachvollziehbaren Regeln und definierten Antworten zu übersetzen. Ein solches Set an Richtlinien, das beispielsweise den korrekten Sicherheitsabstand oder die richtige Geschwindigkeit definiert, soll dann in Form eines Algorithmus dem Auto die Möglichkeit geben, im Verkehr selbstständig menschliche Entscheidungen treffen zu können.

Miriam Ruf, Forschungsgruppenleiterin am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB, hält das RSS-Modell für einen guten Anstoß zur Diskussion über Fahrentscheidungen selbstlenkender Autos. Die Fraunhofer-Forscherin weist dabei auf einen entscheidenden Vorteil hin: „Bemerkenswert ist, dass das RSS-Modell dabei mit der zunächst intuitiv erscheinenden Forderung bricht, das selbstfahrende Fahrzeug müsse seine Geschwindigkeit in jeder Situation entsprechend wählen, sodass es jeden Unfall verhindern könne“, bemerkt Ruf.

Autonome Fahrzeuge würden nach dieser Regel in einer Situation, in der beispielsweise ein Kind hinter einem parkenden Auto hervorspringen könnte, zur Unfallvermeidung eine Geschwindigkeit im Schritttempo wählen – und das auch auf Straßen mit höher angesetzten Geschwindigkeiten. „Menschen handeln in dieser Situation jedoch eher nach Erfahrungswerten basierend auf der Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Situation und der Abwägungen unterschiedlicher Ziele“, erläutert die Spezialistin. Bei geeigneter Straßengeometrie führe ein menschlicher Fahrer in dieser Situation mittig und mit nur leicht verringerter Geschwindigkeit, auch wenn auf diese Weise ein Unfall nicht zu einhundert Prozent verhindert werden könnte. „Für die Frage, ob ein solches Verhalten jedoch auch für ein selbstfahrendes Fahrzeug akzeptabel ist, muss aufgrund der ethischen Implikationen ein gesellschaftlicher Konsens gefunden werden“, betont Miriam Ruf.

Die Idee hinter dem RSS-Modell scheint in der Branche anzukommen. Chinas Internetriese Baidu setzt das Sicherheitskonzept bereits im Rahmen seines Apollo-Projekts ein, das sich um Technologien zum autonomen Fahren kümmert. Valeo will aus RSS sogar einen industrieweiten Sicherheitsstandard machen und kooperiert zu diesem Zweck seit kurzem mit Mobileye.

Um industrie-übergreifende Sicherheitsstandards fürs autonome Fahren umzusetzen, bedarf es jedoch auch an den Erkenntnissen der Testfahrten der Hersteller, Zulieferer und neuen Mobilitäs-Player – sowohl virtuell als auch in der realen Welt. Erst dann kommen wir der Vision eines Verkehrs ohne Unfälle ein Stück näher.

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